Wie ist das mit dem zivilen Ungehorsam? – Wolfgang Sternstein

1. Wie so oft, gibt es auch über den zivilen Ungehorsam verschiedene, manchmal sogar gegensätzliche Vorstellungen. Ich möchte niemandem meine Vorstellung aufdrängen oder gar aufzwingen, doch dafür werben möchte ich schon. Meine Definition des zivilen Ungehorsams steht in der großen Tradition von Henry David Thoreau, Mahatma Gandhi, Martin Luther King und vieler anderer.

2. Ziviler Ungehorsam ist die absichtliche Übertretung von Gesetzen oder gesetzesähnlichen Vorschriften oder die Gehorsamsverweigerung gegenüber amtlichen und polizeilichen Anweisungen mit dem Ziel, staatliches Unrecht oder staatliche Korruption zu beseitigen. Ziviler Ungehorsam in diesem Sinne sollte „zivil“ sein, das heißt offen, gesprächsbereit und gewaltfrei. Dazu gehört auch die Bereitschaft, die für die Gesetzesübertretung verhängte Sanktion klaglos hinzunehmen. Das gilt selbstverständlich nicht für die Fälle, bei denen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit von Seiten der Polizei grob missachtet wurde, wie das beim „schwarzen Donnerstag“ zweifellos der Fall war. Auch ist es den Ungehorsamen unbenommen, ihr Handeln vor Gericht zu begründen und zu rechtfertigen. Wer in diesem Sinn zivilen Ungehorsam leistet, stellt weder den Rechtsstaat noch die Demokratie als Staatsform infrage. Im Gegenteil, den Ungehorsamen geht es um ihre Verbesserung, nicht um ihre Zerstörung.

3. Durch die Bereitschaft, Nachteile und Strafen hinzunehmen, bekunden sie vielmehr ihren Respekt vor dem Recht als solchem und appellieren an die Regierung und die Parlamente, die angefochtene Entscheidung noch einmal zu überdenken. Massenhafter ziviler Ungehorsam kann die Rücknahme der angefochtenen Entscheidung erzwingen. Nach Meinung Gandhis ist er sogar ein geeignetes Mittel, eine Diktatur zu stürzen (siehe Polen, DDR, Tschechoslowakei zur Zeit der „Wende“ von 1989 oder Tunesien und Ägypten 2011).

4. Ziviler Ungehorsam ist eine höchst wirksame „Waffe“ im Arsenal der gewaltfreien Aktion. Sie ist aber auch mit großen Opfern verbunden, Sie sollte daher erst eingesetzt werden, wenn alle legalen Mittel, Abhilfe zu schaffen, ausgeschöpft sind.

5. Im Fall von Stuttgart 21 besteht das staatliche Unrecht darin, dass Steuergeld in Milliardenhöhe für ein Projekt verschwendet werden soll, das keinen verkehrlichen Nutzen bringt, sondern nur Nachteile hat (Gipskeuper im Stuttgarter Untergrund, Gefährdung der Cannstatter Mineralquellen, Beeinträchtigung der Lebensqualität der Bürger während der Bauzeit, ökologische Nachteile, Amputation des denkmalgeschützten Bonatzbaus usw.)

6. Beim zivilen Ungehorsam geht es weniger um die unmittelbare Verzögerung der Bauarbeiten durch Blockaden, es geht vielmehr darum, die Medien, die Öffentlichkeit und selbst den politischen Gegner durch Argumente und durch die Bereitschaft, Nachteile und Strafen hinzunehmen, zu gewinnen. Wenn wir auf diese Weise immer mehr werden, wird der gewaltfreie Widerstand schließlich unwiderstehlich.

7. Wer wegen der Blockade von Baufahrzeugen oder das Eindringen in das Baugelände zu einer Geldstrafe verurteilt wird, wird nicht kriminalisiert. Solche Handlungen sind durch das Demonstrationsrecht nicht gedeckt. Wenn aber Gangolf Stocker, weil er angeblich gegen die Auflagen des Amtes für öffentliche Ordnung verstoßen hat, zu hohen Geldbußen verurteilt wird, dann handelt es sich meines Erachtens um Kriminalisierung.

8. Der „Aktionskonsens“ ist eine solide Grundlage für Aktionen des zivilen Ungehorsams. Deshalb möchte ich ihn hier noch einmal in Erinnerung rufen:

„Stuttgart 21 steht dem Willen und dem Interesse der Bevölkerung entgegen. Deshalb sehen wir uns in der Pflicht, alle gewaltfreien Mittel zu nutzen, um dieses Projekt zu stoppen.

Gesetze und Vorschriften, die nur dem reibungslosen Projektablauf schützen, werden wir nicht beachten.

Durch Einschüchterungsversuche, mögliche Demonstrationsverbote und juristische Verfolgungen lassen wir uns nicht abschrecken.

Bei unseren Aktionen des zivilen Ungehorsams sind wir gewaltfrei und achten auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel. Unabhängig von Meinung und Funktion respektieren wir unser Gegenüber. Insbesondere ist die Polizei nicht unser Gegner. Bei polizeilichen Maßnahmen werden wir besonnen und ohne Gewalt handeln.

Bei Einstellung des Bauvorhabens Stuttgart 21 werden wir unsere Blockade- und Behinderungsaktionen sofort beenden.

Mahatma Gandhi
„ Ich wünschte, ich könnte jedermann davon überzeugen, dass ziviler Ungehorsam das angeborene Recht jedes Bürgers ist. Er kann es nicht preisgeben, ohne sein Menschsein preiszugeben. Ziviler Ungehorsam führt niemals zu Chaos und Gesetzlosigkeit. Krimineller Ungehorsam hingegen kann dazu führen. Jeder Staat unterdrückt kriminellen Ungehorsam mit Gewalt. Andernfalls würde er zugrunde gehen. Doch zivilen Ungehorsam zu unterdrücken heißt, das Gewissen in Ketten legen zu wollen. Ziviler Ungehorsam kann nur zu Stärke und Lauterkeit führen. Ein Anhänger des zivilen Widerstands greift niemals zu den Waffen und ist deshalb für einen Staat, der überhaupt bereit ist, der Stimme der öffentlichen Meinung sein Gehör zu schenken, keine Gefahr.

Es lässt sich darüber streiten, ob die Anwendung von zivilem Ungehorsam auf ein bestimmtes Vorgehen oder Gesetz ratsam ist; auch kann man zu Aufschub und Vorsicht bei seiner Anwendung raten. Doch das Recht auf zivilen Ungehorsam selbst darf auf keinen Fall in Frage gestellt werden. Es handelt sich um ein angeborenes Recht, das man nicht aufgeben kann, ohne seine Selbstachtung aufzugeben.

Aber ebenso, wie wir auf unserem Recht auf zivilen Ungehorsam bestehen, müssen wir seine Anwendung mit allen erdenklichen Einschränkungen absichern. Es sollten alle möglichen Vorkehrungen getroffen werden, um den Ausbruch von Gewalttätigkeiten oder einer allgemeinen Rechtlosigkeit zu verhindern. Auch sollten das Gebiet und der Umfang seiner Anwendung auf die unmittelbaren Erfordernisse des jeweiligen Falles begrenzt werden.“

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