Die Stuttgarter Zivilgesellschaft, das Projekt Stuttgart 21 und Stuttgarts neuer OB Dr. Frank Nopper. Eine Anrede.

Rede von Dr. Winfried Wolf, Verkehrsexperte, Journalist und Herausgeber von ‚LunaPark21‘, auf der 564. Montagsdemo am 31.5.2021

Sehr geehrter Herr Nopper,

Sie haben im OB-Wahlkampf wiederholt betont: „Ich bin Stuttgarter vom Scheitel bis zur Sohle – ich […] habe tiefe Stuttgarter Wurzeln.“[1] Und Sie beziehen sich immer wieder positiv auf eine Landeshauptstadt, die „von Liberalität, Toleranz und wechselseitigem Respekt geprägt“ sein soll. In diesem Zusammenhang schwärmten Sie von einem neuen „Stuttgart Spirit“, der geschaffen werden müsse – irgendeine „ideale Mischung von Moderne und Tradition, von Spätzle und Spitzentechnologie“, eine Stadt „mit schaffigen und lebensfrohen Menschen zwischen Umsatz und Grundsatz“.[2]

Ich muss zugeben, dass mir bei diesem Wortgeklingel leicht schwindelig wurde. Doch betreiben wir keine Kaffeesatzleserei. Sie, Herr Nopper, sind Oberbürgermeister der baden-württembergischen Landeshauptstadt geworden, wobei Sie auch im zweiten Wahlgang keine absolute Stimmenmehrheit – sondern nur 42,3 Prozent – auf sich vereinten. Das in diesem Punkt wenig überzeugende Wahlrecht macht das möglich. Insofern steht es Ihnen gut zu Gesicht, wenn Sie sagen: „ich blicke mit Demut und Respekt auf diese große Aufgabe“ – als OB Stuttgarts zu wirken.[3] Und es gibt in den ersten Wochen Ihres Wirkens dann zumindest einen Punkt, den wir positiv werten: Sie stellten im Gespräch mit dem Team der Mahnwache gegen Stuttgart 21 in Aussicht, dass ab Sommer das Mahnwachenzelt in eine feste Behausung überführt wird und dass dabei eine Regelung gefunden wird, bei der die Nachtschicht für das Mahnwachen-Team entfällt. Hut ab und unser Respekt! Und natürlich auch Hut ab und unsere volle Unterstützung für das Mahnwachenteam und den Neuanfang in Kontinuität mit zwölf Jahren Mahnwache gegen Stuttgart 21!

Lassen Sie mich, Herr Nopper, zwei große Themen der Stuttgarter Zivilgesellschaft herausgreifen. Und anhand derer Ihre Grundaussagen überprüfen und diese mit unseren Auffassungen konfrontieren.

Thema 1: Autoindustrie und Verkehrspolitik.

Die Stadt Stuttgart wird wie keine andere Landeshauptstadt von der Autoindustrie geprägt – insbesondere von den Unternehmen Daimler, Porsche und Bosch. Alle Ihre bisherigen Reden sind durchtränkt von einer fast nahtlosen Identifikation mit diesen Unternehmen. So beziehen Sie sich positiv auf „Robert Bosch, Gottlieb Daimler und Ferdinand Porsche“ als Personen, die für die „Stadt der Erfinder und Tüftler“ charakteristisch seien.

Tatsache ist: Ferdinand Porsche war seit 1933 ein Nazi oberster Kategorie. Noch am 1. Mai 1944 erhielt sein Unternehmen die Auszeichnung als „nationalsozialistischer Musterbetrieb“. Der Reichtum der heutigen Familie Porsche-Piech und ihre Mehrheit an den VW-Aktien haben ihren Ursprung in der Sklavenarbeit von Tausenden Zwangsarbeitskräften. Porsche konstruierte für die Nazis nicht nur den Kraft-durch-Freude-Wagen – den späteren Käfer – als Kübelwagen. Er entwickelte für den Einsatz im Krieg gegen die Sowjetunion auch einen Kampfpanzer mit dem originellen Namen „Ferdinand“. Bei Kriegsende ging es ihm dann darum, wie er sich rechtzeitig nach Stuttgart und Salzburg absetzen, sich dort zeitweilig verstecken und später, nach Kriegsende, von Stuttgart aus sich mit Raffinesse ein neues automobiles Reich aufbauen konnte.[4] Vielleicht zucken Sie in Zukunft ja davor zurück, den Namen Ferdinand Porsche positiv zu erwähnen, wenn ich Sie auf den Antisemiten und Arisierungsprofiteur Porsche hinweise: Ferdinand Porsche und Anton Piech haben in der Zeit der NS-Diktatur ihren Kompagnon Adolf Rosenberger aus der Firma verdrängt und von seinem erzwungen Abgang profitiert. Rosenberger war Jude. All das ist umfassend dargestellt in der Stuttgarter Wochenzeitung KONTEXT – bei der Sie im Übrigen im Wort stehen für ein Gespräch.[5]

