Plädoyer für eine zukunftstaugliche Demokratie

Rede von Sarah Händel, Mehr Demokratie e.V., auf der 546. Montagsdemo[1] am 11.1.2021

Ich glaube, wir können alle noch nicht so richtig fassen, was da gerade in den USA passiert ist: ein Sturm aufs Capitol, das Herz der amerikanischen Demokratie, maßgeblich ermuntert und auch währenddessen gutgeheißen durch den amtierenden Präsidenten Donald Trump. Die Wahrnehmung darüber, was es bedeutet, die Demokratie zu schützen, könnte weiter auseinander nicht gehen. Postulieren die radikalisierten Trumpsupporter doch in den sozialen Medien, dass es ihre Pflicht sei, einen Umsturz anzuzetteln, um die amerikanische Demokratie zu schützen und sie so den Klauen einer linksliberalen Elite zu entziehen, die sie zugrunde richtet.

Wer darüber mehr lesen will, dem sei der hochinteressante Artikel aus der Zeit empfohlen: „Der Konservative als Revolutionär“ (https://www.zeit.de/kultur/2021-01/ausschreitungen-us-kapitol-revolution-michael-anton-the-flight-93-election).

Die Spaltung der Gesellschaft, wie sie hier offenbar wird, nimmt unvorstellbare Ausmaße an, und die Hoffnung ist klein, dass der neue Präsident Biden die Gesellschaft wieder miteinander versöhnen kann. Sicher kann er vieles von dem Öl, das Trump durch seine Politik ins Feuer gegossen hat, wieder zurücknehmen und Maßnahmen beschließen, die zum Beispiel an der hochproblematischen sozialen Ungleichheit ansetzen; doch auch er wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht die Herausforderung angehen, bei der es den größten Nachholbedarf gibt: bei den Strukturen der Demokratie selbst.

Nicht nur in den USA, auch in vielen anderen westlichen Demokratien liegt einiges im Argen. Und angesichts ihrer Performance erscheint vielen ein Modell China nicht mehr so attraktiv wie lange Zeit zuvor. Seit dem Sieg der kapitalistischen Demokratien über die kommunistischen Diktaturen schien es so, als würde sich alle Welt auf ein klares Ziel hin entwickeln wollen. Es wurde sogar das Ende der Geschichte ausgerufen (Francis Fukuyama), so überzeugend erschien das Modell der kapitalistischen Demokratie. Doch angesichts der rasanten Fahrt in Richtung Endlichkeit der Ressourcen, hinein in einen massiv bedrohlichen Klimawandel und eine steigende Ungleichheit bei der Vermögensverteilung, die die Hoffnung auf ein gutes Leben bei vielen schwinden lässt, scheinen viele Demokratien keine allzu positiven Beispiele mehr zu sein.

Doch meiner Meinung nach begehen wir einen Fehler, wenn wir das so sehen. Eine solche Sichtweise betrachtet die Demokratie als etwas Starres und Festes, als gäbe es die eine Modell-Demokratie, die zunehmend zum Scheitern verurteilt ist. Aber es ist auch kein Wunder, dass wir die Demokratie so betrachten, denn in der Tat ist es in vielen Ländern genau das der Fall: seit vielen vielen Jahren, wenn nicht Jahrhunderten, läuft Demokratie so gut wie gleich ab.

Wir Menschen neigen dazu, die Funktionsweise der Demokratie als etwas Gottgegebenes anzusehen und nicht als etwas Menschengemachtes, das wir auch jederzeit wieder verändern und entwickeln können. Vieles von dem Frust, den auch wir in unserer Demokratie erleben, liegt nur zum Teil an den oft sehr schwerwiegenden Herausforderungen, sondern auch an der Art und Weise, wie wir versuchen, diese Herausforderungen anzugehen. Um mal ein Bild heranzuziehen: Mir scheint es mehr und mehr, als würden wir versuchen, mit einem stumpfen Messer Brot zu schneiden, und dann ärgern wir uns über das zerstörte Brot, anstatt auf die Idee zu kommen, das Messer zu schärfen!

