Kontroverse um den Aktionskonsens 2.0

Vor einigen Tagen wurde der Diskussionsbeitrag von Wolfgang Hänisch "Aktionskonsens 2.0" auf der Seite von Thomas Trüten veröffentlicht und mittlerweile kontrovers in der Bewegung diskutiert. Auch in der Redaktion von BAA waren wir uns nicht einig, ob wir diesen Beitrag überhaupt veröffentlichen wollen, da einzelne meinten, dieser Beitrag stehe nicht für die Meinung der Parkschützer. Auf welcher Basis die Parkschützer weiterhin aktiv bleiben wollen und welcher Aktionskonsens für sie gelten soll, wird wohl nicht über ausgewählte Internetveröffentlichungen geklärt werden können. Eine Chance zur gemeinsamen Debatte bietet der Große Ratschlag (voraussichtlich) am 17. März. Damit sich die Leser von BAA vorab selbst ein Bild machen können, anbei der Diskussionbeitrag von Wolfgang Hänisch und eine Antwort des Friedensforschers Dr. Wolfgang Sternstein.

Diskussionsbeitrag von Wolfgang Hänisch, aktiv im Bündnis für Versammlungsfreiheit und AK S21 ist überall:

"Denn der so diszipliniert gelebte Protest, dieser geradezu devot vorgetragene Verzicht auf Gewalt, stieß ihn immer mehr ab ..."(Heinrich Steinfest: Wo die Löwen weinen, S.93)
Nicht nur Steinfests Romanfigur Tobik hat so seine Schwierigkeiten mit der "unbedingten Gewaltlosigkeit" (Hannes Rockenbauch), die doch schon sehr nach "unbedingtem Gehorsam" klingt. Die, die damit Schwierigkeiten haben, halten nichts davon, mit Steinen zu schmeißen oder mit Züfles geschickt platzierten Molotow-Cocktails herumzuzündeln.

Sie fragen sich aber, ob es nicht von einem sehr eingeschränkten Verständnis des Zivilen Ungehorsams zeugt, wenn die Besetzung von Baustellen, sei es am Nordflügel oder am GWM, regelmäßig zu wahren Distanzierungsorgien der "Häuptlinge" der Bewegung führt. Das "Fußvolk" denkt anders darüber: Vom "Befreiungsschlag" war die Rede, davon, dass die "Würde des Widerstands" wieder hergestellt wurde.

Die Besetzung des Bauplatzes oder der Versuch dazu, ist die ultima ratio jeder Protestbewegung, die sich gegen unnütze Großprojekte richtet:
Von Wyhl bis Brokdorf, von Wackersdorf bis zur Startbahn West, vom Susatal bis zum Baskenland (Widerstand gegen Hochgeschwindigkeitstrassen) - überall war und ist diese Form des Zivilen Ungehorsams als völlig legitim anerkannt.

In Stuttgart scheinen sich die "Häuptlinge" nicht entscheiden zu können, was sie eigentlich wollen: Das Projekt stoppen oder eine gute Presse. Nach dem 14./15.2. hatten wir eine tolle Presse, von Züfle bis Kretschmann gab es Schulterklopfen und Lobeshymnen auf die Friedlichkeit der S21-Gegner. Aber leider sind jetzt eben die Bäume weg. "Wenn der Gegner uns lobt, haben wir einen Fehler gemacht!"

Um diese längst fällige Diskussion zu führen, ist es vielleicht sinnvoll, den schon in die Jahre gekommenen Aktionskonsens der aktiven Parkschützer im Lichte der gemachten Erfahrungen auf seine Tauglichkeit zu überprüfen. Deshalb hier ein Vorschlag, wie ein Aktionskonsens aussehen kann, der versucht, diese Erfahrungen zu verarbeiten: (Die fett gedruckten Passagen sind jeweils die Änderungen bzw. Ergänzungen).