Es mag ja sein, dass Geschichte nicht ihr Ding ist. Dann wenden wir uns doch der aktuellen Politik der Autokonzerne zu. Sie sagen bei diesem Thema: „Unsere Automobilwirtschaft hat die Zeichen der Zeit erkannt. Sie weiß, dass Sie in Verantwortung für den Umwelt- und Klimaschutz umsteuern muss. […] Stuttgart muss die Geburtsstadt der ersten, der besten, der innovativsten und umweltfreundlichsten Automobile bleiben.“[6]

Das ist grotesk. Die Automobilwirtschaft – an der Spitze VW, aber Daimler und Porsche durchaus im Verbund – ist seit sechs Jahren vom Diesel-Skandal geprägt – von der bewussten Manipulation von Motoren, in deren Gefolge die Gesundheit von Hunderttausenden Menschen massiv Schaden genommen hat. Die „innovativen“ Automobile, die Daimler und Porsche aktuell anbieten, sind die Modelle EQC im Fall Daimler und Taycan im Fall Porsche. Beides sind Elektro-Pkw. Jedes von ihnen ist deutlich mehr als zwei Tonnen schwer. Keines der Modelle ist unter 85.000 Euro zu haben. Die realen CO2-Emissionen dieser Pkw sind weit höher als im Fall eines herkömmlichen Mittelklasse-Benziner-Modells.[7] Und das nennen Sie „innovativ“?

Daimler hat im vergangenen Geschäftsjahr 2020/21 einen Gewinn in Höhe von vier Milliarden Euro eingefahren. Trotz Corona – könnte man denken. Nein! WEGEN Corona! Der Konzern kassierte allein 2020 rund 700 Millionen Euro Kurzarbeitergeld – und konnte damit fett Kasse machen. Selbst Ihre Parteikollegin Frau Susanne Eisenmann – ja, wo ist sie denn jetzt? – erklärte im März im Landtagswahlkampf: „Also ich finde das nicht glücklich.“[8] Und was macht das von Ihnen als verantwortungsvoll gepriesene Unternehmen Daimler mit den Beschäftigten? Der Konzern spaltet sich gerade auf – und bringt die Lkw-Sparte an die Börse. Damit sollen die Personalkosten um 300 Millionen Euro gesenkt werden. Mehrere Tausend Arbeitsplätze werden abgebaut.[9] Und das nennen Sie, Herr Nopper, „verantwortungsvoll“?

Es sind diese Autokonzerne, die auch die Verkehrspolitik in Stuttgart mit-bestimmen. Stuttgart hat im Kreis vergleichbarer Großstädte mit den höchsten Anteil an Pkw-Verkehr im gesamten Verkehrsmarkt. Mit 45 Prozent Anteil dominiert dieser den Verkehr in der Landeshauptstadt – nur in Wiesbaden ist es noch einen Tick schlimmer. In Karlsruhe z.B. liegt dieser Anteil des Autoverkehrs „nur“ bei 34 Prozent, in Freiburg nur bei 28 Prozent.[10]

Und wie sehen Sie die Zukunft der Verkehrspolitik in Stuttgart? Ich zitiere: „Wir brauchen eine Vernetzung, Verbindung und Versöhnung der verschiedenen Mobilitätsformen.“[11] Vergleichbare Aussagen hören wir von der Autolobby seit fünf Jahrzehnten – und dies immer zur Flankierung des immer übermächtiger werdenden Autoverkehrs.

Jetzt mal ganz konkret, Herr Nopper! Wie will man die 76 Getöteten bzw. deren Angehörige und die 2699 Schwerverletzten, die es in Stuttgarts Straßenverkehr allein im Zeitraum 2010 bis 2018 gab, mit dem Autoverkehr „versöhnen“? JAHR FÜR JAHR gibt es in Stuttgarts Straßenverkehr 300 Schwerverletzte – gut ein Drittel davon sind Radfahrer und Fußgänger! Wenn Sie hier von „Versöhnung“ reden, dann ist das schlicht a Lettagschwätz.