Gerade erst wieder war ich so frustriert über die Art und Weise, wie wir unsere Demokratie leben, dass ich mehrere Wochen gebraucht habe, um das einigermaßen zu verdauen. Ich spreche von der Oberbürgermeisterwahl in Stuttgart. Alle 8 Jahre haben wir Bürger*innen das Recht, ein Stadtoberhaupt zu wählen, das den Ton und die Themen unserer Debatten setzen soll. Und da fängt es eigentlich schon an, denn nur alle 8 Jahre wählen zu dürfen, ist an sich schon eine demokratische Absurdität – aber gut. Alle sparsame 8 Jahre haben wir als Wählerinnen und Wähler diesen kleinen aber entscheidenden Auftritt auf der demokratischen Bühne und was passiert? Vor unseren ungläubigen Augen verwandelte sich der Wahlakt scheinbar in eine Farce, in der erst die Hauptdarsteller und ihre Anhänger gegeneinander ausspielt wurden, und der dann in einem Schlussakt eskalierte, den eine Mehrheit der Beteiligten so nie gewollt hatte.

Seitdem: betroffene Stille, Resignation, innere Abkehr. Wer war schuld? Schreier, Rockenbauch oder doch Kienzle? Kaum jemand spricht über den wahren Bösewicht. Verantwortlich für den Frust und das Gegeneinander weitab von den Inhalten war das Wahlsystem und damit die Strukturen der Demokratie selbst. Doch weil wir alle zu sehr damit beschäftigt waren, uns am politischen Gegner abzuarbeiten, Schuldzuweisungen zu verbreiten und uns auf Twitter und Co. digital ins Ohr zu schreien, hat über das Wahlrecht kaum jemand gesprochen, auch nicht danach, als klar war, dass Stuttgart einen Nopper als Oberbürgermeister bekommt, obwohl das gegnerische Lager mehr Stimmen auf sich vereinen konnte.

Und ich will das jetzt noch mal in aller Deutlichkeit festhalten: Wir leben mit einem dysfunktionalen Wahlsystem, das ein übersimplifiziertes Verständnis von Mehrheit hat und deswegen der immer komplexer werdenden Meinungs-Gemengelage in unserer Gesellschaft nicht gerecht werden kann. Dieses System produziert ein Ergebnis, das die Mehrheit der Wählenden nicht gewollt hat, und macht jemanden 8 Jahre lang zu einem wichtigen Entscheidungsträger und Verhaltensvorbild mit potenziell hoher Steuerungskraft für die Entwicklung unserer Landeshauptstadt und fast keiner – weder die Politik selbst, Interessensgruppen, Bürgerbewegungen, noch Medien – kritisiert dieses System?

Da musste ich wirklich schlucken. Es scheint fast so, als würden alle glauben, dass es keine Alternativen gibt, dabei sind wir sogar das einzige Bundesland, das dieses Wahlsystem für Bürgermeister praktiziert. Anstatt jetzt aber einfach das nächstschlechteste System von unseren Nachbarn zu kopieren, wäre jetzt der richtige Moment, ein innovatives Wahlsystem zu diskutieren, das unseren demokratischen Ansprüchen Rechnung trägt.

Also lasst uns mal konkret werden!

Für die OB-Wahl wäre zum Beispiel eine sogenannte integrierte Stichwahl oder auch Präferenzwahl genannt. Bei so einem System nummerieren die Wählenden einfach alle Kandidaten auf dem Stimmzettel anhand ihrer persönlichen Präferenzen durch. Um es einfach zu machen, nehmen wir jetzt als Beispiel die vier Kandidaten, die beim ersten Wahlgang die meisten Stimmen hatten: Nopper, Kienzle, Schreier und Rockenbauch. Ich kann also potenziell vier Stimmen vergeben – immer so viele, wie es Kandidaten gibt – muss aber nicht alle vergeben, wenn ich das nicht möchte.

Jetzt machen wir ein fiktives Beispiel: Wenn ich aus dem „ökosozialen“ Lager bin, wähle ich vielleicht so: meine Erstpräferenz geht zu Rockenbauch, er bekommt eine eins, meine Zweitpräferenz ist Kienzle, sie bekommt eine zwei und meine Drittpräferenz ist Schreier, der bekommt eine drei auf meinem Stimmzettel, das sind alle Stimmen, die ich vergeben möchte. Der Auszählmodus ist dann das entscheidende. Es klingt zwar beim ersten Mal etwas kompliziert, aber am Ende ist es ganz einfach und wird in der Praxis von einem Computersystem übernommen.

