Keine Atempause – Geschichte wird gemacht. Es geht voran, aber wohin?

Rede von Peter Grohmann, Kabarettist, Autor und Gründer der ‚AnStifter‘, auf der 527. Montagsdemo am 31.8.2020

Wessen Stadt? Unsere Stadt!
Wessen Geld? Unser Geld!

Keine Atempause: Geschichte wird gemacht. Es geht voran.
Spacelabs fallen auf die Inseln – Vergessen macht sich breit: Es geht voran.
Städte explodieren – das Grüne ist am Arsch. Es geht voran.
21 Helden – nehmen ihren Hut. Geschichte wird gemacht Es geht voran! (Fehlfarben + PG)

Alles klar, Leute – aber wohin? Traut denen nicht, die sagen, sie wüssten es schon!

Ich grüß Euch alle, die von der Mahnwache vor allem und die Jungen von Friday for Future, die Lustigen und die Listigen und die am Rande stehen. Die mitreden werden, die zuhören wollen. Es geht voran, aber wohin? Bleibt skeptisch, was das Wohin angeht.

Wollte Euch was Wichtiges sagen: Neulich hab' ich einen Schmetterling gesehen. In echt jetzt! Ich will Euch grüßen von ihm. 1 Schmetterling. Eine Schönheit. Aber eben allein. Wie eine Botschaft, ein letzter Gruß an die Menschen in der Stadt. Und ein letzter Gruß auch von den 80 alten Bäumen auf den Fildern, die ich gesehen habe, die am Verrecken sind, braune Blätter fallen... Dürr die Äste, der nächste Wind wirft sie um. Und es sind nicht die einzigen bei uns oben. Schaut Euch um, was sich da die Natur erlaubt – und was wir uns mit ihr erlaubt haben.

Es geht voran? 1/3 aller Lebensmittel landet in der Tonne. Das große Wegschmeißen, das wir auch von Stuttgart 21 kennen. Bäume und Wiesen werden weggeschmissen wie Unkraut, wie faule Tomaten, Natur wird weggeschmissen, die Stadtgesellschaft enteignet und entmündigt. Siedlungen, alte Häuser, Genossenschaften werden weggeschmissen, auf den Müll damit! Samt Denkmalschutz, samt Naturschutz, samt Umweltschutz. Taugen die Gesetze zu wenig oder die, die die Gesetze machen?

Ich grüß Euch dennoch alle! Und ein zweiter und später Gruß gilt heute noch einmal Peter Dübbers, einem, der Jahr für Jahr, Montag für Montag unter uns war. Er war bescheiden und zurückhaltend, ruhig, zu ruhig, aber scharf und klar in der Sache und unmissverständlich in seiner Haltung. Er klagte mit unserer Hilfe gegen den die Demontage des Stuttgarter Hauptbahnhofs, dem bedeutendsten Werk seines Großvaters Paul Bonatz, das unter Denkmalschutz steht... halt, halt – bedingt!

Denn die Stuttgarter Bürgerinnen und Bürger haben ja, wenn man Auguren glauben darf, bejubelt und beschlossen, was da in der Stadt vor die Hunde geht – sagt man uns. Der Park und die Bäume und die Wiesen und das Planetarium und die Gebäude in der Neckarstraße und die Luft und der Denkmalschutz und das Geld – und das Vertrauen: Alles abgesegnet mit Mehrheit, sagt man uns.

Peter Dübbers und meine Omi Glimbzsch in Zittau hätten gewusst, dass ein Augur ein römischer Beamter war, der zu ergründen hatte, ob ein vom Staat oder von einem Familienoberhaupt geplantes Unternehmen den Göttern genehm sei – oder eben nicht. Aber bei uns schickt man die Auguren zum Müllsammeln oder zum Verfassungsschutz, und wenn das nicht hilft, blendet man sie wie im Mittelalter mit Milaneos und Gerbern. Manche waren aber bereits vorher mit Blindheit geschlagen oder kurzsichtig – Fielmann kannten sie nicht. Was Peter Dübbers angeht, der wusste natürlich: der Großteil des Denkmals ist zerstört, verstümmelt, zertrampelt von Dummheit, Profitgier und Fehlplanung.

