Ein Jahresrückblick … und heiter bleiben irgendwie

Rede von Martin Poguntke, Theologinnen und Theologen gegen Stuttgart 21, auf der 398. Montags­demo am 18.12.2017

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter!

Ein Doppelthema hat mir das Demoteam für die heutige Jahresabschluss-Rede vorgegeben: „Ein Jahresrückblick … und heiter bleiben irgendwie“.

Also ich hätte zunächst gesagt: entweder – oder. Entweder wir blicken auf dieses Jahr mit all seinen neuen Frechheiten und Katastrophen zurück – oder wir bleiben heiter – irgendwie.

Wer sollte denn bei der Rastatt-Havarie heiter bleiben? Oder bei der ständigen Sonntagsarbeit auf den S21-Baustellen? Oder wenn sich von den Verantwortlichen einer nach dem andern vom Acker macht: erst Kefer, dann Grube, schließlich der Aufsichtsratsvorsitzende Felcht. Und wenn wir dann noch das „Dr Käs isch gässa“-Gerede von Landesregierung und Ministerpräsidenten hören, oder das „Volksabstimmung-ist-Volksabstimmung"-Getue von Gemeinderat und OB – wer sollte da heiter bleiben? Eher ein bitteres Lachen gelingt mir da.

Aber halt! Eines macht mich beim Rückblick wirklich heiter – ja, geradezu glücklich: dass die Bahn wieder mal höhere Kosten zugeben musste. Das ist nicht nur erheiternd, sondern es ist eine große Chance für uns. Jetzt ist S21 wieder in aller Munde und in allen Medien – und durchaus auch kritisch. Jetzt ist für uns – seit Jahren endlich mal wieder – der Kairos da, der besondere Moment, in dem Entscheidungen fallen können. Können! Nicht müssen!

Aber dass es zu einem Müssen kommt, dass die S21-Protagonisten nicht einfach zur Tagesordnung übergehen können, dazu tragen wir alle zusammen bei. Was da zurzeit Leserbriefe geschrieben werden und Offene Briefe an Politiker und Bahn-Verantwortliche – wunderbar! Da kann ich nur sagen: Danke, Euch allen! Das ist ein echter Grund zum Heitersein. Weiter so! Schreibt, bis Euch die Finger wund werden – ich bin der festen Überzeugung: Das bringt was – und zurzeit mehr, denn je. Denn eines ist klar: Wir haben nicht nur die besseren Argumente, sondern die einzigen. Und die bringen wir mit der Sickerwirkung der Wahrheit immer und immer wieder ein.

Die unangemessene Heiligsprechung der „Meinung“

Was einem allerdings bei diesen Auseinandersetzungen immer wieder passiert, ist Folgendes: Der Journalist, der Politiker, der Kommentarschreiber, mit dem man aneinandergeraten ist, beruft sich einfach darauf, er habe eben eine andere Meinung und die mögen wir doch bitte respektieren. Das ist das Totschlagsargument der Postmoderne: Sobald einer sagt, dies oder jenes sei eben seine Meinung, muss alle Kritik verstummen. Denn wer wollte in einer freien Gesellschaft einem seine Meinung verbieten?

Aber diese Heiligsprechung der persönlichen Meinung ist ein Irrweg. Denn Meinungen sind Faktenbewertungen. Sie müssen sich deshalb auch auf Fakten beziehen. Wenn Du der Meinung bist, die Erde sei eine Scheibe, will ich Deine Meinung gerne respektieren, wenn Du mir Fakten dafür präsentierst – aber nicht als unreflektiertes Bauchgefasel.

Wir leben zunehmend in einer sogenannten „postfaktischen“ Gesellschaft, einer Gesellschaft, die die Fakten mehr und mehr hinter sich lässt und sich mit Meinungen begnügt. Diese Gleich-Gültigkeit dürfen wir nicht mitmachen, dass alles und jedes einfach gleich gültig ist, wenn es nur einer zu seiner Meinung, zu seiner Sicht der Dinge erklärt. Ich sagte eben: Meinungen sind Faktenbewertungen. Deshalb steckt in jeder sich auf Fakten beziehenden Be-wertung auch ein Wert. Und diese Werte will ich ebenfalls hören, bevor ich eine Meinung einfach als solche akzeptiere. Aufgrund welcher Wertentscheidung kommst Du zu deiner Meinung?

