Stuttgart 21: Hat die Polizei eine Straftat ermöglicht und dabei rechtswidrig Bürgerrechte missachtet?

Kennen Sie das Jugendbuch „Gepäckschein 666″ von Alfred Weidemann? Es ist ein Klassiker der Jugendliteratur und mir vor Kurzem wieder in die Hände gefallen, als ich für meinen sechsjährigen Sohn die alten Bücher durchsucht habe, die ich aufgehoben habe. In dem Buch klärt eine Gruppe von Jugendlichen, die sich mit Schuheputzen Geld im Nachkriegshamburg verdient, einen Bankraub auf. Der Bankraub selbst war dabei äußerst spektakulär, fand er nämlich am helllichten Tage mitten in der City statt: Die Bankräuber hatten sich als Filmteam getarnt, die „richtige“ Polizei hatte bei den „falschen“ Dreharbeiten geholfen, die Straßen abgesperrt und die Abfahrt der vermeintlich seriösen Filmer gesichert – und so erst die Straftat ermöglicht.

Die Szene aus dem Buch fiel mir automatisch ein, als ich eine aktuelle Presseerklärung zu „Stuttgart 21″ las – und mich wieder  an dieses umstrittene Bahnprojekt erinnerte. Ich hatte schon vor etwa einem Jahr einige Blogeinträge hierzu eingestellt, und auch diese beschäftigten sich mit der Frage, ob die dortige Baumfällaktion rechtswidrig war – eine Baumfällaktion, die massiv durch die Polizei geschützt wurde; so massiv, dass die Bürgerproteste am Ende niedergemacht und eine Reihe von Demonstranten teilweise schwerstverletzt waren. Bis heute rechtfertigt die Polizeiführung diesen Einsatz damit, dass man rechtmäßige Aktionen der Deutschen Bahn vor Ort gegen rechtswidrige Störungen habe sichern müssen.

Und nun dieser Artikel nicht nur in der „Stuttgarter Zeitung“:

„Die Baumfällarbeiten der Deutschen Bahn für das umstrittene Bahnprojekt „Stuttgart 21“ haben juristische Folgen. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft habe einen Strafbefehl gegen drei Männer im Alter von 31 bis 51 Jahren beantragt, sagte eine Sprecherin der Behörde der Nachrichtenagentur dapd am Freitag. Den Männern werde vorgeworfen, gegen das Bundesnaturschutzgesetz verstoßen zu haben.

Bei den Beschuldigten handelt es sich den Angaben zufolge um einen Projektabschnittsleiter, einen Projektingenieur und einen Beauftragten für Umweltschutz der Firma, die die Baumfällungen plante. Die Männer sollen im Oktober 2010 die Fällung einer großen Platane im Schlossgarten veranlasst haben, obwohl sie wussten, dass in dem Baum möglicherweise die geschützten Juchtenkäfer lebten. Nachträglich seien in dem Baum tatsächlich Juchtenkäferlarven gefunden worden.

Es habe zu dem Käfervorkommen ein entsprechendes Gutachten gegeben, sagte die Sprecherin weiter. Dieses hätten die Beschuldigten jedoch zunächst zurückgehalten, um eine Verzögerung der Baumfällarbeiten zu vermeiden. Sie hätten das Gutachten erst wenige Stunden vor den geplanten Fällungen an das Eisenbahnbundesamt (EBA) als zuständige Behörde weitergeleitet.“ (Stuttgart 21: Baumfällarbeiten haben Nachspiel – Stuttgart 21 – Stuttgarter Zeitung).

Nun beantragen Staatsanwaltschaften Strafbefehle ja in der Regel bei eindeutigen Sachverhalten – und so kann man wohl davon ausgehen, dass das zuständige Strafgericht diese Strafbefehle auch erlassen wird. Und dies wiederum würde inzident bestätigen: Das Baumfällen war – zumindest teilweise nicht nur rechtswidrig, sondern erfüllte auch objektiv einen Straftatbestand.

Deswegen kann man schon einmal zur Dimension dieser Entscheidungen spekulieren, denn offensichtlich ist es doch, dass diese drei Männer, denen man jetzt die Verantwortung zuschiebt, die Bauernopfer in einem viel größeren Spiel sind.