Bilanz: Ihre Vorstellung von der Autoindustrie und der Verkehrspolitik ist rückwärtsgewandt. Stuttgart liegt nicht „am Meer“. Stuttgart liegt im Automeer.

Thema 2: Der neue Koalitionsvertrag von Grün-Schwarz mit den Aussagen zu Stuttgart 21

Am 3. Mai veröffentlichten Sie, Herr Nopper, eine Presseerklärung zum Thema neuer Koalitionsvertrag. Darin heißt es: „Wir sind verwundert über die Berichte, dass der Koalitionsvertrag […] die Realisierung eines Ergänzungsbahnhofs vorsieht.“ Dies sei „umso erstaunlicher, da nach den bisher vorliegenden Untersuchungen die Leistungsfähigkeit des im Bau befindlichen Durchgangsbahnhofs auch über das Jahr 2030 gewährleistet ist.“[12]

Halten wir zunächst einmal fest: Es geht da nicht um irgendwelche „Berichte“. Im Koalitionsvertrag selbst steht auf Seite 124 und 125 wortwörtlich: „Wir setzen uns aktiv ein für […] die Ergänzungsstation mit Zuläufen aus drei Richtungen.“ Dafür werde man „unverzüglich den perspektivischen Bedarf und […] die Finanzierungswege ermitteln sowie eine Verständigung mit den betroffenen Partnern Stadt Stuttgart und Verband Region Stuttgart herstellen.“

Sie, Herr Nopper, tönten in der zitierten Erklärung: „Das Land scheint die Rechnung ohne den Wirt machen zu wollen.“ Das ist ausgesprochen originell – dass Sie bzw. die Stadt hier „der Wirt“ sein sollen. Und
Kretsch­­mann irgendwie Kellner und Strobl irgendwie Stallknecht. Was Sie offensichtlich nicht wahrhaben wollen, ist das Folgende: Mit diesen klaren Aussagen im Koalitionsvertrag sagen Grüne und CDU auf Landesebene: Die Leute, die da seit 12 Jahren an jedem Montag auf die Straße gehen, die hatten immer recht. Und sie haben weiter recht: Stuttgart 21 mit acht Durchgangsgleisen hat deutlich zu wenig Kapazität. Wir brauchen weitere sechs Gleise als „Ergänzung“.

Ihnen gefällt die zitierte Festlegung im Koalitionsvertrag nicht, weil „ein Ergänzungsbahnhof die Nutzbarkeit der städtischen Flächen insbesondere für Wohnungsbau stark einschränken“ würde. Auf den Ergänzungsbahnhof wird zurückzukommen sein. Hier nur ein paar Sätze zu Ihrer Wohnungspolitik. Sie argumentieren: „Stuttgart braucht dringend mehr Wohnungen – gerade auch preiswerte Wohnungen.“ Wobei sie bedauernd hinzufügten: „Das Rosensteinquartier im neuen Herzen der Stadt kann zugegebenermaßen erst in einigen Jahren aufgesiedelt werden.“ [13] Mit „aufgesiedelt“ ist wohl gemeint: „aufgebrezelt“ wie im Fall Müllaneum. Und das „neue Herz der Stadt“ ist seit knapp einem Jahrzehnt und für ein weiteres Jahrzehnt ein riesiges Loch, in dem es selbst im Fall einer zweiten Amtszeit von Ihnen keine Bebauung geben kann. Ihr gesamtes Thema „Wohnungspolitik“ ist verquer. Erstens weil Stuttgart nicht, wie immer wieder behauptet, wächst, sondern seit einigen Jahren eine rückläufige Bevölkerungszahl hat. Zweitens weil dort, wo gebaut wird, das denen, die dringend eine bezahlbare Wohnung bräuchten, nicht gerecht wird. Das sind so gut wie immer teure und Luxuswohnungen. Drittens, weil die Stadt selbst über 780 eigene Grundstücke verfügt, auf denen sie preiswerten Wohnraum errichten könnte – was sie nicht macht. Vielmehr werden gerade in diesem Bereich immer wieder Grundstücke dem freien Markt zugeführt. Stichwort: Neckarpark. Und viertens, weil es in dieser Stadt auch heute noch 3000 leer stehende Wohnungen gibt, die für mehr als 10.000 Menschen Wohnraum böten, wenn man das nur offensiv aufgreifen würde.