Das Prinzip, ganz simpel dargestellt, geht so: Alle Stimmen werden ausgezählt und jeder Kandidat erhält die Stimmzettel, auf denen er mit eins angegeben ist. Dann nehmen wir den Kandidaten mit den wenigsten Zetteln – er hat offensichtlich die wenigste Unterstützung – und werten die Stimmen auf den ihm zugeteilten Stimmzetteln noch einmal aus und zwar anhand der dort angegebenen Zweitstimmen.

Im Beispiel hätte Rockenbauch die wenigstens Erststimmen. Mein Stimmzettel mit der Erststimme für ihn würde also neu ausgewertet und meine Stimme würde jetzt auf den Stapel von Frau Kienzle wandern, weil ich sie als Zweitpräferenz angegeben habe. Viele andere Stimmzettel würden jetzt aber vielleicht bei Herrn Schreier landen, so dass er nach der Neuverteilung der Stimmen von Rockenbauch nun mehr Stimmen auf sich vereint als Frau Kienzle. Dann würden jetzt also wiederum die Stimmzettel von Frau Kienzle neu verteilt auf die beiden übriggebliebenen Kandidaten Nopper und Schreier. In meinen Beispiel würde dann mein Stimmzettel am Ende bei Herrn Schreier landen, der dann am Ende über 50 Prozent auf sich vereinen kann, an Herrn Nopper vorbeizieht und neuer OB wird.

Wie gesagt ist das jetzt ein fiktives Beispiel, es hätte auch herauskommen können, dass ein anderer Kandidat des ökosozialen Lagers der Konsenskandidat geworden wäre. Was man verstehen muss, ist, dass so ein Präferenzsystem – ganz wie beim systemischen Konsensieren – gleichzeitig misst, wo die meiste Zustimmung und der geringste Widerstand ist. Alle Stimmen aus einem „Lager“ häufen sich am Ende bei dem Kandidaten an, der den größten Rückhalt in der Bevölkerung hat und die wenigsten frustrierten Wähler zurücklässt.

Kandidaten aus einem Lager, definiert durch ähnliche inhaltliche Positionen, machen sich so nicht mehr gegenseitig die Stimmen streitig. Politische Kräfte müssen also nicht schon vor der Wahl Bündnisse schmieden, sondern es können so viele Kandidaten antreten wie möchten, so dass den Wählerinnen eine große Vielfalt dargeboten wird. Ich als Wählende muss nicht taktisch wählen oder „Angst“ haben, dass meine Stimme verloren geht, wenn ich meine Erststimme einem weniger aussichtsreichen Kandidaten geben möchte. Das System filtert am Ende automatisch denjenigen Kandidierenden heraus, mit der oder dem die meisten am ehesten leben können, und das alles in einem einzigen Wahlgang, was auch noch Steuergelder und Wahlkampfkosten spart! Und wie gesagt: es klingt zunächst kompliziert, doch die Wählenden müssen nichts weiter tun, als die Kandidaten durchzunummerieren in der Reihenfolge, die ihren eigenen Präferenzen entspricht.

Manche werden jetzt sagen, dass das die Menschen möglicherweise überfordert. Darauf habe ich eine ganz klare Antwort: das mag schon sein. Aber wenn wir aber in Zukunft eine Demokratie haben wollen, die differenziert und dynamisch und deswegen besser geeignet ist, komplexe Herausforderungen zu lösen, dann wird das nicht gehen ohne ein stärkeres Engagement der Bürgerinnen und Bürger für diese Demokratie. Und dann geht es nicht darum, das System so einfach wie möglich zu halten, sondern es wird ganz stark darum gehen, die Menschen einzubinden, sie mitzunehmen und natürlich sie auch zu befähigen, auf verschiedenste Art und Weise teilzuhaben an dieser neuen Demokratie.

