Prozessbericht: Gerichtsverhandlung mit Friedensaktivist Wolfgang Sternstein

SternsteinProzessbericht Dr. Wolfgang Sternstein am Montag, 16.12.2013, Amtsgericht

Sternstunden gibt es in der K21-Bewegung viele. Am Montag, 16.12.2013 war so eine – der Prozess gegen Dr. Wolfgang Sternstein wegen sieben Nötigungen im Rahmen von Blockaden am GWM im Jahr 2011.
Mehr als 60 ZuschauerInnen waren gekommen, um dem Angeklagten ihre Solidarität zu erweisen und seine Einlassung zu hören, die Grundsätzliches zum Zivilen Ungehorsam, zur bisherigen Rechtsprechung zum ZU und die Rechtfertigung von ZU bei S21 bringen würde. Dass ein Urteil etwa in Höhe des Strafbefehls bereits feststehen würde, war jedem klar. Aber darum ging es diesmal auch gar nicht.
Ein bisschen wunderte man sich zu Beginn der Verhandlung, da nämlich der kleine Saal 4 beim Amtsgericht vorgesehen war, obwohl ja eigentlich inzwischen das Amtsgericht wissen sollte, dass S21- Prozesse eine beachtliche Zuschauerzahl anziehen; erst recht am vergangenen Montag, da der Name Sternstein auch dem Gericht nicht ganz unbekannt sein durfte.
Nachdem man also in Saal 1 umgezogen war, ermahnte Richterin Böckeler  die Anwesenden eindringlichst, sich so zu verhalten, dass „man ruhig ist und Zwischenkommentare unterlässt.“ So verlief die folgende mehrstündige Verhandlung – unterbrochen durch zwei Pausen -  dann auch so friedlich, dass die Richterin mehrfach ein Lob aussprach und auch keine sitzungspolizeiliche Verfügung erließ, die die Anwesenheit eines Justizangestellten im Sitzungssaal zur Folge gehabt hätte.
Nach Feststellung der Anwesenheit des Angeklagten und der Bekanntgabe, dass er sämtliche Zeugen  habe abladen lassen - immerhin wären das bei 7 Blockaden mindestens 30 Zeugen gewesen, deren Vernehmung die Sitzungstage um ein Vielfaches erhöht hätten – , weil er die "Taten" eingeräumt (d.h. zugegeben)  hatte, begann die offizielle Verhandlung.
Staatsanwalt Biel  las den Strafbefehl vor, der sich auf sieben Blockaden in tateinheitlichen Fällen bezog (d.h. der Angeklagte hatte zusammen mit mehreren anderen „mit Gewalt genötigt“). Biel führte u.a. aus, dass die Zufahrt zum GWM im Jahr 2011 regelmäßig blockiert worden sei und dass „die Störer“ den polizeilichen Anweisungen keine Folge geleistet haben. Die Blockaden gingen in ihrer Vielzahl über den üblichen Protest hinaus. Letztlich wollten die Blockierer den Baufortschritt nicht nur behindern, sondern verhindern. („Schön wär´s“, dachte sich da so mancher). Die Blockierer benutzten das erste Fahrzeug als Hindernis, um die nachfolgenden Fahrzeuge zu nötigen.

