Der Bürger D.R. und die Etappenniederlage der Stuttgarter Zeitung

Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der 548. Montagsdemo[1] am 25.1.2021

Liebe Freundinnen und Freunde,

am vergangenen Mittwoch hat der Europäische Gerichtshof in meinem Prozess gegen das Staatsministerium wegen Akteneinsicht in geheime Unterlagen ein bedeutendes Urteil gesprochen. So hat es die Zeitung „Echo 24“ aus Heilbronn bezeichnet. Die Rechtsredaktion der ARD hat einen Fernsehbeitrag dazu ausgestrahlt und der SWR eine sehr informative Meldung verbreitet.

Nicht ganz so objektiv hat die Stuttgarter Zeitung berichtet mit der Schlagzeile „Etappensieg für das Staatsministerium“. Dieser Artikel hat einige von euch verunsichert. Deshalb will ich kurz die Bedeutung des Urteils erklären. Ich komme dabei zum Schluss, dass der Stuttgarter Zeitung für ihre Darstellung die Bezeichnung „Etappenniederlage“ gebührt. Ich will das aber keinesfalls als pauschale Schelte gegen das Blatt verstanden wissen, denn davor hat die Zeitung über meinen Prozess mehrfach sehr gut berichtet.

Journalistisch unsauber ist der Versuch, das bisherige Vorgehen des Staatsministeriums als richtig und die Behörde als Gewinner darzustellen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Meine Einschätzung muss ich natürlich erklären:

Ich habe 2012 beim Staatsministerium einen Antrag auf Akteneinsicht in alle Unterlagen zum Schwarzen Donnerstag gestellt. In der Folgezeit habe ich Einsicht in Hunderte von Dokumenten erhalten. Bzgl. weiterer Unterlagen hat das grün geleitete Staatsministerium von Winfried Kretschmann die Einsichtnahme verweigert, offenbar zum Schutz seines Vorgängers Stefan Mappus und dessen Gefolgschaft. Dagegen habe ich geklagt und beim Verwaltungsgerichtshof in Mannheim in vollem Umfang Recht bekommen.

Weil das Urteil dem Staatsministerium und der beteiligten Deutschen Bahn AG nicht gefallen hat, haben beide Revision eingelegt. Im Sommer 2019 hat mir das Bundesverwaltungsgericht dann die Einsichtnahme in einen Teil der Dokumente zugestanden. Nicht sofort entschieden hat es über Unterlagen, die im Staatsministerium zum damaligen Untersuchungsausschuss des Landtags zum Polizeieinsatz vom 30.9.2010 und zum sogenannten Schlichtungsverfahren zu Stuttgart 21 vorhanden sind.

Das Bundesverwaltungsgericht war der Meinung, dass das europäische Recht in der Frage, unter welchen Voraussetzungen ein Bürger Einsicht in interne Unterlagen einer Behörde erhalten kann, nicht eindeutig ist. Es hat deshalb die Akten dem Europäischen Gerichtshof zu einer Vorentscheidung vorgelegt. Erst nach dessen Urteil kann dann das Bundesverwaltungsgericht auch diesen Teil des Prozesses entscheiden.

Bisher war es so, dass eine Behörde, wenn es sich um interne Mitteilungen innerhalb der Behörde handelte, einfach ohne nähere Begründung sagen konnte, das gehe den Bürger nichts an, weil ihr Interesse an der Geheimhaltung höher zu bewerten sei. Dies hat sich durch die Entscheidung vom Mittwoch grundlegend geändert. Ich bin ein wenig stolz darauf, dass der Fall des Bürgers D. R. künftig den Bürgerinnen und Bürgern der EU zu mehr Rechten verhelfen wird. Wie wichtig das Verfahren ist, zeigt sich schon daran, dass dazu mehrere Staaten und die EU-Kommission offiziell Stellung genommen haben.