Jetzt kann man weit unter Preis Graffiti-Künstler für dumm verkaufen, wenn sie sich unterirdisch an der PR für ein heruntergekommenes Projekt beteiligen.

Schau mir in die Augen, Kleines, würde Humphrey Bogart sagen und so feststellen, wer mehr schwindelt: Die Grünen oder die Schwarzen oder die Roten. Oder dass sie alle die Wahrheit sagen, natürlich immer die eigene, und keiner glaubt's. Drum prüfe, wer sich ewig bindet ...

Donald Trump beispielsweise glaubt eher an Geister als an den Virus. Und er ist auch überzeugt, dass der Klimawandel direktemang vom lieben Gott kommt, Meer für Meer, Meter für Meter, Gletscher um Gletscher, Baum für Baum, Biene für Biene. Donald Trump hält nix vom Klimawandel durch den Menschen. Er hält auch nicht viel von Bienen oder Eisbären und Eismeeren oder Mexikanern. Neulich hat er sich angesteckt, als er die Unterkünfte der Arbeiter der Stuttgart-21-Baustelle besuchte – Corona. Abstand nicht eingehalten, genau wie die Gewerbeaufsicht.

Nur wer nähertritt, merkt, dass die Miste stinkt. Die LINKE/SÖS hat ja eine der berühmten Anfragen gemacht, auf die die Verwaltung antworten muss. Wie die Antwort aussieht, das ist freigestellt – D + D, also dünn und dürftig, oder H + H, also halb und halb: Gefragt wurde, was die Presse längst weiß, was wir wissen, was die Öffentlichkeit weiß, schwarz auf weiß: Wie es denn mit den Abständen auf den S21-Baustellen gehalten wird „wg. der Pandemie“, und wie genau denn die Gewerbeaufsicht hinschaut. Sehr genau, sagt die Verwaltung, aber eben ohne Brille. Abstand & Augenschein. Auf vielen Fotos von den Baustellen sieht man aber – es ist nicht weit her mit Abstand, es ist sogar nah dran am Mann. Die Kollegen ober und unter Tage hören das jetzt nicht, sie würde es bestätigen – wenn sie nicht unsicher wären, was ihre Rechte angeht, ihren Abstand zu den Gesetzen. Gewerbeaufsicht: Brille putzen! Vorsicht, Lebensgefahr.

Und Donald Trump? Donald hat aber einen Trostpreis für uns: Wenn wir nicht brav sind, sagt er, wir in Deutschland, werden das Eucom und das Africom in Vaihingen geschlossen. Wir freuen uns!

Beim Thema Gewerbeaufsicht, Baustellen und Mahnwache fällt mir ein, dass 100 Meter weiter – praktisch grad über d‘Straß nüber – mit herausgeschmissenem Geld geschafft wird: 15 Hauptamtliche müssen mit einem Millionenetat ein verkorkstes Projekt mit 1000 Infolücken, Halb- und Vollwahrheiten bewerben, bezwitschern, beschlafen. Ja, wäre da nicht ein Gegenpol, ein Korrektiv, das dafür sorgt, dass kritische Informationen über S21 nicht in den Versenkungen des Nesenbachs verschwinden und neckarabwärts fließen ....

Aber ich wollte noch auf was anderes heraus, wollt sagen: Jede Demonstration ist ein guter Tag für die Republik, jede Wortmeldung, jeder Widerspruch, jede Stimme bei Wahlen: Und dazu gehören auch die unangenehmen Stimmen. Gern wird vergessen, dass immer noch alle Deutschen das Recht haben, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffeln zu versammeln – was aber die wenigsten machen. Und wenn, dann tun sie‘s eher selten und oft ungern. Leicht bekifft schlendern sie die Königstraße auf und ab, eine Straße, die kurz oder lang zum Bordell für Billigwaren und Ramsch wird, machen einen Abstecher ins Milaneo oder zum Gerber oder ins Dorotheenquartier. Die große Frage: Was geht zuerst pleite? Wetten werden an der Mahnwache angenommen.

