Rede von Dr.Christoph Engelhardt, Faktencheck-Portal WikiReal.org, auf der 549. Montagsdemo[1] am 1.2.2021
Hallo zusammen. Ich bin Christoph Engelhardt vom Faktencheck-Portal WikiReal und schaue heute noch einmal auf den Brandschutz des Bahnprojekts Stuttgart 21.
Ende 2018 hatten Hans Heydemann und ich ein 170-seitiges Gutachten zu den Brandschutz-Mängeln vorgelegt. Wir hatten zahlreiche Richtlinienverstöße nachgewiesen. Etwa zu dem fehlenden Tunnel-Rettungskonzept, der unterdimensionierten Bahnsteigbreite, der zu geringen Personenzahl in der Evakuierung, dem fehlenden Nachweis der Machbarkeit des Projekts etc.
Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 hatte dieses Gutachten mit den Fragen zu den Richtlinienverstößen an die Bahn und das Eisenbahn-Bundesamt geschickt. Die Bahn antwortete auf den Nachweis, dass die Genehmigung grob fehlerhaft sein müsse, schlicht, sie habe aber die Genehmigung erhalten. Die Richtlinienverstöße werden nicht entkräftet. Die Bahn behauptet sogar, das Gutachten eingehend geprüft zu haben, hat also wohl keine sachlichen Fehler entdeckt, sonst würden wir jetzt davon erfahren – eine schöne Bestätigung der Kritik. Und in bestem Orwell'schen Doppeldenken zieht die Bahn das Fazit aus den nicht entkräfteten Brandschutzmängeln, dass Stuttgart 21 ein „Maximum an Sicherheit“ für die Reisenden biete – das Gegenteil ist richtig.
Auch das EBA antwortete. Aber auch hier Fehlanzeige, keine Entkräftung der Richtlinienverstöße. Das EBA schildert das Genehmigungsverfahren, was gar nicht gefragt war, und verweist darauf, dass die Bahn sich an die Regeln halten müsste – wohl, da nicht sein kann, was nicht sein darf.
Lässt es sich plausibilisieren, ob der S21-Brandschutz regelkonform sein kann?
Bei Stuttgart 21 werden 10 m breite Bahnsteige geplant. Das erscheint nicht wenig, aber wie sieht das im Vergleich aus? Im unterirdischen Zusatzbahnhof zum Züricher Hauptbahnhof haben wir schon 13,5 m Breite. Vor allem neben den Treppen sind dort 3,5 m Platz. Hier bleiben in Stuttgart nur zwei Meter. Dieser Minimalwert ist auch am Bahnsteigende eines Kleinbahnhofs einzuhalten, und die Bahn selbst hält dies bei einem kleinen S-Bahn-Halt in München für zu „eng“ und einen „Fehler“. Ziehen wir die 85 cm Sicherheitsstreifen ab, ist in Zürich mehr als doppelt so viel Platz.
Nächstes Beispiel Antwerpen, mit ebenfalls 10 m, allerdings bei etwa einem Drittel des Fahrgastwechsels wie in Stuttgart. Aber auch dort sind schon 3,5 m Durchgangsbreite vorhanden. Wir finden viele Bahnhöfe mit deutlich weniger Personenaufkommen aber viel breiteren Bahnsteigen. Die 3,5 m erscheinen quasi als internationaler Standard. In Spanien wurden für eine neuere Hochgeschwindigkeitsstrecke 16 m Breite vorgegeben, die beispielsweise in Segovia Guiomar auf ganzer Breite frei sind, weil die Bahnsteigzugänge wie bei einem Kopfbahnhof an den Enden liegen.