Gesichert ist inzwischen, dass mindestens in einem der gefällten Bäume Larven des unter Naturschutz stehenden Juchtenkäfers zu finden waren. Nun ist natürlich jedem Beteiligten klar, dass es in diesem Streit nicht um den Bestand dieser Käferart geht, sondern darum, dass ein Grosskonzern wie die Deutsche Bahn im Zusammenspiel mit der Politik und offensichtlich gegen die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung ein Mammutprojekt mitten in einer der deutschen Großstädte mit der höchsten Lebensqualität durchpeitschen will – und damit nicht gerade kleine Teile des innerstädtischen Bereichs, der jetzt von Bahnanlagen und Grünflächen belegt wird, dem spekulativen Immobilienmarkt zugänglich machen kann. Das durchschaut eigentlich jeder, der sich ein Bisschen mit den Hintergründen beschäftigt – und jeder erkennt, welche finanziellen Hintergründe dieses ganze Projekt für einige Wenige hat.

Aber wie in so vielen Streitigkeitenist der eigentliche Punkt nicht oder nur sehr schwer justiziabel, und so sucht man nach anderen Hebeln, die vielleicht nicht den Kern der eigenen Sache treffen, aber diesen effektiv schützen. Und so ist es der Juchtenkäfer, der nach den Erkenntnissen des Untersuchungsausschusses des des baden-würtembergischen Landtags zwar nicht alle, aber immerhin einen Großteil der dortigen Platanen vor der Abholzung bewahrt hat, der eine wichtige Rolle im Schutz dieser innerstädtischen Flächen einnimmt.

Zurück zur Baumfällaktion im Interesse des Kapitals: Waren es wirklich nur diese drei Herrschaften aus einer der hinteren Reihen der Unternehmenshierarchie, die Kenntnisse von den Larven und damit von der Rechtswidrigkeit hatten? Kaum zu glauben, und tatsächlich gibt es konkrete Anhaltspunkte, dass sowohl die Deutsche Bahn als auch das Eisenbahnbundesamt sowie das Stuttgarter Regierungspräsidium Kenntnisse von dem Sachverhalt hatten, dass das Abholzen der Platanen gegen das Gesetz verstößt – und es ist letztlich wohl nicht abwegig, zu vermuten, dass auch Landesministerien mindestens in den Informationsfluss, wenn nicht sogar in den Entscheidungsprozess einbezogen waren.

Tatsache ist jedenfalls, dass die Deutsche Bahn es nicht für nötig hielt, dem Verwaltungsgericht im Rahmen einer Eilentscheidung vor der Aktion alle bekannten Fakten mitzuteilen, so z. B. das Schreiben des Eisenbahnbundesamtes, mit dem die Baumfällungen gestoppt werden sollten (Verwaltungsgericht Stuttgart – Eilverfahren wegen Baumfällarbeiten im mittleren Schlossgarten in Stuttgart beendet -Deutsche Bahn Netz AG trägt die Verfahrenskosten).

Aber spekulieren wir weiter über die Folgen einer rechtswidrigen, gegen einen Staftatbestand verstoßenden Baufällaktion: Waren denn dann die Polizeiführer, die das massive Einschreiten gegen Demonstranten befahlen – und damit letztendlich die Verantwortung für die massiven Verletzungen z. B. bei Dietrich Wagner, der fast sein gesamtes Sehvermögen durch einen Wasserwerferbeschuss verlor, tragen, so ahnungslos über den Charakter der Aktion?

Es ist für mich schwer zu glauben, dass die Informationswege in einer so sensiblen Angelegenheit wie dem massiven Polizeieinsatz gegen demonstrierende Bürger mitten in einer Landeshauptstadt tatsächlich so gänzlich verschlossen waren.

Aber selbst wenn, was ändert das? Sicherlich kann man dann den handelnden Personen bei den Ordnungsbehörden keine persönliche Schuld zuweisen, aber auf den Charakter der Polizeiaktionen an sich hat das nach meiner persönlichen Einschätzung keine Auswirkungen: Das Fällen der Bäume war nicht nur eine rechtswidrige Aktion, sondern erfüllte nach Auffassung der Staatsanwaltschaft Stuttgart einen Straftatbestand. Und damit hat die Polizei mit ihren Aktionen eine Straftat nicht nur geschützt, sondern sogar erst ermöglicht, denn sie unterband, dass die demonstrierende Bevölkerung die Begehung dieser Straftat verhinderte.

