Jahresrückblick

Rede von Peter Grohmann, Kabarettist, Autor und AnStifter, auf der 544. Montagsdemo[1] am 28.12.2020

Herr Präsident,
lieber Frank Walter,
meine Damen und Herren Geschworenen,
liebe Türken,
verehrte Gemeindeglieder,

in einer Zeit, und ich sage das nicht ohne Stolz.
Gerade Sie, aber auch alle anderen!
Und wer von Ihnen, liebe Angehörige,
wüsste nicht längst!
Aber eben gerade deshalb.
Manche der Probleme, aber auch viele Fragen –
ich sage das ganz offen und frei.
Auch deshalb, weil ein offene Wort, eine offenes Ohr,
mitunter auch ein gebrochenes Herz.

Liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Automobilsektor,
aus Banken und Versicherungen,
die Bundesregierung ebenso wie die Landesregierung,
der Stuttgart Gemeinderat,
Breuninger, das Gerber
und das Rotlicht-Milieu der SPD.

Darüber freue ich mich.
Ja, ich appelliere an Sie, auch die Männer,
Ich fordere Sie auf, mit Nachdruck.
Und auch in den kommenden Jahren.

Ich bitte Sie.
Ich danke Ihnen.

Aha, und das nennt sich dann Jahresrückblick?

Moment, es kommt noch besser, denn ich kenne Sie doch, Sie laufen mir ja jeden Montag über den Weg, und ich Ihnen. Und das ist gut so, das ist gut so seit mehr als 10 Jahren.

Ich bilde mir nicht ein, dass wir – wir im Widerstand gegen ein widersinniges Projekt – den Stein der Weisen gefunden haben, ich bilde mir nicht ein, dass wir immer und in allem Recht hatten. Aber ich bilde mir ein, dass wir 1 + 1 zusammenzählen können, und ich weiß, dass wir die Milchmädchenrechnungen schon im ersten Jahr ihrer Präsentation durchschaut haben.

Mein Damen, meine Herren, schon vor 7 Jahren hatte unser Freund Professor Roland Ostertag – jetzt im Himmel und Gott hab ihn selig – eine sehr exakt kalkulierte Kostenrechnung aufgestellt: Da war von den 21 rechnenden Hampelmännern noch zu hören, das Projekt S21 würde nicht teurer als 2,6 Milliarden. Dafür legten sie ihre Hände ins Feuer.

Aber aus den 2,6 wurden schnell 3,6 – da hatte mancher sich schon die Finger verbrannt, und dann 4,2 und dann 5,6 – und da war's dann die ganze Hand. Halt! Nicht genug damit – es wurden dann 6,5 und dann 8 Milliarden. Die jeweiligen Kostensteigerungen wurden Zug um Zug und mehr als widerwillig eingeräumt – aber sie blieben ein Schwindel.

Zurück zu Roland Ostertag: Der Architekt und Stadtplaner kam nämlich bereits vor sieben Jahren auf 16 Milliarden Euro, alles in allem. Die Zahlen wurden öffentlich präsentiert, jeder der wollte, konnte nachfragen, nachprüfen, nachrechnen. Aber husch husch – da waren alle Befürworter in ihren Mauselöchern verschwunden.

16 Milliarden. Wetten?

In diesem Jahr haben wir ja sehen können, mit wieviel Wenn und Aber die Offiziellen Stufe um Stufe die Kostenleiter hochsteigen mussten: Die hat noch viele Stufen. 16 Milliarden vor sieben Jahren – das sollte sich eine nahezu bankrotte Bahn mal hinter die Ohren schreiben. Und da reden die Altvorderen von vorgestern immer noch von einem Kostendeckel und beklagen sich demnächst gegenseitig vor Gericht, wer was zahlen muss. Wir, so oder so.

Egal? Nein, denn für den Haushalt der Stadt Stuttgart könnte das von heute auf morgen über eine Milliarde an Mehrkosten bedeuten, wenn ein Gericht im Streit der Projektpartner die Stadt zu einer Mithaftung für ungedeckte Kosten verurteilen würde. Die Planer von S21, darunter gar der „Vater von S21“ Prof. Gerhard Heimerl, haben dieses Jahr öffentlich eingestanden, dass das nicht vor Dezember 2025 fertig werden sollende „Erste Stuttgart 21“ wegen des zwischenzeitlich von der Bundesregierung eingeforderten Deutschlandtakts noch der Neuplanung und des Baus eines sozusagen „Zweiten Stuttgarts 21“ bedarf, um nach weiteren 10 Jahren und weiteren mindestens 5 Milliarden Euro für zusätzliche 45 km Tunnelneubauten und einen kapazitätssteigernden unterirdischen Ergänzungs-Kopfbahnhof irgendwann in den 40er Jahren dieses Jahrhunderts auf annähernd dieselbe Leistung des heutigen in Betrieb befindlichen oberirdischen Kopfbahnhofs zu kommen, der all das schon seit 100 Jahren kann. Das können wir beweisen.

Wessen Stadt? Unsere Stadt!

Liebe Bürgerinnen und Bürger, willkommen bei der virtuellen Montagsdemo, allemal ein Ankerzentrum der Demokratie. Wir haben in diesem Jahr weniger gesehen als sonst, wir waren weniger unterwegs als all die Jahre vorher, mehr der Not gehorchend als dem eignen Triebe, und doch sind unsere Fragen und Forderungen, unsere Erfahrungen und Erkenntnisse mehr geworden.