Die Wirkungsweise eines Präferenzsystems ist auch für die nächste Landtagswahl relevant

Denn dort könnte bei der aktuellen Situation, wenn wir Pech haben, ein ähnlich verzerrendes Ergebnis zutage treten, da mit dem aktuellen Wahlsystem der Wählerwillen nicht ausreichend berücksichtigt werden kann! Die große Frage wird sein, wer die größte Fraktion stellt und damit den Ministerpräsidenten, und welche Koalitionsformationen möglich sein werden. Entscheidend dabei ist: wird die Linke es diesmal in den Landtag schaffen? Ist vielleicht auch die Klimaliste eine Kraft, die relevant sein wird? Und was ist mit den Stimmen der freien Wähler und vielleicht auch der ÖDP?

Durch eine kleine Veränderung ganz im Sinne der Präferenzwahl könnte sich das Ergebnis maßgeblich verändern: durch die Einführung einer simplen Ersatzstimme. Dadurch könnten folgende Ereignisse wahrscheinlicher werden:

  1. Die Wahrscheinlichkeit der Linken, in den Landtag zu kommen, vergrößert sich erheblich, denn alle, die die Linkspartei wählen wollen, würden das jetzt auch machen, weil niemand mehr Angst haben muss, dass er seine Stimme „vergeudet“, wenn die Linke die 5-Prozent-Hürde nicht schafft. Schafft sie sie nicht, dann zählt einfach die angegebene Ersatzstimme.

Ist die Linke im Landtag, verändert sich das gesamte Parteiengefüge und auch eine Grün-Rot-Rot-Koalition wird denkbar.

  1. Auch wenn die Linke dann trotzdem an der 5-Prozent-Hürde scheitert – wie wahrscheinlich auch die neue Klimaliste mit vielleicht 2 Prozent der Stimmen (das ist jetzt geschätzt), sind deren Stimmen nicht verloren, sondern gehen dann wahrscheinlich größtenteils über die Zweitstimme zu den Grünen. Sind Grüne und CDU sehr eng beieinander, könnten genau diese sonst „verlorenen“ Stimmen dazu beitragen, dass die Grünen die größte Fraktion bleiben und weiterhin den Ministerpräsidenten stellen anstatt die CDU.

Das sind jetzt nur Überlegungen zu potenziellen Szenarien, an denen man sich nicht im Einzelnen festbeißen sollte. Es geht einfach darum zu zeigen, wie groß die potenziellen Folgen der Einführung einer Ersatzstimme sein könnten. Und der entscheidende Punkt ist: diese veränderten Ergebnisse kämen zustande, weil ein Wahlrecht mit Ersatzstimme differenzierter widerspiegelt, wie die tatsächlichen Präferenzen in der Bevölkerung momentan sind.

Hinter dem Schleier des Nichtwissens ist vieles möglich

Wenn wir hinter dem aus der Philosophie bekannten Schleier des Nichtwissen sitzen würden und die Chance hätten, uns ganz neu zu fragen: wie soll unsere Demokratie organisiert werden? Nach welchen Regeln soll sie ablaufen? Dann würden wir uns zunächst über wünschenswerte Ziele verständigen. In den Sinn kommen:

  • ein Vielfältiges Angebot der Auswahl
  • differenziertes Erheben des Wählerwillens
  • möglichst genaue Repräsentation des Wählerwillens
  • Perspektivenvielfalt und Transparenz bei der Lösungsentwicklung
  • Chancen der Korrektur bei Fehlentwicklungen
  • Anreize für aktive und breite Teilhabe am System
  • Anreize für Kooperation im Sinne guter Sachlösungen

Und dann würden wir darüber debattieren, welche Verfahren diese Ziele am besten erreichen. Die Realität funktioniert so ziemlich nach dem Gegenteil: Machtpolitische Überlegungen der Parteien spielen die größte Rolle, und Debatten zu den Strukturen der Demokratie werden selten ergebnisoffen und noch weniger werteorientiert geführt. Wie also schaffen wir es, die Strukturen der Demokratie endlich zu verbessern und sie zukunftsfähig zu machen? Um diese so essentiellen Fragen dem Raum der Machtpolitik zu entziehen und in der Sache zu diskutieren, bieten sich Bürgerräte mit zufällig ausgewählten Bürger*innen an, die repräsentativ für die Gesamtbevölkerung zusammengesetzt werden.