Und wenn bei der Abwägung z. B. soziale Werte gegenüber materiellen Werten zu schlecht wegkommen, halte ich eine solche Meinung nicht für akzeptabel. Die Abwägung etwa, dass man wahrscheinliche Gefahren für Leib und Leben in einem Tiefbahnhof in Kauf nehmen müsse, weil deren Verhinderung zu viel Geld koste, lehne ich ab.

Natürlich lasse ich einem diese Meinung – aber ich respektiere sie nicht. Wir müssen uns abgewöhnen, in Ehrfurcht zu erstarren, sobald einer eine Meinung äußert. Wenn die Fakten gar keine Fakten sind oder die Werte inakzeptabel, dann lassen wir unserem Gegenüber zwar seine Meinung – aber wir respektieren sie nicht. Wir respektieren Meinungen nur, wenn sie auf gültigen Fakten basieren und wenn sie auf den Werten einer humanen Gesellschaft gründen. Alles andere hieße, unsere Gesellschaft in die völlige Beliebigkeit abgleiten zu lassen – Trump lässt grüßen. Das ist dann nicht mehr heiter –, auch nicht irgendwie.

Es gibt keinen „point of no return”

Dieses Bestehen auf Werten ist übrigens auch der Grund, warum es für S21 keinen „point of no return“ gibt. Es wird ja immer wieder argumentiert: Wenn dann in ein oder zwei oder drei Jahren einmal die Ausstiegskosten höher sein sollten als die Kosten des Fertigbauens, dann habe ein Ausstieg keinen Sinn mehr. Das stimmt aber nur, wenn man nur einen einzigen Wert kennt: das Geld.

S21 zerstört so viel: Es zerstört einen attraktiven und ökologischen Bahnverkehr, der seinen Beitrag zur Luftreinhaltung leistet. Es zerstört einen auch für Menschen mit Behinderungen, Kinderwägen oder schweren Koffern auf allen Bahnsteigen bequem erreichbaren Bahnhof wie unseren Kopfbahnhof. Es zerstört die Sicherheit im Brandfall, die unser Kopfbahnhof bietet. S21 verbraucht zu viel Energie, ist – wegen der Bahnsteigneigung – gefährlich, wird – wegen des Anhydrits – immer wieder zu Sperrungen führen, zwingt die Investoren – wegen der gigantischen Kosten – aus den frei werdenden Grundstücken so viel Geld wie möglich zu machen und auf deren ökologische Bedeutung keine Rücksicht zu nehmen. Und so weiter, und so weiter.

Das Vermeiden all dieser Schäden stellt in seiner Gesamtheit einen so hohen Wert dar, dass man eines bis zum Schluss sagen kann: Wenn wir am Tag nach seiner Einweihung das Kellerbahnhöfle wieder abschließen und stattdessen den Kopfbahnhof renovieren würden – es würde sich immer noch lohnen. Nicht finanziell. Aber finanziell lohnt sich das ganze Projekt ja ohnehin nicht – außer für einige Baufirmen.

Kostensteigerungen als Geschäftsprinzip

7,9 Milliarden Euro – wird seit zwei Wochen zugegeben – soll S21 kosten. Aber es wird immer deutlicher, dass die Kostensteigerungen bei S21 und bei anderen Großprojekten keine Überraschungen sind, wie immer behauptet wird, sondern Teil des großen Komplotts. Die Bahn ist nicht unfähig, richtig zu rechnen, sondern sie plant eiskalt und rational jede neue Veröffentlichung von angeblichen Kostensteigerungen.

Dabei dient die Bahn im Grunde nur als Bindeglied zur Wirtschaft. Denn die Bahn leitet ja diese Kosten in Form von Bauaufträgen an die Wirtschaft weiter. Und für die Wirtschaft, das wird immer deutlicher, scheinen öffentliche Aufträge inzwischen ein richtig lohnendes Geschäftsfeld zu sein.