Auch die Deutsche Bahn baute oft üppiger als in Stuttgart, z.B. in Kassel Wilhelmshöhe. Und wirklich komfortabel hat man es in Saudi Arabien. Aber solche Breiten sind nicht aus der Welt! 2015 sagte der Vorstandsvorsitzende der DB Station und Service, angesichts des Wachstums in den westdeutschen Ballungszentren „könnten wir die Bahnsteige doppelt so breit bauen.“
Aber insbesondere die Engpässe sind wirklich gefährlich. Am 10. Februar 2016 stürzte in Wien am immerhin 2,85 m breiten Engpass eine junge Frau im Gedrängel ins Gleis und blieb bewusstlos liegen, konnte aber von Passanten noch vor dem einfahrenden Zug gerettet werden. Und am 4. Oktober 2016 stürzte in Berlin – mit gleichen Bahnsteigmaßen wie bei S21 – ein möglicherweise Betrunkener ins Gleis und wurde tödlich überfahren. Bei mehr Platz wäre auch das weniger wahrscheinlich gewesen. Stuttgart hat von allen diesen Bahnhöfen das höchste Personenaufkommen, aber die kleinsten Abmessungen – da muss etwas nicht stimmen.
Für das Personenaufkommen ist zunächst die Zug-Kapazität entscheidend. Stuttgart plant mit Doppelstockzügen die höchsten Fahrgastzahlen. Solche halten auch in Berlin. In der Schweiz sind es schon deutlich weniger Personen und in Frankreich/Spanien noch weniger. An den breitesten Bahnsteigen in Saudi Arabien halten die Züge mit den wenigsten Passagieren. In Stuttgart sind es aber auf den Bahnsteigen demgegenüber noch einmal doppelt so viele Personen wegen dem besonders hohen Fahrgastwechsel und den dort geplanten Doppelbelegungen. Wenn wir für einen Bahnhof und seine Zulauftunnel großzügige Maße erwarten würden, dann für Stuttgart Hbf.
Schauen wir nun auf die Tunnel. Für S21 ergeben die 60 km Tunnelröhren 30 Streckenkilometer der Doppeltunnel. Über die Hälfte davon ist per Ausnahmegenehmigung mit einem stark verengten Querschnitt gebaut. Der freie Tunnelquerschnitt beträgt 43 m². Ein solcher Tunnel verraucht schnell. Zum Vergleich: Der Brandschutzbeauftragte der Bahn, Klaus-Jürgen Bieger, machte 2003 eine Evakuierungsübung am Neuen Mainzer Tunnel. Der hat aber als Doppelgleistunnel 139 m² und sollte damals nach 15 Min. verrauchen. Abzüglich jeweils des Querschnitts des Zuges sind in Stuttgart die Tunnel in weniger als 4 Min. verraucht. Ebenfalls per Ausnahmegenehmigung wurde eine Steigung doppelt so hoch wie üblich genehmigt, die durch den Kamineffekt schneller verraucht.
Kommen wir zur Rettungswegbreite: Brandschutzbeauftragter Bieger gibt 1,2 m an, verschweigt aber, dass die durch Einbauten auf 0,9 m verengt werden. Und ein Fluchtweg ist nur so gut wie seine engste Stelle. Bieger nennt auch den 500 m-Abstand der Querschläge eine „Norm“-Vorgabe. Das ist falsch, es ist der höchst-zulässige Abstand. Die „Norm“ verlangt aber insbesondere ein funktionierendes Rettungskonzept, dafür müsste man hier aber deutlich unter die 500 m gehen. Und als letzten wichtigen sicherheitsrelevanten Parameter haben wir die Personenzahl, sie bestimmt die Evakuierungsdauer. Schauen wir jetzt auf vergleichbare Projekte. Die S21-Tunnel sind die einzigen, die in allen Parametern gleichzeitig Höchstrisikoplätze belegen. Rechnen wir das hoch, sehen wir, S21 ist 5-mal gefährlicher als der Gotthard-Tunnel, 7-mal gefährlicher als der Bibra-Tunnel, den Bieger dem Stuttgarter Gemeinderat als „genauso gebaut“ beschrieben hatte, und 20-mal so gefährlich wie der französisch-spanische Perthus-Tunnel. Hier muss bei der Baugenehmigung etwas massiv schiefgelaufen sein!