Die Bürgerräte bekommen sorgfältig ausgewählten neutralen Experteninput, alle wichtigen Strömungen sind dabei repräsentiert. Lobbyinteressen finanzstarker Akteure, Deals wie in der Koalitionslogik oft notwendig oder von Eigeninteresse getriebene Parteimachtpolitik spielen hier keine Rolle, es geht um das Gemeinwohl. In Bürgerräten können wir Perspektivenvielfalt sicherstellen und durch gute Moderation dafür sorgen, dass alle Stimmen gehört werden, vor allem auch diejenigen, die sonst fast nie gehört werden. In so einem Forum, im Geiste der Kooperation und des Miteinanders, können im direkten persönlichen Gespräch innovative Vorschläge erarbeitet werden.

Wenn es um so eine große Sache wie die Reform der Demokratie geht, sind natürlich auch mehrere Bürgerräte denkbar, deren Ergebnisse von anderen Akteuren ergänzt und kommentiert, am Ende zu einer gemeinsamen großen Vorlage, auch mit Alternativwegen, zusammengefasst werden. Hier ist ein vielfältiger Prozess denkbar.

Doch das alles wäre nur der erste Schritt. Auf der gemeinschaftlich erarbeiteten Grundlage muss es eine breite und intensive öffentliche Debatte geben. Und dann gibt es eine Volksabstimmung. Eine gemeinsame Entscheidung aller über unsere neue demokratische Verfasstheit.

Das beeindruckende Beispiel Irland

So ein Vorgehen ist übrigens nicht nur ein Gedankenexperiment. Irland hat es schon zwei Mal genauso gemacht, um eine neue Regelung zu Schwangerschaftsabbrüchen und die Ehe für alle zu erreichen. Zwei heiße Themen in einem erzkatholischen Land, die die Abgeordneten selbst nicht anfassen wollten aus Angst, abgestraft zu werden. Also hat ein Bürgerrat Regelungen entworfen, die dann in zwei Volksabstimmungen mit großen Mehrheiten – jeweils mehr als 2/3 – angenommen wurden.

Auch aufgrund dieses Vorbilds hat 2019 der erste bundesweite zivilgesellschaftlich organisierte „Bürgerrat Demokratie“ mit großer Mehrheit empfohlen: direkte Demokratie mit fairen Hürden bundesweit einzuführen, in Kombination mit Verfahren der Bürgerbeteiligung.

In diesem geschützten Raum, nach intensiver Diskussion von Pro und Contra, entschieden sich die Menschen also – unter anderem – für von unten anstoßbare bundesweite Volksabstimmungen. In der Gesellschaft steigt hingegen die Angst vor direkten Abstimmungen. Wie passen sie zusammen mit dem Erstarken rechter Demagogen, Fake News, Social Media voller Bubbles und ressourcenstarken Lobbyisten?

Wie oben am Beispiel der Wahl dargestellt, hängen auch die Ergebnisse von Volksentscheiden maßgeblich davon ab, wie wir das direkdemokratische Verfahren selbst konzipieren:

  • Gibt es eine Pflicht zur Spendenoffenlegung?
  • Wie kommen wir zu guten, neutralen Abstimmungsbroschüren?
  • Können Alternativvorschläge mit zur Abstimmung gestellt werden?
  • Wird der Kompromiss im dreistufigen Verfahren gestärkt, durch enge Verzahnung mit dem Parlament?
  • Sind begleitende Maßnahmen von Medien und Presse für konstruktiven Dialog und sachliche Information in der Gesellschaft mitgedacht?

Sind Volksentscheide klug gestaltet, haben sie großes Potenzial:

  1. Die gesellschaftliche Debatte zu dynamisieren: per Volksbegehren können viel weitergehende Ideen eingebracht werden, als sie im parlamentarischen Prozess in der Regel entstehen. Gerade zu beobachten an den vielen, von Bürger*innen angestoßenen Klima- und Radentscheiden in den Kommunen.
  2. Die gesellschaftliche Debatte zu strukturieren und fokussieren: ein Thema nach dem anderen kann so kollektiv „abgearbeitet“ werden.
  3. Einen starken Anreiz für politisches Engagement zu setzen: viele Bürgerinnen und Bürger wollen nicht mehr allgemein, sehr wohl aber für konkrete Themen aktiv werden.
  4. Die Bürger*innen wieder positiv mit ihrer Demokratie zu verbinden, genau das stellt den besten Schutz gegen die Agenda und Taktiken der rechten Demagogen dar!