Denn öffentliche Aufträge haben zwei große Vorteile:

  • Erstens müssen sie nicht wirtschaftlich sein, weil die öffentliche Hand ja per se andere Zielsetzungen haben muss als Geldvermehrung – und weil es bei der öffentlichen Hand ja auch nie ums eigene Geld der Entscheider geht.
  • Und zweitens, weil man in der Spätphase des Baus, wenn er dann ein ausreichendes Stück fortgeschritten ist, super Nachforderungen stellen kann, weil der Bau angeblich unumkehrbar, nicht mehr zu stoppen ist. Dann ist die öffentliche Hand erpressbar: Entweder sie zahlt jeden geforderten Preis für die tausenderlei kleinen und großen Nachbesserungen und Erschwerniszulagen, oder sie blamiert sich mit einer Bauruine.

Was es im Fall der Bahn noch komplizierter macht, ist der Umstand, dass die Mainstream-Politik ganz bewusst die Bahn mit unsinnigen Investitionen belastet – weil nur eine ausgeplünderte Bahn keine Konkurrenz für die Autoindustrie ist.

Deshalb: Verkneifen wir uns unsere Heiterkeit, wenn – scheinbar – die Bahn immer mal wieder einen finanziellen Offenbarungseid leisten muss. Werden wir ernsthaft und weisen wir darauf hin, dass die Bahn das alles schon immer gewusst hat, intern schon seit vielen Jahren mit über zehn Milliarden rechnet. Und auch die Politik hat es gewusst, auch wenn sie sich jedes Mal überrascht gibt.

Der Adressat unseres Protests muss deshalb immer auch die Politik sein: Sie missbraucht die Bahn als Cash-Cow. Sie beschließt politisch. Sie belügt die Bevölkerung – und sie ist bisweilen auch so naiv, dass sie gar nicht wahrnimmt, an welchem Spiel sie da teilhat. Und so winkt sie gelassen die unglaubliche Summe von zehn Milliarden für den Rückbau eines Bahnhofs durch.

Wenn die Drei Weisen aus dem Morgenland S21 finanzieren würden

Haben Sie eigentlich eine Vorstellung davon, wieviel Geld das ist, zehn Milliarden? Lassen Sie mich dazu zum Abschluss noch ein kleines weihnachtliches Beispiel machen:

Stellen Sie sich vor, die Drei Weisen aus dem Morgenland aus der biblischen Weihnachtslegende hätten dem Jesuskind nicht Gold, Weihrauch und Myrrhe gebracht, sondern die riesige Summe von einer Million Euro. Und nun stellen Sie sich vor, die Drei Weisen wären zum ersten Geburtstag des Jesuskindes wiedergekommen, und sie hätten dem Kind wieder eine Million Euro geschenkt. Und nun stellen Sie sich vor, die drei fantastischen Männer wären jedes Jahr gekommen bis heute, 2000 Jahre lang. Dann hätten Sie – ohne einen einzigen Cent an Zinsen mitgerechnet – bis heute – nach 2000 Jahren – „nur“ zwei Milliarden Euro gebracht; ein Fünftel dessen, was S21 am Ende gekostet haben würde!

„Was S21 gekostet haben würde“, sage ich im Konjunktiv – weil einfach nicht sein darf, dass sie das Ding fertigbauen. Es darf nicht sein. Und wir werden alles dafür tun, dass das verhindert wird. Auch im neuen Jahr. Ich bin dabei. Und ich bin heiter dabei – sonst werden wir ja alle verrückt.

Rüsten wir uns für ein Jahr 2018, in dem wir unseren vielfältigen Druck aufrechterhalten und aktuell noch verstärken: durch Leserbriefe, Veranstaltungen, Fachgutachten, Demonstrationen und gerne und dringend auch phantasievolle Aktionen zivilen Ungehorsams – sofern uns welche einfallen.

Wir bleiben auch im Jahr 2018 heiter! Wir bleiben auch im Jahr 2018 oben!

Danke Ihnen allen! Und alles Gute!

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Eine Antwort zu Ein Jahresrückblick … und heiter bleiben irgendwie

  1. Wolf sagt:

    Diese Rede zu lesen tat wieder einmal gut.

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