Vernichtende Kritik des EU-Rechnungshofs an den Eisenbahnprojekten von Stuttgart bis München

Rede von Karlheinz Rößler, Verkehrsberater, auf der 431. Montagsdemo am 3.9.2018

Liebe Freundinnen und Freunde des Stuttgarter Kopfbahnhofs,

mit meinem Vortrag werde ich eine ganz neue Blickrichtung auf Stuttgart 21 aufzeigen, und zwar, wie man auf EU-Ebene dieses Unsinns-Projekt bewertet. Für solche Bewertungen ist der EU-Rechnungshof mit Sitz in Luxemburg zuständig. Immer wenn die EU an die Mitgliedsstaaten Finanzmittel vergibt, schaut der Rechnungshof genau hin, ob alles seine Ordnung hat, oder ob nicht eine Geldverschwendung vorliegt.

Der EU-Rechnungshof überprüft alle Projekte für Schienen-Hochgeschwindigkeitsverkehr, die von der EU kofinanziert, also gefördert werden. Insgesamt handelt es sich um 30 Vorhaben in Spanien, Frankreich, Italien, Portugal, Österreich und Deutschland. Diese Projekte verteilen sich auf 10 europäische Strecken. In Deutschland sind davon drei Bahnstrecken oder Schienenkorridore betroffen, und zwar

  • von Berlin bis München über Erfurt – Nürnberg – Ingolstadt
  • von München bis Verona über Innsbruck – Brenner – Bozen
  • und von Stuttgart bis München über Wendlingen – Ulm – Augsburg inkl. Stuttgart 21.

Bei dieser Überprüfung erhielten die Projekte des Korridors Stuttgart – München europaweit mit Abstand die schlechteste Bewertung. Den Hauptkritikpunkt bilden die zu hohen Baukosten, die pro eingesparter Minute Fahrzeit bei ungefähr 370 Millionen EUR liegen. Aber auch das Fahrgastpotenzial der ICE-Züge zwischen Stuttgart und München wird als zu gering eingestuft, denn es besteht eine Konkurrenzsituation zwischen den beiden Korridoren von München nach Frankfurt (Main), von denen der eine über Ingolstadt – Nürnberg – Würzburg und der andere über Ulm – Stuttgart – Mannheim verläuft. Und das bedeutet:

  • Jeder ICE, der zwischen München und dem Rhein-Main-Gebiet über Stuttgart fährt, fehlt dem Korridor über Nürnberg und untergräbt somit die Wirtschaftlichkeit der hier realisierten Projekte, insbesondere der neuen ICE-Trasse von Ingolstadt nach Nürnberg.
  • Umgekehrt untergräbt jeder ICE, der diesen Weg nimmt, nämlich über Ingolstadt und Nürnberg statt über Stuttgart, die Wirtschaftlichkeit der Projekte im Stuttgarter Korridor.

Die Folge ist, dass zwischen München und Stuttgart zu geringe Fahrgeldeinnahmen erzielt werden, um die hohen Baukosten zu refinanzieren.

Bekannt ist uns allen, die wir hier stehen, dass das Projekt S21 im Korridor Stuttgart – München keinerlei Fahrzeitreduktion bewirkt. Die geplante, erhoffte oder ersehnte Verkürzung der ICE-Fahrzeit zwischen Stuttgart und Ulm von heute 54 Minuten auf zukünftig 31 Minuten – also 23 Minuten weniger als heute – ist einzig und allein der Neubaustrecke ab Wendlingen nach Ulm zuzuschreiben. Aber diese Fahrzeitreduktion ist teuer erkauft: durch extrem hohe Baukosten, nämlich aktuell 3,7 Milliarden EUR laut DB-Aufsichtsrat vom Januar 2018, also rund 67 Millionen EUR pro Kilometer der 57 km langen zweigleisigen Neubaustrecke, durch lange Tunnels und viele Brücken im Albvorland und auf der Schwäbischen Alb, durch weiträumige Landschaftszerstörungen, durch massive Eingriffe in die Hydrologie der Karstlandschaft und durch starke Emissionen von Treibhausgas durch den Bau der Tunnels, Brücken und Betonfahrbahnen.

Relativ kostengünstig war hingegen der bereits im Dezember 2011 abgeschlossene Ausbau der Bahnstrecke Augsburg – München. Diese Trasse erhielt im Abschnitt von Augsburg Hbf. bis Olching zwei zusätzliche Gleise, so dass die schnellen ICE-Züge nun eigene Gleise haben, auf denen sie ohne Behinderung durch die langsameren Regional- und Güterzüge fahren können. Hierbei wurden auch die beiden alten Gleise mit ihren Oberleitungen wie auch sämtliche Brücken und Bahndämme vollkommen erneuert. Die Baukosten betrugen insgesamt 750 Millionen EUR oder etwas mehr als 17 Millionen EUR pro Kilometer. Dieser relativ niedrige Betrag pro Streckenkilometer ist einzig und allein darauf zurückzuführen, dass es sich hier um eine fast topfebene Landschaft handelt, in der kein einziger Tunnel zu bauen war. Die Höchstgeschwindigkeit der ICE-Züge wurde im fast 40 km langen Abschnitt von Augsburg-Hochzoll bis Olching von zuvor 200 km/h auf 230 km/h leicht angehoben, aber auf gut 10 km Länge von Olching bis München-Pasing von 200 km/h auf nur noch 160 km/h abgesenkt – und das auf der ältesten Schnellfahrstrecke in Deutschland, die seit 1977 mit Tempo 200 befahren worden war.