Direkte Demokratie als Mittel gegen Rechts?

Ja, das wird viele verwundern, denn die öffentliche Debatte ist bezüglich direkter Demokratie bestimmt von wenigen negativen Einzelbeispielen (Minarettverbot, Ausschaffungsinitiative, Brexit), denen aber eine viel größere Anzahl an progressiven Initiativen gegenüberstehen, über die niemand spricht. Allein eine Kurzauswertung der Schweiz für 2018 zeigt: Von 43 Initiativen sind nur neun eindeutig oder wahrscheinlich rechtspopulistisch, zwei davon wurden abgestimmt und mit jeweils 2/3-Mehrheit abgelehnt. Demgegenüber stehen 26 Initiativen, die sich mit progressiven Themen befassen und acht, die nicht klar einzuordnen, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht rechtspopulistisch sind.

Und ja, auch die progressiven Initiativen werden oft abgelehnt, doch das Wissen zu den Inhalten ist gewachsen und damit wird bei vielen Menschen auch ein Bewusstseinswandel erreicht, und am Ende bleibt folgender beeindruckender Wert: In der Schweiz sind 3/4 der Bürger*innen zufrieden mit dem Funktionieren ihrer Demokratie, in Deutschland sind es zwischen 25 und 50 Prozent (je nach Studie), in vielen anderen westlichen Demokratien sieht es noch schlimmer aus.[2]

Unsere Demokratie zukunftsfähig machen

Doch dies ist nicht nur ein Plädoyer, uns von den Rechten nicht die Lust auf direkte Demokratie nehmen zu lassen. Dies ist ein Plädoyer dafür, dass wir uns dringend um die Verfasstheit unserer Demokratie kümmern und sie zukunftstauglich müssen. Und das ist jetzt auch ein Apell an alle, die sich so stark für eine bessere Welt engagieren und immer frustrierter werden, weil sich so wenig bewegt: Bitte realisiert, dass wir uns dringend gemeinsam um diese Reformen kümmern und sie gemeinsam und in organisierter Form einfordern müssen. Dann haben wir auch wieder Chancen, bei den Inhalten maßgeblich voranzukommen!

Vielen Dank euch allen fürs Zuhören!

Weitere Infos zur Weiterentwicklung der Demokratie unter: www.mehr-demokratie.de

[1] ab 21.12.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, wieder online:
https://www.parkschuetzer.de/videos/

[2]    QUELLE STUDIE: Bericht des Bennett Institute for Public Policy in Cambridge. Forschende analysierten darin 3500 Umfragen von 1973 bis 2020. Link und mehr Infos im Kasten hier: https://www.higgs.ch/wir-in-der-schweiz-sind-viel-zufriedener-mit-unserer-demokratie-als-unsere-nachbarn/28591/

Rede von Sarah Händel als pdf-Datei

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3 Antworten zu Plädoyer für eine zukunftstaugliche Demokratie

  1. Richard Trevithick sagt:

    so ein ähnliches Wahlsystem wie das hier vorgeschlagene (in GB: „Alternative Vote“) wurde vor Jahren in Großbritannien in einer Volksabstimmung ABGELEHNT. Soviel dazu.

  2. Alexander Abel sagt:

    Der Vortrag von Frau Händel hat mich nicht überzeugt.

