Wo Stuttgart mal Großstadt war

Rede von Joe Bauer, Stadtflaneur und Journalist, auf der Abschlusskundgebung der 541. Montagsdemo vor dem METROPOL-Kino am 7.12.2020

Guten Abend, liebe Neugierige,

beginnen wir zum Abschluss dieser Montagsdemo gegen Stuttgart 21 ausnahmsweise mal – mit dem Bahnhof. Hier, auf dem Gelände des heutigen Metropol-Gebäudes, hat am 12. September 1846 König Wilhelm I. den Stuttgarter Centralbahnhof eröffnet. Der Monarch feierte an diesem Tag seinen 65. Geburtstag. Architekt war Baurat Karl von Etzel, ein Jahr zuvor war die erste Bahnstrecke von Cannstatt nach Untertürkheim eingeweiht worden. Zunächst gab es in Stuttgarts erstem Bahnhof vier Gleise, in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts kamen vier weitere hinzu, damit war diese architektonisch relativ unauffällige Station auf dem Stand von Stuttgart 21.

Damals boomt bereits das Eisenbahngeschäft, und einem berühmten Schriftsteller und sozialistischen Revolutionär wird diese Hektik zum Verhängnis: Der Freidenker, Weltbürger und frühe Hippie Albert Dulk stirbt am 29. Oktober 1884 mit 65 Jahren an Herzversagen auf diesem Bahnhof. Der Trauerzug durch Stuttgart am 2. November wird mit geschätzten 5.000 bis 10.000 Teilnehmern zur größten Massendemonstration in den Jahren von Bismarcks Sozialistengesetzen.

Die letzten Züge fahren am 22. Oktober 1922 aus dem Centralbahnhof, da ist der neue von Paul Bonatz schon weitgehend fertiggestellt. Der alte wird in den Zwanzigern abgerissen, ein Torfragment wird in die Weilimdorfer Stadtmauer eingebaut, ein anderer Torbereich in das Gebäude der heutigen Bolzstraße 8 integriert. Von 1926 an befindet sich auf diesem Gelände der Ufa-Palast, ein mondänes Lichtspielhaus. Bis Ende 1945 heißt die Straße hier Schloßstraße, dann wird dieser Abschnitt dem von den Nazis ermordeten Politiker und Widerstandskämpfer Eugen Bolz gewidmet.

Die Bomben der Alliierten haben vom Ufa-Palast wenig übriggelassen. Nach der Währungsreform 1948 beginnt der Wiederaufbau, den die städtische Industriehof AG als Besitzerin bezahlt, das Pächterpaar Martha und Philipp Metzler aus der Optikerbranche übernimmt die Innenausstattung.

Die hohen Investitionen gelten seinerzeit als höchst unmoralisch, weil Stuttgart dringend Wohnungen braucht – so wie heute auch ohne militärischen Krieg. Der Brillenfabrikant Metzler setzt allerdings auf das richtige Pferd. Das Verlangen nach Unterhaltung, Vergnügen und neuen Gemeinschaftserlebnissen ist groß. 1949 wird das das Metropol mit einem prunkvollen Theatersaal für 1300 Gäste eröffnet und in der Folgezeit regelrecht gestürmt. Es gibt abwechslungsweise Kino- und Varieté-Vorführungen in diesem Saal, einer der Bühnenstars ist neben internationalen Entertainment-Größen der Zauberer und Illusionist Kalanag.

Kombinierte Kinos waren damals nicht ungewöhnlich: In der unteren Königstraße zum Beispiel gab es das große Kino Universum, wo 1962 der erste Karl-May-Film, „Der Schatz im Silbersee“, Weltpremiere hatte. Zu den Stargästen zählte Winnetou-Darsteller Pierre Brice, seine weiblichen Fans zerbeulten bei der Gala kreischend seine Limousine. Im Universum hatten schon in den fünfziger Jahren Jazz-Konzerte mit US-amerikanischen Stars wie Louis Armstrong und Miles Davis stattgefunden.

1953 gab es in der Stadt 36 Lichtspielhäuser. Die Stuttgarterinnen und Stuttgarter gingen im Durchschnitt mehr als 15 Mal pro Jahr in Kino. Heute sind es nur noch etwa ein Drittel so viele.

Die große Zeit des Entertainment-Booms im Metropol endet 1966, das Fernsehen hat an Bedeutung gewonnen. Aus der zweigleisigen Unterhaltungsbühne wird das Palast-Kino der Familie Mertz, im Jahr 2000 werden die Lichtspieltheater in diesem Haus neu gestaltet und in Erinnerung an die großen Tage der Stuttgarter Showbühne in Metropol umgetauft.

Dieses ganze Stuttgarter Kapitel rund ums Metropol wird noch interessanter, wenn man weiß, dass in der früheren Schloßstraße bis in den Zweiten Weltkrieg hinein das Hotel Marquardt geöffnet war. Dieses Haus, das allen internationalen Anforderungen auf höchstem Niveau gerecht wurde, war unter Reisenden so berühmt, dass noch zwanzig Jahre nach seiner Schließung schriftliche Buchungsanfragen aus den USA und Australien eintrafen.

Die Außenmauern des Marquardt-Baus hatten den Bomben der Alliierten widerstanden, die Häuserzeile wurde nach dem Krieg neu aufgebaut und von der Stuttgarter Familie Mertz mit Kinos ausgestattet.