Man muss es sich schon genau vor Augen führen: Die Mitarbeiter eines Unternehmens begehen anscheinend in aller Öffentlichkeit eine Straftat, um die auch von Profitabsicht getragenen Interessen ihres Unternehmens zu befördern; öffentliche Behörden haben davon Kenntnis und schreiten nicht effektiv ein, Gerichten werden wichtige Informationen vorenthalten – und am Ende schlägt die Polizei den Bürgerwiderstand mit einer in der Vergangenheit allenfalls aus Gorleben und Brokdorf bekannten Rigorosität nieder.

Es lohnt sich, wieder genauer zu schauen auf den Konflikt in Stuttgart, der anscheinend auch den mit großen Vorschusslorbeeren bedachten grünen Ministerpräsidenten vor Ort schlicht überfordert – ich werde jedenfalls die Umstände genauer im Auge behalten …

Dies nähere Hinschauen ist allein deshalb dringend nötig, weil wohl die Polizeiführung in Stuttgart nicht viel gelernt hat, setzt sie aktuell anscheinend erneut auf Konfrontation: Auf dem Platz des Volksfestes „Cannstatter Wasen“ plant man die Errichtung eines Containerdorfes, um dort aufmüpfige Bürger bei zukünftigen Protesten einsperren zu können (Klick). Der Volksmund hat schon einen passenden Ausdruck für diese neue staatliche Unterbringungsmöglichkeit: „Containamo“!

Hoffentlich ist die Polizeiführung demnächst besser im Bilde, ob sie gerade Straftaten verhindert oder Straftaten ermöglicht – und, welche Mittel angemessen sind im Rahmen von verfassungsrechtlich geschützten Bürgerprotesten …

Text im Original HIER - von der:
Rechtsanwaltssozietät Scherer & Körbes 
www.RAScherer.de
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5 Antworten zu Stuttgart 21: Hat die Polizei eine Straftat ermöglicht und dabei rechtswidrig Bürgerrechte missachtet?

  1. Ingrid sagt:

    Danke für diese Ausführung, welche die Sache haargenau auf den Punkt bringt!

    Für mein laienhaftes Rechtsempfinden folgert daraus: die Baumfällaktion war eindeutig rechtswidrig, also müßten auch die Errichtung des GWM sowie alle dort erfolgenden Arbeiten rechtswidrig sein. Und die Polizei stellt sich nach wie vor schützend vor diese Aktivitäten …

    Unsere Polizei? Nein! Schon lange nicht mehr!

  2. Guldi sagt:

    Dieser Artikel ist so eindrucksvoll und verständlich gechrieben, dass jeder S21-Beführworter diesen lesen sollte. Vielleicht würde dem einen oder anderen dann endlich bewusst werden, dass er die ganze Zeit auf das falsche Pferd gesetzt hat.

  3. Aufgeklärter sagt:

    Dieser fett gedruckte Satz „Hoffentlich ist die Polizeiführung demnächst besser im Bilde, ob sie gerade Straftaten verhindert oder Straftaten ermöglicht – und, welche Mittel angemessen sind im Rahmen von verfassungsrechtlich geschützten Bürgerprotesten …“ bestätigt meine Auffassung, daß sich die Polizei (bzw. deren Führung) sich endlich aus diesem S21-Konflikt gänzlich heraushalten sollte (was bringt es, wenn Nacht für Nacht in der City Überfälle passieren und, wo ist die Polizei??? Na klar, auf der S21-Baustelle, wo sonst?). Dann steht sie auch nicht mehr vor dem Problem, ob sie nun Freund oder Feind vor sich hat. Die Bahn soll selbst zuschauen, mit welchen Sicherungsmitteln sie das Projekt durchkriegen will. Mir wird beim Thema Polizei und Bahnprojekt immer wieder bewußt, wie leicht die Schweiz mit Unterstützung ihrer Bürger das Gotthard-Projekt durchbrachte, ohne Polizeiaufsicht, ohne Zwang und dgl. Welches Wirtschaftsunternehmen wirbt schon damit, daß es mit WaWes und Pfeffersprays im Vorfeld auf seine potentielle Kunden losgeht??? Was sich bei uns in Stuttgart abspielt ist nur noch eine Farce ohnesgleichen, dazu noch eine SPD, die ihren Karren so richtig betonköpfig an die Wand fährt. Leider werde ich bei den besonders auffälligen Beton“Gips“köpfen wie Schmiedel, Drexler, Gönner (von Ulm) den Verdacht einfach nicht los, daß sie wohl selbst in finanzielle private Vorteile verstrickt sind (wie Tante Gönner, Schuster usw. mit ECE). Schauen wir zu, daß wir auf solche Wunden ständig die Daumen legen, daß sie nicht verheilen werden. S21 kann gestoppt werden, auch nach der VE. Wir haben viel erreicht. Ohne die S21-Gegner wären manche Wahrheiten nicht ans Tageslicht gekommen und S21 mitten im ruinösen Bau. … Oben bleiben! Oben ist besser mit Kopf als unten ohne. Oben ist Leben, Licht und Sonnenschein, unten ist nur Langeweile, Dunkelheit und der Tod!