Wir haben schon mehrere Risikofaktoren für den Brandschutz der S21-Tunnel kennengelernt. Jeder einzelne hätte zwingend begründet, sich bei S21 nicht mit Mindestanforderungen zu begnügen. Aber das ist noch nicht alles, die Strecken weisen gefährliche wannenförmige Profile auf, da kann ein Zug liegenbleiben, und sie haben eine herausfordernde Fahrdynamik: Beschleunigung in der größten Steigung und Bremsen im größten Gefälle, da ist die Technik schnell überlastet. Außerdem haben wir extrem lange Tunnelstrecken, viele Weichen mit Entgleisungsrisiko, starken Verkehr: bis zu 3 Züge fahren gleichzeitig durch den Fildertunnel.
Und es fehlen Sicherheitseinrichtungen, wie sie woanders gebaut werden, so gibt es keine echte Entrauchung und keinen eigenen dritten Fluchttunnel, wie er beispielsweise zuletzt bei der ähnlich riskanten zweiten S-Bahn-Stammstrecke in München hinzugeplant wurde. Hier ist also der Brandschutz alles andere als plausibel! Ein Eisenbahn-Bundesamt, das sich bei solchen Anforderungen durchgehend mit Mindestwerten begnügt und darüber hinaus zwei wichtige Parameter per Ausnahmegenehmigung drastisch verschärft, muss bei diesem Projekt etwas übersehen haben!
Und damit sind wir auch schon bei den Verfahrensmängeln. Wie war es möglich, dass eine solche Planung genehmigt wurde?
Wir hatten zuvor gesehen, dass oft keine Abwägung stattgefunden hatte, und für anderes hatte das Eisenbahn-Bundesamt erstaunlich viel Geduld und hatte jahrelang auf die Vorlage eines funktionierenden Rettungskonzepts großzügig verzichtet. Erst 2016 wurde dann eines vorgelegt. Und was für eines! Ein regelrechtes „Micky-Maus“-Rettungskonzept, an diesem Schema ist absolut alles falsch. Statt der suggerierten 15 Minuten Evakuierungszeit ergeben sich bei korrektem Ansatz über 45 Minuten! Und das bei einer Verrauchung in rund 4 Minuten. Da hat kaum einer die Chance auf Rettung. Kanzlerin Merkel sagte, Stuttgart 21 ist wichtig für die „Zukunftsfähigkeit Deutschlands“. Wenn unsere Zukunft in dieser Qualität geplant wird – na dann gute Nacht! Als Verfahrensmangel haben wir hier ein Gefälligkeitsgutachten von geradezu unterirdischer Qualität.
Wir haben aber auch schon einzelne grobe Falschaussagen gehört. Hier nun zu Biegers Aussage von den „breitesten Fluchtwegen in ganz Europa“. Dazu schauen wir auf die 90 cm bei Stuttgart 21, exakt auf dem Mindestwert der deutschen Richtlinie. In der Schweiz und bei italienischen und niederländischen Konsortien wären die schon nicht mehr zulässig. In Dänemark und Finnland gab und gibt es dreimal höhere Mindestanforderungen. Schauen wir aber auf die gebauten europäischen Tunnelprojekte, dann liegen praktisch alle über dem Mindestwert, weil eine Rettung sonst chancenlos wäre. So viel zu Biegers „breitesten Fluchtwegen“. Bieger sagte auch in der Schlichtung, durch gekapselte Anlagen käme es gar nicht zum Brand. Genau das geschah 2018 bei Montabaur. Bieger hatte auch 2016 gesagt, die Züge könnten 15 Minuten unter Vollbrand weiterfahren, in Montabaur fielen die Motoren nach 2 Minuten aus.