Wir blicken fast irritiert auf eine Welt, die plötzlich in der Lage ist, Millionen, Milliarden, Billionen, Trillionen Euros und Dollars und Rubel und Renminbis locker zu machen, über Nacht, mit und ohne Nebel, mit und ohne Parlament, weil ihr der Arsch auf Grundeis geht vor lauter Corona. Diese Welt der Herrschenden ist offenbar nicht in der Lage, 5000 Menschen aus der Scheiße von Lesbos zu holen, sie ist nicht in der Lage, hilflos im Mittelmeer treibende Menschen aufzufischen, sie ist nicht in der Lage, der Folter und dem Krieg und der Verfolgung und dem Terror und dem Hunger und dem Elend auf der Erde Einhalt zu gebieten, aber sie kann, wenn‘s ans Eingemachte geht, an die eigene Sicherheit und Gesundheit, ans Leben, nahezu alles möglich machen.

Und, Verzeihung, wenn wir dann in diesem Kontext fragen: Das mehr als fragwürdige Projekt Stuttgart 21, das seinen Namen nicht wert ist, das die Umwelt schädigt, die Natur kaputt macht, seine Vorgaben nicht einhalten kann, das einer Bahn von übermorgen im Wege steht – dieser Projekt wollt ihr nicht beenden, weil sich irgendwo irgendwas nicht rechnet?

Ihr das oben wollt es nicht beenden, obwohl viele von Euch längst eingesehen haben, dass ihr Mist gebaut habt und Fehler gemacht habt, dass ihr Euch verrechnet habt?

Aber was geschieht eigentlich mit einer Gesellschaft, die keine Zukunft will, die sich sperrt gegen jeden Umstieg, gegen Erkenntnis und Wissenschaft, gegen Praxis und Erfahrung? Was geschieht mit einer Stadt, die an alternativen Fakten hängt wie der Querdenker an der Grippe oder wie eine überreife Mostbirne im Garten der Villa Reitzenstein? Das Festkrallen an der Gegenwart, an angeblich unumkehrbaren Beschlüssen, am Augen-zu-und-durch-Prinzip?

Schläft unsere Gesellschaft?

Schlummert sie im Glauben: „Das kann nie passieren“? Es kann alles passieren. Und ganz unter uns: es wird noch viel mehr passieren. Wir sehen das jeden Tag mit eigenen Augen. Das gilt auch für die Umwälzungen weltweit. Das gilt für das Mutterland der Demokratie, die USA, wo 80 Millionen Wähler zurück ins Mittelalter marschieren, an den lieben Gott der Evangelikalen und seinen Mann auf Erden – Donald Trump – glauben. Das gilt für die Autobauer, die schon vorgestern den Zug der Zeit verpasst haben, das gilt für die Bahn und ihre Verantwortlichen, dass gilt für viele in vielen Koalitionen, die nicht fähig waren, rechtzeitig das Maul aufzumachen, denn: Stuttgart 21 ist ein Auslaufmodell der Wachstumsgesellschaft.

Wachstum basiert auf Ausbeutung von Menschen und Natur und ist das weltweit verkaufte Geschäftsmodell der westlichen Gesellschaften, übernommen von Russland über China, von Afrika über Lateinamerika. Wachstum ist ein bankrottes Modell.

Zum Überleben gegen Fährnisse aller Art brauchen unsere Demokratien nicht mehr und mehr und mehr angeblichen Wohlstand, sondern eine gemeinsame Hoffnung: Die Hoffnung, dass die Menschen zur Einsicht kommen. Die Hoffnung, dass die Städte nicht im Chaos versinken, die Hoffnung, dass es schön ist, auf der Welt zu sein – schöner auch für die Alten und Armen, für die Kinder, für alle Menschen in unserer Stadt.

Machen wir uns nichts vor: Für die lebenswerte Zukunft hängt alles davon ab, dass genügend Menschen einen radikalen Wandel wollen – rechtzeitig genug. Der ist Voraussetzung für die moderne Stadt von Morgen. Das ist Hoffnung, und daher rührt auch unsere Ausdauer, eine Ausdauer, für die wir uns am Ende des Jahres durchaus auf die Schultern klopfen können:

Oben bleiben!

Das ist unsere Antwort an die Pessimisten und Querulanten, das ist unser Motto für die Demokratie, für den Protest, für eine lebendige und widerspenstige Zivilgesellschaft: Oben bleiben! Eine auf Effizienz und Profit getrimmte Gesellschaft, die im Wachstumswahn alles verwertet, hat keine Zukunft. Schaut Euch unsere Städte und Landschaften doch an: Verdinglicht, entleert, entzaubert, ort- und bilderlos. Deshalb sind wir auch im nächsten Jahr auf den Beinen: Damit die Stadt Lebensraum und Zuhause und internationale Heimat wird, mit bezahlbarem Wohnraum, Kindergärten und Parks, besserem öffentlichen Nahverkehr, mit dem Anschluss an die Welt.

Danke an alle!

Und ein virtuelles Feuerwerk der Vernunft fürs Neues Jahr!

[1] ab 21.12.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, wieder online:
https://www.parkschuetzer.de/videos/

Rede von Peter Grohmann als pdf-Datei

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.