    • erdmännchen2 sagt:

      Gerade sind wir alle sehr beschäftigt damit, Infomaterial zu K21 an den Mann und die Frau im Land zu bringen. Doch sollten wir schon jetzt weiter denken, wie es nach der Volksabstimmung weitergeht.
      Die Bahn hat ganz deutlich vor Wochen gesagt, dass sie unabhängig vom Ausgang der Volksabstimmung weiterbauen wird. Diejenigen, die bei Twitter und Facebook angemeldet sind, sollen um Unterstützung von Menschen deutschlandweit bitten. Denn da der Bund auch einen Teil der Finanzierung bei S21 trägt, geht S21 jeden einzelnen Bürger in Deutschland an und er finanziert dieses unsinnige und überteuerte Projekt mit seinen Steuern. Bei der Anti-Atombewegug kommen auch Menschen aus allen Bundesländern zur Unterstützung der Aktiven vor Ort.
      Mit der Occupy- Bewegung gemein haben wir, dass man dort wie bei uns nicht mehr akzeptieren will, dass nur ein paar Wenige Nutznießer im Staat sind, und der Großteil der Bevölkerung teuer dafür bezahlen muss, damit sich Wirtschaft, Immobilienwirtschaft, Banken und Politik immer mehr bereichern.
      Wir haben nur eine Chance, wenn wir alle zusammenstehen und nicht jeder nur sein eigenes Problem sieht. Wir müssen bei den verschiedenen Gruppen, die gegen Missstände im Staat kämpfen, eine Schnittmenge der gemeinsamen Interessen finden und unsere Kräfte bündeln.
      Wenn wir aus dem Widerstand gegen S21, bei dem es längst nur n0ch um eine Machtfrage geht, wer der Stärkere ist (Regierung oder der Souverän) und deswegenVernunftsargumente gänzlich ausgeschaltet werden, nicht als Gewinner hervorgehen, wird es künftig noch schwerer sein, die Massen zu mobilisieren. Viele Mitbürger sind heute schon ob des arroganten und eigenmächtigen Handelns der Regierenden demoralisiert und haben resigniert. „Die da Oben haben schon immer gemacht, was sie wollten“, ist ein oft gehörter Satz.
      Wir müssen mit massiver Präsenz nach der Volkabstimmung vor Ort sein, denn sonst werden auch noch der Südflügel und weitere Teile des Schlossgartens zerstört!
      Die Polizei ist schon mit einem Massivaufgebot in Wartestellung und wir müssen, um Erfolg zu haben auch eine noch nie dagewesene Menge an Leuten zusammenbringen, um dieser Präsenz Paroli bieten zu können!
      „Wehrt Euch, leistet Widerstand gegen das Milliardengrab im Land! Schließt Euch fest zusammen, schließt Euch fest zusammen!“

  4. Bananenbieger sagt:

    RA Scherer hat eine Fortsetzung zu diesem Artikel geschrieben, mit dem Schwerpunkt Juchtenkäfer:

    http://stscherer.wordpress.com/2011/11/08/stuttgart-21-war-der-juchtenkafer-chefsache/

    Bitte in den Presselinks/Blog veröffentlichen.

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