Doch zurück zum Koalitionsvertrag von Grün-Schwarz. Und dem Eingeständnis, man bräuchte einen „Ergänzungsbahnhof“. Dann noch als Kopfbahnhof. Aber halt auch diesen im Untergrund – ein UEKHbf – ein UntergrundErgänzungsKopfHALBbahnhof. Angeflanscht an den S21-Tiefbahnhof. Womit er dann noch besonders lange Wege hin zum S21-Tiefbahnhof haben würde. Es ist ja schon peinlich, dass Winfried Hermann, der ja eigentlich ein Bahnkenner ist, für diesen groben Unfug verantwortlich zeichnet.

Warum greifen Sie – Herr Nopper – das, was da an Unsinn im Koalitionsvertrag steht, nicht offensiv auf? Sie könnten doch sagen: Da Durchgangsgleise etwas mehr Kapazität haben als Kopfbahngleise, entspricht die Gesamtzahl von 8 Durchgangsgleisen plus 6 Kopfbahngleisen nicht 14, sondern rund 16 Kopfbahngleisen. Und – uuups – aktuell gibt es doch 16 Kopfbahnhofsgleise! Dann ist die Lösung doch eine ganz einfache: Der bestehende Bahnhof hat die richtige Kapazität. Er bleibt grundsätzlich eins zu eins bestehen – natürlich dann mit wieder vorgezogenen Gleisen, über die famosen Kelchstützen hinweg. Beziehungsweise das neue Umstiegs-Programm mit Nutzung der bestehenden S21-Tunnel für City-Logistik wird geprüft.

Da müssten Sie doch nur noch den Satz von Georg Wilhelm Friedrich Hegel zitieren, der da lautet: „… dass die Furcht zu irren schon der Irrtum ist.“ Erinnern Sie sich als „Stuttgarter vom Scheitel bis zur Sohle“ daran, dass dieser Spruch bis vor kurzem in Neonröhren-Schrift an der Querfront des Bonatz-Hauptgebäudes stand? Am 15. Januar 2018 hielt ich eine Montagsdemo-Rede, in der dieser coole Hegel-Spruch im Zentrum stand. Damals versammelten wir uns vor dem Bonatzbau – und die Schrift mit diesem Satz leuchtete damals noch über uns. Inzwischen hat die Deutsche Bahn AG den Schriftzug abmontiert. Nein, nicht wegen meiner Rede. Aber wohl schon aufgrund der Problematik, in die das Monsterprojekt Stuttgart 21 immer mehr gerät. Wo dann diese Herren – auf gut deutsch gesagt – nicht genug Arsch in der Hose haben, um ihre „Furcht zu irren“, die „schon der Irrtum ist“, zu besiegen.[14]

Bilanz: Der neue Koalitionsvertrag von Grün-Schwarz ist ein einziges Eingeständnis, dass die Deutsche Bahn, das Land und die Stadt in Sachen Stuttgart 21 ein Vierteljahrhundert lang in Beton gegossenen Unsinn erzählt, geplant und gebaut haben. Die Kapazität ist zu gering. Und das Konzept eines Kopfbahnhofs macht durchaus Sinn. Doch anstatt den logischen Schritt aus diesem Eingeständnis zu ziehen und das Monsterprojekt einzustellen, sagen Grün-Schwarz auf Landesebene: Dann bauen wir halt ein zweites Stuttgart 21. Und Sie, Herr Nopper, widersprechen Ihren Parteifreunden mit dem hohen C im Parteinamen, weil Sie das Rosensteinquartier doch „aufsiedeln“ wollen – ab dem Jahr 2035, wenn Sie dann Ihren 75. Geburtstag feiern.

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister!