Aktionskonsens 2.0
Stuttgart21 steht dem Willen und dem Interesse der Bevölkerung entgegen. Deshalb sehen wir uns in der Pflicht, alle gewaltfreien Mittel zu nützen, um dieses Projekt zu stoppen.
Gesetze und Vorschriften, die nur den reibungslosen Projektablauf schützen, werden wir nicht beachten.
Durch Einschüchterungsversuche , mögliche Demonstrationsverbote und juristische Verfolgungen lassen wir uns nicht abschrecken.
Wir werden offensiv politisch und juristisch dagegen vorgehen.
Bei unseren Aktionen des Zivilen Ungehorsams sind wir gewaltfrei und achten auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel.
Diese Mittel werden wir gegen alle Einrichtungen, die nur den ungehinderten Projektablauf schützen, entschlossen zum Einsatz bringen.
Unabhängig von Meinung und Funktion respektieren wir unser Gegenüber und erwarten selbstverständlich denselben Respekt gegenüber uns. Insbesondere ist der einzelne Polizeibeamte nicht unser Gegner. Wir verkennen aber nicht, dass die Polizei als Institution des Staates den einzelnen Polizeibeamten durch vielerlei Abhängigkeiten als Werkzeug seiner Machtausübung missbraucht und wir uns dieser Machtausübung erwehren müssen.
Bei polizeilichen Maßnahmen werden wir besonnen und ohne Gewalt handeln.
Wir werden entschlossen unter Einsatz unsrer physischen Präsenz diesen Maßnahmen entgegentreten und durch geeignete Vorkehrungen unsere körperliche Unversehrtheit verteidigen.
Bei Einstellung des Bauvorhabens Stuttgart21 werden wir unsere Blockade- und Behinderungsaktionen sofort beenden.

 

Eine Antwort von Dr. Wolfgang Sternstein, Friedensforscher und Aktivist:

Liebe zivile Ungehorsame,
es ist immer das Gleiche: Die einen lehnen den zivilen Ungehorsam (ZU)
ab, weil sie ihn wegen der Gesetzesübertretung für kriminell halten. Das
ist, von Ausnahmen abgesehen, die Position des Aktionsbündnisses. Die
anderen lehnen ihn ab, weil sie ihn für einen Akt der Unterwerfung und
der Unterwürfigkeit gegenüber dem Staat und der Bahn halten. Das ist die
Position mancher Parkschützer und der Romanfigur im Roman von Steinfest
"Wo die Löwen weinen", vielleicht sogar die Position von Steinfest
selbst. Zitat: "Denn der so diszipliniert gelebte Protest, dieser
geradezu devot vorgetragene Verzicht auf Gewalt, stieß ihn immer mehr
ab..." (Heinrich Steinfest: Wo die Löwen weinen, S.93)

Die Vertreter dieser beiden Positionen haben meines Erachtens keine
Ahnung, welche Kraft der ZU entfalten kann, wenn er aus einem tieferen
Verständnis der Gewaltfreiheit kommt. Ein solches Verständnis gibt es in
Deutschland nur sehr selten. Unsere Gewaltgeschichte hat unsere
Gesellschaft bis ins Mark vergiftet. Wer glaubt, Geschichte sei etwas
Geschehenes und deshalb vergangen, irrt. Geschichte ist immer auch
Gegenwart, denn das, was geschehen ist, wirkt weiter. Das gilt für das
Positive wie für das Negative gleichermaßen. Die Folge der Weltkriege,
des Kalten Krieges und der Krisen im 20. Jahrhunderts ist, dass unsere
Gesellschaft von struktureller, personeller und kultureller Gewalt
zerfressen und vergiftet ist. Es fehlt der Humus, in dem die Saat der
Gewaltfreiheit und des ZU keimen und aufgehen kann. Ich habe in der
Widerstandsbewegung gegen S21 (und auch in anderen
Widerstandsbewegungen) nur eine Handvoll Leute getroffen, die imstande
waren zu begreifen, welche Kraft der ZU entfalten kann, wenn man bereit
ist, die Sanktion hinzunehmen, ohne zurückzuweichen oder
zurückzuschlagen. Wer so handelt, verliert die Angst vor der
"Staatsgewalt". Er oder sie wird wirklich frei (gewaltfrei). Ich wage zu
behaupten, dass, wenn wir scheitern, wir in erster Linie an uns selbst
scheitern, weil wir uns in die Falle "Volksabstimmung" haben locken
lassen und weil wir kaum eine Ahnung von gewaltfreier Aktion haben,
geschweige sie anwenden können.

Wer mehr darüber wissen will, sei auf meine Autobiografie verwiesen
"Mein Weg zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit" (kann bei mir für 20 €
bezogen werden der Ladenpreis ist 28 €).

Mein persönlicher Kommentar zu Hänisch und Trüten: Als einer, der an
mehreren Dutzend gewaltfreien Aktionen beteiligt war, der zweimal zum
Hammer gegriffen hat, um mit jeweils drei Mitstreitern zusammen einen
Pershing-II-Raketentransporter abzurüsten, als einer, der ein halbes
dutzend Mal mit anderen zusammen Zäune in Büchel und am EUCOM
durchgeschnitten hat und auf das Gelände gegangen ist, um gegen
Atomwaffen zu protestieren, als einer, der ein dutzend Mal vor Gericht
stand, 12 Mal verurteilt wurde, neunmal wegen ZU im Gefängnis war,
insgesamt 14 Monate, kann ich über deren Kritik am Aktionskonsens und
der Harmlosigkeit unseres ZU nur müde lächeln.
Wolfgang

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