Wenn man ernsthaft die Fahrzeit im ICE-Verkehr zwischen Stuttgart und München bei möglichst niedrigen Baukosten hätte verkürzen wollen, wäre Folgendes naheliegend gewesen:

  • zwischen Augsburg und München eine stärkere Erhöhung der Höchstgeschwindigkeit, z.B. auf 250 km/h statt nur 230 km/h, und vor allem keine abschnittsweise Absenkung auf nur noch 160 km/h,
  • im flachen oder allenfalls hügeligen Land zwischen Ulm und Augsburg eine geradlinige Neubaustrecke für 250 bis 300 km/h – und zwar ganz ohne Tunnels.

Durch diese Neubaustrecke Ulm – Augsburg wäre eine Durchschnittsgeschwindigkeit von mindestens 210 km/h und zugleich eine Verkürzung der Streckenlänge von 86 km auf 70 km möglich, was die ICE-Fahrzeit von Ulm nach Augsburg auf genau 20 Minuten reduzieren würde – heute dauert diese Fahrt im günstigsten Fall 43 Minuten. Es wäre also dieselbe Fahrzeitverkürzung erzielbar, wie sie durch die neue Strecke Wendlingen – Ulm erreicht werden soll, aber mit deutlich niedrigen Baukosten: rund eine Milliarde EUR würde diese tunnelfreie Trasse kosten, nur rund 15 Millionen EUR pro Kilometer statt 67 Millionen EUR wie zwischen Wendlingen und Ulm; 2,7 Milliarden EUR wären also eingespart worden, und dies bei derselben Reduktion der Fahrzeit. Auf die tunnelreiche und kostspielige neue Strecke über die Schwäbische Alb hätte man also leicht verzichten können.

Außerdem sind die Betriebskosten der oberirdischen Trasse deutlich geringer, denn zum einen entfällt der aufwendige Unterhalt der Tunnels und zum anderen wird der erhöhte Energiebedarf vermieden, der durch den Luftwiderstand in den engen Tunnels entsteht, verglichen mit der tunnellosen Fahrt auf der Altstrecke durch das Filstal und über die Albhochfläche. Wenn wir modellhaft annehmen, auf dieser Bestandsstrecke betrage die Geschwindigkeit eines ICE-Zuges 150 km/h, während die Tunnels der Neubaustrecke vom selben Zug mit Tempo 300 befahren werden, so ist der Luftwiderstand in diesen Tunnels rund 4-mal so hoch und entsprechend höher ist der Energieaufwand.

Wir können also festhalten:

  1. Stuttgart 21 ist eine reine Geldverschwendung, die nicht nur keinen Nutzen hat = keine Fahrzeitverkürzung, sondern sogar schädlich ist, indem die Kapazität des Bahnknotens Stuttgart stark verringert wird.
  2. Die Neubaustrecke Wendligen – Ulm bewirkt zwar eine Fahrzeitverkürzung, hat also einen Nutzen, aber dieser ist teuer erkauft –, zu teuer. An anderer Stelle, nämlich zwischen Ulm und Augsburg, wäre dieselbe Fahrzeitverkürzung mit weitaus geringeren Kosten möglich gewesen – ganz ohne Tunnels. Aber dies würde vermutlich der Bau-, Zement- und Stahlindustrie nicht gefallen.
  3. Im Abschnitt Augsburg – München wurde das Potenzial weitgehend verschenkt, das der Streckenausbau bezüglich einer Fahrzeitverkürzung gehabt hätte.
  4. So gesehen, ist das negative Urteil des EU-Rechnungshofs über die Eisenbahnprojekte von Stuttgart bis München und somit auch über S21 sehr gut nachvollziehbar. Es bestätigt unsere Argumente gegen dieses Eisenbahn-Zerstörungsprojekt voll und ganz. Deshalb gilt, gestärkt durch den EU-Rechnungshof, jetzt erst recht: OBEN BLEIBEN!

Rede von Karlheinz Rößler als pdf-Datei

 

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3 Antworten zu Vernichtende Kritik des EU-Rechnungshofs an den Eisenbahnprojekten von Stuttgart bis München

  1. Steffen Hans sagt:

    Nach der Logik von Herrn Rössler sollte man Bahnlinien nur auf ebenen Flächen bauen wo es einfach und billig ist. Wer in bergigen Gegenden wohnt soll sich wenn überhaupt mit einer langsamen Bimmelbahn begnügen. Wenn ich die Bürger bergiger Gegenden auch in den genuss schneller Bahnverbindungen bringen will, kommt man um Brücken und Tunnel nicht Drumherum. Hier hinkt seine Argumentation doch gewaltig.

    • Ostendorf sagt:

      Hallo Steffen,
      eine Betrachtung über den Zaun: wie die Schweizer ihren extremen Berg-und Tal-Verkehr – von der Bevölkerung klaglos, also vorbildlich – organisieren, lohnt immer! Und das auch im Hinblick auf den Hauptverkehrsknotenpunkt Zürich.
      Frdl. Gruß

  2. Lene Jakob sagt:

    Ich finde die Argumentation von Herrn Rößler absolut einleuchtend und nachvollziehbar – sowie wohl auch der EU-Rechnungshof. Scheuklappen weg – dann kommt die Erkenntnis!

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