Und was die wirklich interessanten Demonstrationen angeht: Schaut auf diese Stadt, schaut auf Minsk. In Minsk versammeln sich täglich und Woche um Woche und voller Enthusiasmus die Freunde der Republik, um ihren Diktator zum Teufel zu jagen. Sie tun das gewaltfrei, aber nicht ohne Gefahr für Leib und Leben. Und immer wieder schnappt sich die Polizei ein paar von denen, um sie „zum Verhör“ zu bringen. Viele werden gefoltert – die Abschreckung funktioniert aber nicht. Wir grüßen von hier aus – demonstrationserfahren – die Menschen in Minsk und 100 anderen Städten in Belarus, die Jungen und Alten und Schwarzen und Weißen in den USA, wo auch immer, die für die Menschenrechte kämpfen, für Gleichheit, Geschwisterlichkeit, Solidarität. Beim Blick auf Minsk, auf Madagaskar, Hongkong oder Kenosha, auf Brasilien, wird einem klar, was wir zu verteidigen haben.

Florian Harms, ein Freund aus Stuttgart und jetzt bei t-online, schreibt: „Stellen Sie sich vor: Sie treten vors Haus, und ein Nachbar hat zufällig gerade die Polizei gerufen. Ab diesem Moment schweben Sie in Lebensgefahr. Ein falscher Tritt, eine unglückliche Handbewegung, ein abruptes Umdrehen genügt – schon strecken Polizeikugeln Sie nieder. Vielleicht wären Sie besser nicht aus dem Haus gegangen, aber nun ist es zu spät, und entgehen können Sie der Gefahr sowieso nicht. Jederzeit, überall, jeden kann sie treffen. Eine absurde Vorstellung für Sie? Natürlich, Sie erfüllen die Voraussetzungen nicht. Sie leben ja nicht als Afroamerikaner in den USA“, schreibt Florian Harms am 31.8.2020 eben auf t-online.

Aber nun frag' ich Euch und mich: Und was schulden wir heut' gemeinsam und einzeln der Mutter Erde? Wie sie werden könnte, diese Erde, davon haben sie geträumt: Nelly Sachs, die heute Geburtstag hätte, der unorthodoxe Flüchtling Fritz Lamm, dem 1940, vor 80 Jahren, die Flucht von Stettin ins Ausland gelang und der nicht Rabbi werden konnte, aber Betriebsrat und Querdenker – echter Querdenker! Wie Eugen Eberle. Oder Georg Herwegh, Sohn unserer Stadt, Lilo Hermann, August Thalheimer, Susanne Leonhardt, Fritz Bauer und die vielen...

Hier sind sie, unsere Wurzeln. Grabt, wo Ihr steht!

Doch die Träume nicht vergessen! Sie müssen ausreichen über die kalten Nächte. Die Kunst der kleinen Schritte soll gelernt sein, praktische Solidarität mit den Deserteuren von heute, Brot und eine Decke für die Zeit. Brot für die Hungrigen, eine Decke für die, die frieren. Die Nächte werden wieder kälter. Und neben dem selbstfahrenden Auto den selbstdenkenden Menschen, klug und heiter im Widerstand gegen den Zeitgeist der Ewiggestrigen – und ganz im Geiste Albert Einsteins: „Ein kluger Kopf passt unter keinen Stahlhelm“.

Gegen die Arroganz der Mächtigen setzen wir auf Eigensinn und Fantasie. Wir brauchen im Lande von Freiligrath und Christian Friedrich Daniel Schubart, von Schiller, Hecker und Hegel eine höhere Sehschärfe für den großen Ruck nach rechts. Wir brauchen den scharfen Blick für die neuen Koalitionen, die die sogenannte Mitte mit dem rechten Rand eingeht, eben jetzt in diesen Tagen. Wir brauchen den scharfen Blick kritischer Menschen. Menschen, die dazu anstiften und Menschen, die sich anstiften lassen. Stärken Sie uns den Rücken – damit wir weltoffen, selbstkritisch, unabhängig – und oben – bleiben!

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