Im Folgenden führte Biel  jede einzelne Blockade an, mit Datum, Blockadedauer, Anzahl der Personen, die an der Blockade teilgenommen hatten und Zahl der Personen, die nach der Durchsage der Polizei sitzen geblieben waren und weggeführt bzw. –getragen werden mussten. Er verlas die Kennzeichen der blockierten Fahrzeuge und die Namen deren Fahrer. Bei sieben Ereignissen dauerte dieser Vortrag eine Zeit lang, doch wurde bei Aufzählung der Blockiererzahl auch wieder einmal deutlich, wie viele Menschen sich immer und immer wieder den Bauarbeiten am GWM entgegen gestellt hatten.
Bevor Dr. Sternstein sein Recht sich zu äußern wahr nahm, wurde er zu seinen persönlichen Verhältnissen befragt, was er beantwortete, nachdem die Richterin ausdrücklich betont hatte, dass er zu keinerlei Auskunft verpflichtet sei. Überrascht zeigte sich die Richterin, dass Sternstein mit seinen 74 Jahren nicht etwa nur Rentner ist, sondern noch berufstätig als Konfliktforscher und Friedensaktivist.
Richterin Böckeler gab Wolfgang Sternstein nun das Wort. Er wollte statt der Vernehmung von Zeugen die Zeit nutzen, seine Ausführungen zum Zivilen Ungehorsam und zu Stuttgart 21 ausführlich vorzutragen.  Er sagte zu Beginn, dass ihm bei der Aufzählung der blockierten Fahrzeuge und darin sitzenden Personen zum Bewusstsein gekommen sei, wie viele Menschen er behindert habe. Es tue ihm Leid, denn er wolle Menschen nicht an ihrer Arbeit hindern. Er betonte, dass es ihm keinen Spaß mache, andere Menschen einzuschränken und er nehme eine Strafe grundsätzlich an, deshalb brauche er keine entlastenden Zeugen bzw. einen Anwalt.
Im Folgenden führte er mit gravierenden Beispielen aus, dass S21 ein “ Akt barbarischer Kulturzerstörung, ein Akt barbarischer Naturzerstörung und ein Akt der Stadtzerstörung“ sei. Eindrucksvoll in der Präzision trug er Beispiele vor, die das staatliche Unrecht belegten. „Dies müsste Sie, Herrn Staatsanwalt, und Ihre Vorgesetzten, auf den Plan rufen!“, rief er Staatsanwalt Biel zu, der sichtlich aus seiner Ruhe erwachte. „Aber“, fügte Sternstein hinzu, „… im Konflikt zwischen Macht und Recht zieht das Recht allemal den Kürzeren.“

Seine Einlassung - grandios im Sachgehalt, in Argumentation und Wortwahl, mit Herzblut und auf dem Hintergrund von 40 Jahren Widerstand gegen staatliches Unrecht geschrieben -  ist hier zu lesen.Einlassung Sternstein Amtsgericht 16.12.2013

Wolfgang Sternstein hat nicht nur für einen großen Teil der Bewegung gesprochen, er hat auch dem Gericht eine Sternstunde beschert. Ist sich das Gericht dessen bewusst? Wird Sternsteins Einlassung, werden seine Gedanken, seine Appelle, seine scharfen Analysen zu den Akten gelegt als „Meinung eines Querdenkers“, oder werden die an Staatsanwalt und Protokollantin übergebenen 14 Seiten noch von anderen nachdenklichen Menschen am Gericht gelesen?
Der Antrag des Staatsanwaltes lautete nach Abschluss der Beweisaufnahme auf 40 Tagessätze je 45 Euro; verurteilt wurde Sternstein dann zu 40 Tagessätzen je 35 Euro. Eine Verurteilung hatte er  erwartet, ja, sogar gefordert, denn er will in die nächste Instanz gehen. Sein Anliegen ist, die unsägliche Zweite-Reihe-Rechtsprechung bei Blockaden samt ihrer abstrusen Begründung höchstrichterlich untersuchen und neu bewerten zu lassen. Sternstein sieht sich im Fall von Stuttgart 21 zum Zivilen Ungehorsam nicht nur berechtigt, sondern es sei geboten, Zivilen Ungehorsam zu leisten. Ein Muss, um auf staatliches Unrecht aufmerksam zu machen und es letztendlich zu beseitigen. Die diesbezügliche, in sich inkonsequente Rechtsprechung sei anzugreifen. „Eine Protest-Blockade kann allenfalls wie eine Ordnungswidrigkeit geahndet werden, niemals nach dem Strafrecht,“ sagt Sternstein.

Anmerkung: Manch ein Zuschauer ist erstaunt wegen der sehr unterschiedlichen Handhabung von Anklagen bei angeblicher Nötigung. Während bei einigen Angeklagten vier, sieben oder mehr Nötigungen in einem einzigen Prozess zusammengefasst werden, müssen sich andere Protagonisten für eine einzige Nötigung verantworten, obwohl sie noch mehr hätten. So machen sie drei und mehr Verhandlungen bzw. Verurteilungen mit. Und das Strafmaß? Das ist dementsprechend sehr unterschiedlich. In dem vorliegenden Fall gab die Richterin 10 Tagessätze für die erste Nötigung. Die restlichen 6 Nötigungen wurden halbiert, also drei. Zus. ergab es  4 mal 10 Tagessätze = 40 Tagessätze. Andere Angeklagte bekommen für eine einzige Nötigung 30 oder 40 Tagessätze. Um das gerecht zu finden, muss man Jura studiert haben.
(Petra Brixel)

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8 Antworten zu Prozessbericht: Gerichtsverhandlung mit Friedensaktivist Wolfgang Sternstein

  1. Erwin sagt:

    Was S21 und andere Projekte wie Oper Hamburg, Flughafen Berlin, München, Stuttgart betrifft sowie das unsoziale Verhalten vieler Großkonzerne und Banken ist NICHT Ziviler Ungehorsam das Problem, das zu den öffentlich hinlänglich bekannten Desastern führt, sondern Ziviler Gehorsam!