Zu diesem Ort habe ich ein spezielles Verhältnis, und eigentlich bin ich deshalb heute hier. Als ich 2001 eine Benefiz-Showreihe unter dem Titel „Die Nacht der Lieder“ startete, konnte ich mir einen kleinen Traum von einem wirklichen Stück Stadt erfüllen: Ich durfte die Vorstellung in einer für Stuttgarter Verhältnisse durchaus urbanen Kulisse durchzuziehen, im historischen Metropol. Entsprechend war das Programm: ein Mix aus unterschiedlichsten, kontroversen Musikstilen. Nach drei Vorstellungen mussten wir wegen des großen Publikumsandrangs 2004 ins Schauspielhaus der Staatstheater und später ins Theaterhaus umziehen. Für den 8. und 9. Dezember dieses Jahres war die 20. Show geplant. Das Jubiläum fällt aus wegen Pandemie.

Da ich also meine Nase schon früh in den ehemaligen Centralbahnhof und den angrenzenden Marquardt-Bau gesteckt hatte, wuchs mit der Zeit meine Neugier auf das Leben in der ehemaligen Schloßstraße. 2011 begegnete mir ein Mann, der von 1939 bis zum Ende des Hotels 1940 als Kellnerlehrling im Marquardt gearbeitet hatte. Er war 88 Jahre alt und hatte einiges über die mondäne Herberge zu erzählen, von Menschen im Hotel, von Superstars wie Hans Albers und Max Schmeling. Der Box-Weltmeister wohnt im Sommer 1939 im Marquardt, als sein Kampf gegen Adolf Heuser vor sagenhaften 80.000 Zuschauern in der Adolf-Hitler-Kampfbahn stattfindet. Die Fans haben von diesem Kampf weniger als von einer 5-Minuten-Terrine: Schmeling schlägt seinen Gegner nach 72 Sekunden k. o.

Das legendäre Marquardt. 1838 eröffnet der Gasthofbesitzer Wilhelm Marquardt in der Königstraße ein Hotel. Als ein Jahrzehnt später das Eisenbahngeschäft an Fahrt aufnimmt, baut er neben dem Bahnhof eine neue Herberge erster Klasse. 1857 wird sie eingeweiht. Hier wohnen Leute wie Franz Liszt und Otto von Bismarck.1860 gibt Franz Liszt ein Konzert im Marquardt-Festsaal, wo heute die Komödie im Marquardt ist.

Auch ein Musikus namens Richard Wagner steigt regelmäßig in dem edlen Hotel ab, kann aber nur selten seine Rechnung bezahlen. Im Jahr 1864 schickt König Ludwig II. von Bayern einen Boten los, der seinen Lieblingskomponisten suchen soll. Die Spur führt ins Marquardt. Wagner ist völlig abgebrannt, wird von Gläubigern verfolgt. Der königliche Bote begleicht die Hotelkosten, bevor er das Genie nach München zum Märchenkönig bringen kann.

Es gibt zahlreiche roman- und filmreife Kapitel rund um das Metropol-Gebäude. Als im März 1920 die Berliner Reichsregierung beim Kapp-Putsch vor rechtsextremen Freikorps mit Hakenkreuzen an den Helmen aus Berlin über Dresden nach Stuttgart flüchtet, wohnt ein Teil der Politiker im Marquardt. Reichspräsident Friedrich Ebert logiert, sozialdemokratisch korrekt, auf Sichtweite im Alten Schloss.

Vor allem in den zwanziger Jahren ist in Stuttgart viel in Bewegung. Nach dem Ersten Weltkrieg ist die Stadt jung und fortschrittlich. Im Marquardt steigen Maler und Schriftsteller ab, auch Ganoven und Hochstapler, Die sogenannten Roaring Twenties sind eine internationale, buchstäblich spannende Epoche für Stuttgart – politisch und kulturell.

Ich denke, es gibt kein Haus in der Stadt, das so viel über eine relativ weltläufige Stuttgarter Ära zu erzählen hat wie das Metropol. Die Lichter der Großstadt aber drangen nie ins Bewusstsein der Provinzpolitiker. Ohne Gespür für seine kulturelle Dimension wurde das Gebäude von einem zum anderen Besitzer durchgereicht, die Ausführungen von Goggo Gensch haben uns ja bereits bestens aufgeklärt.

Wenn der neue Stuttgarter Oberbürgermeister heute kurz nach der Wahl mit seinem Backnanger Blick auf die Welt etwas von einer dringend notwendigen Image-Kampagne faselt, möchte man ihm sagen: Eine Stadt wird interessant, beachtenswert und womöglich sogar liebenswert aufgrund ihrer Geschichte und ihrer Geschichten, die sie zu erzählen hat. Es sind Geschichten, die uns die Zusammenhänge von Vergangenheit und Gegenwart vor Augen führen. Wenn wir erfahren und begreifen, was wir mit den Menschen zu tun haben, die vor uns da waren.

Wo wir im Moment stehen, liebe Protestgesellschaft, strahlt Stuttgart eine gute Energie aus: Die Stadt wird angesichts der historischen Metropol-Kulisse und deren Umgebung lebendiger und aufregender, als sie irgendwelche Werbe- und Marketingleuchten jemals aufbrezeln können.

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