Offensichtlich kommen wir bei den echt großen Fragen, die Stuttgarts Zivilgesellschaft beschäftigen, nicht so wirklich zueinander. Wie wäre es dann mit kleineren Schritten? Siehe Ihre bereits erwähnte noble Geste in Sachen Mahnwache. Ich habe vor zwei Wochen den an Sie gerichteten „Appell der Kunstschaffenden“ mit dem Titel „Die Lenk-Skulptur „Stuttgart 21 – Chronik einer grotesken Entgleisung“ muss in Stuttgart […] bleiben“ verfasst. Sie wurde von den Schauspielern Rolf Becker, Walter Sittler und Christoph Hofrichter, von den Regisseuren Klaus Gietinger und Volker Lösch, von den Sängern Bernd Köhler und Konstantin Wecker, von den Kabarettisten aus der ZDF-Sendung „Die Anstalt“ und „Die Heute-Show“ Christine Prayon und Max Uthoff und vom Team des Verlags PapyRossa unterzeichnet und Ihnen vor drei Tagen zur Kenntnis gebracht.

Darin heißt es: „Peter Lenk hat in mehr als zwei vollen Arbeitsjahren diese Skulptur geschaffen. Rund 1300 Menschen, davon die Hälfte aus Stuttgart und Region, sammelten 150.000 Euro, um die Kosten für das Material und für die Fremdarbeit […] zu decken. Kunstsachverständige betonen: Lenks Skulptur stößt auf […] positiven Zuspruch. Adrienne Braun, unter anderem aktiv für das Kulturessort der „Stuttgarter Zeitung“: „Viele Museen würden es sich wünschen, dass ihr Publikum so interessiert bei der Kunstbetrachtung wäre, wie es die Menschen vor der Stuttgarter Skulptur sind.“ Torben Giese, Direktor des Stadtpalais: „Die Skulptur hat immer zahlreiche Besucher“; es „gibt viel positives Feedback“. Dennoch wünschen sich dieselben zitierten Personen und maßgebliche Verantwortliche in der Landeshauptstadt, dass die Skulptur noch im Juni 2021 abmontiert und […] zurück an den Bodensee transportiert […] wird. Wir sehen darin einen Ausdruck von Kleingeistigkeit […] Wir fordern die Verantwortlichen in Stuttgart, insbesondere deren Oberbürgermeister Dr. Frank Nopper auf […] Demonstrieren Sie Toleranz! Die Skulptur von Peter Lenk hat vor dem Stadtpalais einen ausgezeichneten Standort gefunden. Sie sollte dort bleiben.“

Herr Nopper!

Sie leisten sich da im Stadtpalais einen sonderbaren Direktor. Torben Giese findet die Lenk-Skulptur „ordinär“. Er will sie „möglichst bald wieder weg“ haben. Doch eine andere Figur soll unbedingt dort stehen bleiben. Ich habe mir gestern auf der Stadtpalais-Website im sogenannten „Museumsfernsehen“ den „Eröffnungsvortrag“ von Torben Giese zum „langen Diskussionsjahr“ zum Thema „König Wilhelm II von Württemberg“ angeschaut – volle ätzende 22 Minuten lang. Das war im Übrigen ausweislich der Angabe des „Museumsfernsehens“ der 25. Aufruf des Torben-Giese-Vortrags – binnen vier Monaten. Eine stolze Leistung! Einmal abgesehen davon, dass der Mann langatmig schwafelt – ist der Inhalt seiner Rede höchst bemerkenswert. Da wird der württembergische König als „Demokrat auf dem Thron“ präsentiert. Da wird langatmig darüber räsoniert, wo die Skulptur mit den beiden Spitzer-Hunden jetzt vor oder neben dem Stadtpalais platziert werden soll.

Das ist doch ein echt antidemokratischer Spagat: Der letzte württembergische Monarch, der natürlich auch Antidemokrat war, der den gesamten Ersten Weltkrieg hindurch treu zu Kaiser, Ludendorff und Hindenburg und deren Gaskrieg stand, soll prominent auf städtischem Gelände präsentiert werden. Doch die Lenk-Skulptur, die an die demokratische Zivilgesellschaft dieser Landeshauptstadt und an den Kampf gegen das stadtzerstörerische Projekt Stuttgart 21 erinnert, soll weg! Das nennen wir ordinär und obszön!

Sehr geehrter Herr CDU-Oberbürgermeister!

Wir fordern Sie dazu auf, zumindest kleine Schritte hin zu Toleranz und Liberalität zu unternehmen. Manche lernen es ja nie. Aber einige dann schon. Noch haben Sie die Chance nach dem Grundsatz: Neue Besen kehren gut. Also: Wir bitten um eine gründliche Kehrwoche!