Am liebsten würde ich euch jetzt die lichtvollen Ausführungen des Europäischen Gerichtshofes gegen die weitverbreitete Geheimniskrämerei vollständig vorlesen. Er verlangt vor allem, dass in jedem Einzelfall die Interessen der Behörde und der Bürger gegeneinander abgewogen werden müssen. Akteneinsicht zu verweigern sei als Ausnahme nur unter engen Voraussetzungen zulässig. Und dann kommt der schöne Satz: „Im Rahmen dieser Prüfung ist die mit einem Zugangsantrag befasste Behörde jedenfalls verpflichtet, Gründe zu suchen, die für die Bekanntgabe sprechen können, wie beispielsweise ein freier Meinungsaustausch, eine wirksamere Teilnahme der Öffentlichkeit an Entscheidungsverfahren in Umweltfragen oder die Verbesserung des Umweltschutzes. Sie muss auch die Angaben des Antragstellers zugunsten einer Bekanntgabe der angeforderten Informationen prüfen, ohne dass der Antragsteller verpflichtet wäre, ein besonderes Interesse darzulegen, das diese Bekanntgabe rechtfertigt.“ Genau das hatte aber das Staatsministerium von mir zu Unrecht gefordert.

Außerdem verlangt der Europäische Gerichtshof von der Behörde, die seit der Erstellung der Mitteilung vergangene Zeit zu berücksichtigen. Damit gibt es noch mehr auf die Mütze von Winfried
Kretsch­mann als verantwortlichem Politiker. Denn nach bisheriger Auffassung seines Ministeriums darf er in alle Ewigkeit die Einsicht in solche internen Unterlagen verweigern.

Mir fällt dazu ein gutes Beispiel ein: 1883 haben Reichskanzler von Bismarck und Kaiser Wilhelm I geheim verhandelt, wie man den Bau des Nord-Ostsee-Kanals politisch durchsetzen könnte. Die Dokumente dazu sind ebenfalls interne Mitteilungen. Somit könnte noch nach 140 Jahren die Einsichtnahme in die Mauschelei verweigert werden. Selbstverständlich kann dies nicht richtig sein. Aufklärung ist das Gegenteil von obrigkeitsstaatlicher Geheimniskrämerei einer grün geführten Behörde im Jahr 2021.

Immerhin geht es um Unterlagen, die schon über zehn Jahre im Staatsministerium schlummern. Außer dem Versuch, Mappus und Konsorten zu schützen, fällt mir für die Entscheidung zur weiteren Geheimhaltung nichts ein. Und deshalb bin ich mit der Schlagzeile der Stuttgarter Zeitung nicht einverstanden. Vielmehr wird jetzt mein Prozess in Leipzig fortgesetzt werden mit der Frage, ob das Staatsministerium trotz des langen Zeitablaufs und der fehlenden Abwägung meines Aufklärungsinteresses die Einsichtnahme weiter verweigern darf.

Wir dürfen also gespannt sein. Ich möchte euch allen für euer Interesse und eure Unterstützung ganz herzlich danken. Selbstverständlich werde ich euch weiter auf dem Laufenden halten gemäß unserem gemeinsamen Ziel:

Oben bleiben!

[1] ab 21.12.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, wieder online:
https://www.parkschuetzer.de/videos/

Rede von Dieter Reicherter als pdf-Datei

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2 Antworten zu Der Bürger D.R. und die Etappenniederlage der Stuttgarter Zeitung

  1. Christian Berger sagt:

    An Herrn Reicherter mein Dank für die gute Darstellung zum EuGH-Urteil und vor allem für die sanfte Beharrlichkeit, Licht ins Dunkel zu bringen!

  2. Ingrid von Staden sagt:

    Dieter Reicherter, vielen Dank für dein Engagement, deinen Widerstand und deinen Mut, trotz aller Widrigkeiten jahrelang gegen Verschleierungstaktiken, Amtsmissbrauch und Unrecht vorzugehen. Großen Respekt!!!

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