    Ich verschweige in keiner politischen Diskussion, dass ich ein gestörtes Verhältnis zur Demokratie mit und ohne „-“ habe, auf die Gefahr hin, mich Angriffen von Seiten Demokratiebewegter auszusetzen.
    Ich halte es mit mit J.W.Goethe: „Demokratie ist Unsinn, Vernunft ist nur bei Wen’gen stets
    gewesen“.
    Der beste Beweis für die Stimmigkeit dieser These ist ja wohl die Volksabstimmung über (exakt ausgedrückt) den Ausstieg von Stuttgart aus der (verfassungswidrigen) Mitfinanzierung von S-21.
    Und zwar egal, ob die Neinsager vom Nutzen eines halbierten, rechtswidrigen, „brandgefährlichen“ Schräg-Bahnhofs überzeugt sind, oder ob sie „nur“ der Lügenpropaganda der Pro’ler erlegen sind.
    Der erste Fall würde Goethe’s These bestätigen, dass es der Mehrheit an der Fähigkeit zu vernunftbestimmtem denken (+ an Sachkunde über den Abstimmungsgegenstand!) fehlt, der zweite Fall offenbarte schiere Ignoranz gegenüber der politischen Realität.
    Spätestens nach Kohl’s „blühenden Landschaften“ und Schröder’s Wahlversprechen 1998
    (habe ich aufbewahrt) müsste eigentlich der letzte apolitische Denkverweigerer erkannt haben, dass unsere „demokratischen“ Politiker lügen + betrügen, wenn sie den Mund aufmachen. –

    Dem von Frau Händel konstruierten Antagonismus von „kapitalistischer Demokratie“ und „kommunistischer Diktatur“ kann ich nicht folgen.
    Kapitalismus und Demokratie sind für sich schon Gegensätze.
    D ist keine Demokratie sondern eine Diktatur des Kapitals.
    Dogmatischer Sozialismus / Kommunismus ist die „Diktatur des Proletariats“,
    aber beides sind Diktaturen.
    Aber die geistigen Tiefflieger, die – aus welchen Gründen auch immer – für die Fortführung der Unterstützung von S-21 gestimmt haben, sind wie das Projekt selbst eine Gefahr für die Allgemeinheit und als solche nicht demokratiefähig.
    Solche Denkverweigerer brauchen eine Diktatur – aber weder des Kapitals noch des Proletariats sondern der reinen Vernuft (+ der Menschlichkeit).
    Woher nehmen und eine Revolution umgehen?
    Eine Revolution kann man nicht ohne + nicht gegen das Volk durchführen.
    Das Volk will aber keine tiefgreifenden Veränderungen, hat sogar Angst davor.
    Deshalb hat es Herrn Rockenbauch abblitzen lassen, obwohl der von revolutionären Ambitionen + Positionen noch weit entfernt ist.
    Es müsste also ein Putsch inszeniert werden – wie?
    Dem Schröder ist das gelungen, weil er die Unterstützung der Kapitalisten hatte, vielleicht sogar in deren Auftrag gehandelt hat.
    („Putsch“ für das Wirken von Schröder ist übrigens keine Formulierung von mir sondern von keinem Geringeren als Arno Luik).
    Ein Putschversuch gegen das Kapital würde in einen gewaltsamen Militär-Gegenputsch münden.
    Die Amis sitzen uns gerade hier in S verdammt eng auf der Pelle; Chile 1974 –
    schon vergessen? Aber die mit rechtsextremistischem Gedankengut verseuchte Bundeswehr könnte das auch alleine.

    Ich teile Frau Händel’s Meinung, dass unser Wahlsystem eine Fehlkonstruktion ist.
    2/3 der Stuttgarter wollten Herrn Nopper nicht als OB.
    Erschreckt hat mich das Abschneiden des neoliberalen Schreier noch vor Herrn Rockenbauch. Aber auch die Grünen sind für mich spätestens seit ihrer Mittäterschaft an
    Hartz-IV „verbrannt“.
    Die Parlamentarische „Demokratie“ ist generell eine Fehlkonstruktion.
    Ein paar Volksvertreter kann man kaufen, den grössten Teil des Volkes aber auch –
    mit Konsum + Events, mit Fussball, Volksfest, Smartphones, protzigen Autos, Billigstflügen, welch letztere Klima + Umwelt „nachhaltig“ ruinieren, was sich ausser mir niemand öffentlich zu sagen traut, noch nicht’mal Herr Rockenbauch.