Wie wäre es, wenn Sie, gerade weil Sie der Christlichen Union angehören, sich einmal die Geschichte Ihrer Partei zu Herzen nähmen? Das Zentrum, ein Vorläufer der CDU, hatte 1933 im Reichstag für das Ermächtigungsgesetz gestimmt – und damit Hitler den Weg in die Diktatur geebnet. Sie ist damit mit-verantwortlich für die Verfolgung von Gewerkschaftern, Kommunisten, Schwulen und für die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung. Muster-Karrieren von Schwaben als Nazis in der NS-Zeit und danach in der Bundesrepublik als angeblich Geläuterte, aber tatsächlich als sich treu gebliebene Antidemokraten – so diejenigen von Ferdinand Porsche, Hans Filbinger und Kurt-Georg Kiesinger – sprechen eine deutliche Sprache.

Es war damals durchaus Ihre Partei, die einmal behauptete, den Zusammenhang von Kapitalismus, Konzernmacht, Diktatur, Völkermord und Vernichtungskrieg richtig erkannt zu haben. Im „Ahlener Programm“ der CDU aus dem Jahr 1947 heißt es, man strebe anstelle „des kapitalistischen Gewinn- und Machstrebens“ eine „gemeinwirtschaftliche Ordnung“ an. Und im Gründungsdokument der CDU in Württemberg-Hohenzollern – mein Großvater mütterlicherseits, Dr. Franz Weiß, war Mitbegründer der CDU im Ländle – heißt es: „Die Zusammenballung von Kapital in Konzernen und Syndikaten [hat] den Interessen des Volkes schlecht gedient“[15]

Wir können nicht eine weitere Katastrophe abwarten, um danach wieder zur Einsicht zu gelangen. Denn dann ist es definitiv zu spät. Die weitere und wohl endgültige Katastrophe steht direkt vor uns: Die Klimakatastrophe. Und sie wird herbeigeführt von der „Zusammenballung von Kapital in Konzernen und Syndikaten“ und vom „kapitalistischen Gewinn- und Machtstreben“ – das rücksichtslos gegenüber Mensch, Natur, Umwelt und Klima ist.

Hier vor Ort heißt das konkret: Stuttgart 21 nebst Herrenknecht-Tunnelbauwahn mit inzwischen mehr als 100 Kilometer Tunnelbauten unter dem städtischen Gebiet und damit mit einem Plus von Millionen Tonnen Treibhausgasen ist ein zentraler Bestandteil dieses zerstörerischen Kapitalismus – mit ECE-Bodenspekulation, Daimler-Porsche-Auto-Meer und Vernichtung von Schieneninfrastruktur im Stadtzentrum, auf der Gäubahn und mit der Panoramabahn.[16]

Diese neue Montags-Demo im öffentlichen Raum zeigt: Wir werden nicht müde, diese Zusammenhänge aufzuzeigen! Wir sind munter und rufen wie seit 12 Jahren:

Wessen Bahnhof – Bonatz´ Bahnhof und unser Bahnhof!

Wessen Skulptur – Lenks Skulptur und unsere Skulptur!

Wessen Stadt – unsere Stadt!

Und wir werden: Oben bleiben!

 

Anmerkungen:

[1] Nach: top-Magazin vom 13. Juli 2020.

[2] Interview mit OB Dr. Frank Nopper, Mit Freude und Begeisterung, veröffentlicht von Landeshauptstadt Stuttgart vom 11. Februar 2021.

[3] Ebenda

[4] Siehe: Manfred Grieger und Hans Mommsen, Das Volkswagenwerk und seine Arbeiter im Dritten Reich, Düsseldorf 1996, S.74-91 und Seite 906ff. Und: Hermann Abmayr, Stuttgarter NS-Täter, Vom Mitläufer bis zum Massenmörder. Siehe: https://www.stuttgarter-ns-taeter.de/

[5] Siehe die Serie zu Ferdinand Porsche in KONTEXT vom 14.2., vom 18.4. und vom 23.5.2018.

[6] Interview mit Frank Nopper vom 11. 2.2021.

[7] Bei der Herstellung von E-Pkw werden – insbesondere zur Fertigung der Batterien – je Auto mindestens fünf Tonnen mehr CO2 emittiert als bei der Herstellung eines Benziner- oder Diesel-Modells. Im Fall der beiden Daimler- und Porsche-Modelle ist dieser „ökologische Rucksack“ nochmals größer. Siehe: Winfried Wolf, Mit dem Elektroauto in die Sackgasse, Wien, 3. Auflage 2020, Seiten 96ff.