    Zur Unterstützung des Not-wendigen politischen Bewusstseinswandels in diesem Land schlage ich vor, Zivilen Ungehorsam staatlich zu fördern und zu ehren, Zivilen Gehorsam hingegen unter (milde) Strafe zu stellen.

    Ich erinnere an die Rede von Schauspieler Matt Damon, die an anderer Stelle auf diesen Seiten Erwähnung fand:

    https://www.youtube.com/watch?v=gMScAZPDAxE
    http://www.dailymotion.com/video/x181tym_matt-damon-unser-problem-ist-ziviler-gehorsam_news

  2. martin mueller sagt:

    Liebe Petra B., Hochachtung für Deine Publikatonen . Sehr informativ und anregend. Weiterhin viel Erfolg und frohe Weihnacht !!!

  3. Renate Rüter sagt:

    Vielen Dank, liebe Petra, für diesen guten Bericht, der uns, die wir nicht vor Ort sein konnten, gezeigt hat, welch großartige Menschen sich in unserer Bewegung engagieren. Stuttgart kann stolz auf „Angeklagte“ wie Dr. Sternstein sein – ob das Gericht das wohl auch bemerkt hat???
    Renate

  4. Ich sagt:

    http://www.parkschuetzer.de/statements/166313

    Eine Kurzfassung auch hier zu lesen.

    Ja eine Sternstunde wars.

  5. Johannes K. sagt:

    Die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ ist doch 2011 durch das BVerfG gerade erst bestätigt worden:

    1. Die „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs begegnet unter dem Aspekt des Art. 103 Abs. 2 GG jedenfalls mit Rücksicht auf § 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB keinen Bedenken. Danach ergibt sich die Tatbestandsmäßigkeit des Verhaltens der Demonstranten gemäß § 240 Abs. 1 StGB im Ergebnis nicht aus deren unmittelbarer Täterschaft durch eigenhändige Gewaltanwendung, sondern aus mittelbarer Täterschaft durch die ihnen zurechenbare Gewaltanwendung des ersten Fahrzeugführers als Tatmittler gegenüber den nachfolgenden Fahrzeugführern (vgl. BGHSt 41, 182, 185, 186, 187). Diese Auslegung der strafbarkeitsbegründenden Tatbestandsmerkmale „Gewalt durch einen anderen“ sprengt nicht die Wortsinngrenze des Analogieverbots.

    Was erwartet Wolfgang Sternstein hier?

  6. Obstruktion sagt:

    Die Einlassung von Dr. Sternstein ist beispielhaft. Kann jemand bitte eine Quelle nennen, in der „staatliche Korruption“ allgemeinverständlich erklärt wird.

  7. ein Mensch sagt:

    „FDP-Stadtrats Michael Conz: „Also von mir aus könnte Stuttgart 21 eine Billion Euro kosten, und ich wäre immer noch dafür.“ (Stuttgarter Zeitung vom 4. Juli 2010, S. 23)“

    Die werden euch das Fell über die Ohren ziehen!
    Zeigt den anderen das es richtig schön teuer wird.

    Zieht bei Gelegenheit aus Stuttgart aus, meidet Conz, seine Globalplayer und ihre Lobbyisten. So bleiben die Kosten auf Conz & Co. sitzen.
    Lasset Stuttgart zur Geisterstadt verkommen und die werden sehen wie überflüssig S21 für das größte Bordell in der EU, in Stuttgat, ist.
    Idealer Weise gar die EU verlassen.

  8. Friedrich sagt:

    Respekt auch der Richterin für Ihre Geduld.
    Es ist ja nun nicht jedem gegeben, sich die sich permanent wiederholenden ellenlangen Ausführungen der Angeklagten derart geduldig anzuhören.

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