    Das Wahlsystem, das Frau Händel entworfen hat, ist mir bei dem Tempo, mit dem sie ihre eigenwilligen Gedankengänge vorgetragen hat, undurchsichtig geblieben, und Schreier wollte ich so wenig haben wie Nopper.
    Mit Rockenbauch hätte ich mich vielleicht abfinden können.
    Frau Händel’s Wahlrechts-Entwurf habe ich als Mezzomix aus Parlamentarischer + Direkter Demokratie verstanden.
    Das erforderte neben einem erwachenden Demokratiebewusstsein im Volk auch eine Verfassungsänderung.
    Wer soll letztere denn beschliessen?
    Vielleicht das heraufziehende Unwetter einer CDU-Regierung unter einem Kanzler Merz?
    Wenn man den gmx-Nachrichten glauben kann, bevorzugt der Deutsche Michel Merz als Kanzler. –

    Im Gegensatz zu Frau Händel geht es mir nicht um kosmetische Korrekturen an der kapitalistischen „Demokratie“, ich will ein prinzipiell anderes System mit völlig veränderten Denkweisen – wie gesagt um Vernunftbestimmtheit, Menschlichkeit, Friedfertigkeit statt NATO.
    Dazu bedarf es aber einer Diktatur der Vernunft, die ich in der Masse der Bevölkerung
    nicht erkennen kann. –

    So Frau Händel, und nun entwirren Sie mir bitte mal diesen Gordischen Knoten.
    Der ist übrigens der Grund, warum ich mal eine Einladung zu einem Gesprächsabend Ihrer Organisation ausgeschlagen habe mit ausführlicher Begründung.
    Ich sehe keinen Ausweg aus dem Desaster, das wir uns mit unseren Kreuzchen eingebrockt haben.
    In meinen Tag- + Nachtträumen sehe ich zwar einen verwachsenen Pfad, den zu begehen man versuchen könnte, aber der ist mit diesem Volk nichts weiter als eine Illusion.
    Und wie der gewaltbereite Staat (Schwarzer Donnerstag!) darauf reagieren würde, ist schwer vorherzusagen. –

    Die von Frau Händel auch erwähnte Schweiz ist ein Riesenthema für sich.
    Ich habe umständehalber tiefere Einblicke in die Realitäten dort.
    Eine befreundete deutsche Familie lebt seit 9 Jahren in der Schweiz.
    Ich bin mit den Verhältnissen in D äusserst unzufrieden, lehne diesen Staat kompromisslos ab. Ich kann hier nicht wirklich leben, nur notdürftig überleben.
    Aber in CH könnte noch weniger zufrieden leben als in D, egal mit welcher Staatsangehörigkeit.
    aabel-s@gmx.de

  3. Plädieren für eine Demokratie, die sich als zukunftstauglich erweist; welch lobenswertes Unterfangen [1].

    Wahlen, ob auf Gemeinde-, Landes-, Bundes- oder EUROPA-Ebene bedürfen der Überprüfung der Wahlgesetze, mit unseren Rechtsgrundlagen aus Landesverfassung und Grundgesetz:
    KONTEXT 511 Ex-OB Fritz Kuhn | Ehre, wem Ehre gebührt – Kommentare 13. + 14.01. https://www.kontextwochenzeitung.de/politik/511/ehre-wem-ehre-gebuehrt-7249.html#comment27209

    Wie die Bürgermeisterwahl zu beeinflussen ist, das wird hier für das 1996 aufgezeigt https://www.parkschuetzer.de/statements/208252
    26. Sept. 2012 #Lobby-Control Stuttgart 21: „Wie die Bahn den #Bürgermeister-Wahlkampf 1996 beeinflusste

    [1] Globaler Protest und feuilletonistischer Ausnahmezustand
    29. Juli 2014 VON Göttinger Demokratie-Forschung
    Nach dem Kalten Krieg folgte bekanntlich nicht das Ende der Geschichte.
    Stattdessen häuften sich weltweit Krisen. Protest aber regte sich kaum – bis zum
    Ende der „Nullerjahre“. Aber entgegen der Meinung vieler Intellektueller steckt
    dahinter kein einheitliches Motiv globalen Protests.

    Di. 29.07. 2014 14:36 Uhr mein Kommentar https://up.picr.de/34346005yo.pdf
    Demokratie – direkte Demokratie – mehr Demokratie

    Freie Presse –Medienhörigkeit- rechtlicher Rundfunk https://up.picr.de/35485646fo.pdf

    seither gilt – Was interessiert mich mein Geschwätz von gerade eben!

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