Kommen wir wieder zum Tiefbahnhof. Die Bahn zeigte dem Stuttgarter Gemeinderat, dass die Engpässe an den Bahnsteigen alle im grünen Bereich wären. Dabei hatte sie über 60 durchgefallene Engpässe aus den kritischen Gebäudeebenen unterschlagen und in acht weiteren gravierenden Punkten Falschaussagen gemacht und getäuscht. Auch hier klingt es dann wie Hohn, wenn Projektsprecher Dietrich sagt, der Bahnhof habe keine Engpässe, die die Personenströme einschränkten.
Schon verschiedentlich gezeigt wurde, dass die Bahn für den Brandschutz Züge ansetzt, die nicht in Doppelbelegung halten können. Die sind aber für den Leistungsnachweis unersetzlich und bringen gerade zwischen den kritischen Engpässen 2,3-mal mehr Personen auf den Bahnsteig, die dann auch evakuiert werden müssen. Entweder fehlt dem Bahnhof der Brandschutz oder die zugesagte Leistungsfähigkeit. Im SWR-Magazin Odysso dazu angesprochen, stellte der Tunnelexperte Prof. Dr.-Ing. Roland Leucker klar, dass im Brandschutz die größtmögliche Personenzahl aus vollen Zügen anzusetzen sei, worauf Bieger entgegnete, bei S21 seien die Züge eben nicht voll (wenn es brennt). Der von der Bahn bezahlte Gutachter prüfte dann vollkommen „unabhängig“ für das EBA, dass es genügt, die EBA-Formel zu benutzen, egal ob die falschen Züge eingesetzt wurden. Das EBA konnte daraufhin „im Einklang mit dem Leitfaden“ genehmigen.
Werten wir für die verschiedenen Genehmigungsschritte aus, was schief lief, dann finden wir auch in den Planänderungen viele Informationszurückhaltungen, Falschaussagen und Täuschungen. Auch der Verwaltungsgerichtshof (VGH) half hier nicht zur Sachaufklärung. Er entschied nicht in der Sache, sondern formaljuristisch. Der Kläger wäre trotz des grundrechtlichen Schutzes von Leib und Leben nicht klageberechtigt. Es genüge die Beteiligung der Feuerwehr in der Planfeststellung. Was der VGH nicht sagte: Es genügt also, die Feuerwehr über den Tisch zu ziehen, dann ist auch die gemeingefährlichste Planung in trockenen Tüchern. Und gerade der Feuerwehr waren umfassend Informationen vorenthalten, Falschaussagen aufgetischt und getäuscht worden.
Die Täuschungen setzten sich dann auch während der Überprüfung des Brandschutzes in den Folgejahren fort. Etwa in den parlamentarischen Anfragen wird die Informationszurückhaltung durch Antwortverweigerung ersetzt. Behörden oder Parlamente verteidigen ihre früheren Fehlleistungen, indem sie einfach ihre Arbeit nicht machen und nötige Prüfungen unterlassen. Und die Medien berichten zwar teils exzellent ad hoc, aber es wird nicht nachgehakt. Auch die brisantesten Berichte im Stern, bei Mario Barth, der Anstalt oder in Kontext lösen nicht die Aufklärungskampagne aus, zu der die Medien als vierte Macht verpflichtet wären.
Alle diese Mechanismen wiederholen sich gebetsmühlenartig. Wie aber aus diesem Teufelskreis entkommen? Natürlich läuft sich das Projekt irgendwann selbst tot. Wenn etwa wie beim Brandschutz des Flughafens BER in Berlin der TÜV das Prüfsiegel versagt. Bis dahin sehe ich nur zwei Möglichkeiten: endlich einen echten Faktencheck, wie wir von WikiReal ihn mehrfach vorgeschlagen hatten, oder aber es gibt noch eine größere Fernsehdokumentation, die bei den offenen Fragen wirklich nachhakt.
Bis dahin wünsche ich uns allen gute Gesundheit – und dass die Fakten oben bleiben und nicht dauerhaft unter die postfaktischen Räder kommen!
[1] ab 21.12.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, wieder online:
https://www.parkschuetzer.de/videos/