[8] Susanne Preuß, Stuttgart, Daimler und das Steuergeld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 3. März 2021.

[9] Daimler Truck schraubt vor Börsengang Renditeziele hoch, in: Manager Magazin vom 20. Mai 2021.

[10] Winfried Wolf (mit Wolfgang Hesse und Heiner Monheim), Stuttgart 2030, eine Stadt für die Menschen, Mai 2020, S. 20.

[11] Wie Fußnote [2]

[12] Pressedienst der Stadt Stuttgart vom 3. Mai 2021.

[13] Wie Fußnote [2]

[14] Aus meiner Rede vom 15.1. 2018: „Am 28. Februar 2013 […] konnte man in der „Stuttgarter Zeitung“ lesen: Die Neonschrift mit dem Hegel-Spruch sei 1993 mit viel Hintersinn an der Bahnhofsfassade angebracht worden war. Dann wörtlich: „Im selben Jahr begann die Arbeit an der Machbarkeitsstudie von ´Stuttgart 21´“. Hegel habe immer über „Bedenklichkeiten“ gespottet, die sich seinem Programm, „die absolute Wahrheit des Geistes zu erfassen“ in den Weg gestellt hätten. Diejenigen, die S21 von langer Hand geplant hätten, hätten mit dem Hegel-Zitat von vornherein den „Bedenkenträgern, die großen Projekten misstrauten“ und „die Furcht zu irren“ nicht unterdrückten, den Wind aus den Segeln nehmen wollen. Die Bilanz des Schlaumeier-Autors: „So wurde Hegel, zu dessen Lebzeiten es noch gar keine Eisenbahn gab, als Vordenker, Mitstreiter und Propagandist einer neuen Eisenbahnlinie“ – von Stuttgart 21 – „in Dienst genommen“. Das ist eine ziemlich steile These. Für die es – wir haben dazu den langjährigen Bahnchef und verdienten S21-Gegner Egon Hopfenzitz gefragt – keinerlei Beweis gibt. Da stimmt bereits nicht, dass es zu Hegels Lebzeiten keine Eisenbahnen gegeben hätte. Hegel konnte in den letzten sechs Jahren seines Lebens den grandiosen Siegeszug der Eisenbahn erleben: beginnend 1825 mit der Strecke Stockton – Darlington […] Als Hegel 1831 starb, gab es in England und in den USA bereits mehr als 500 km Eisenbahnstrecken. Richtig aber ist: Der Hegelsche Spruch ist cool. Man darf keine Furcht vor großen Ideen haben. Und schon gar nicht bei der Suche nach der Wahrheit. Doch die Wahrheit wiederum ist konkret. Und die großen Ideen müssen sich in der Wissenschaft und in der Praxis beweisen.“

[15] Ahlener Programm nach: Was will die CDU? Hrsg. Von H. Schreiber, Köln 1948, S.71ff; CDU-Württemberg-Hohenzollern-Gründungsdokument nach. Paul-Ludwig-Weihnacht, Die CDU in Baden-Württemberg und ihre Geschichte, herausgegeben von der Landeszentrale für politische Bildung, Stuttgart, o.J., S. 169. Beide Dokumente zusammengefasst in: Winfried Wolf, CasinoCapital. Der Crash beginnt auf dem Golfplatz, Köln 1992, S. 257 und 280.

[16] Siehe Winfried Wolf, Begrabt mein Herz an der Biegung der Gäubahn, Artikel auf Telepolis vom 11. Mai 2021 [https://www.heise.de/tp/features/Gruene-und-CDU-bauen-ein-zweites-Stuttgart-21-6043638.html].

Dr. Winfried Wolf ist Chefredakteur von Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie. Jüngste Publikationen: Tempowahn. Vom Fetisch der Geschwindigkeit zur Notwendigkeit der Entschleunigung, Wien (Promedia), Mai 2021. Verkehrswende – ein Manifest (zusammen mit Carl Waßmuth; Februar 2020) // Stuttgart Verkehr 2030 – eine Stadt für die Menschen (zusammen mit Heiner Monheim und Wolfgang Hesse).

Websites: www.winfriedwolf.de und www.lunapark21.net

Rede Winfried Wolf als pdf-Datei

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