Betreutes Denken: Alles Gute kommt von Oben (bleiben)

Rede von Peter Grohmann, Kabarettist und Koordinator des Bürgerprojekts „Die AnStifter“, auf der 565. Montagsdemo am 7.6.2021

Hochwohl-löbliche Gemeinde, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiterinnen, liebe Polizei,

in den letzten Tagen wurde öfters gefragt, warum denn die SSB ihre Gleisbette nicht begrünt. Die Antwort: Weil das zu gefährlich ist. Hat man mal versucht. Aber immer, wenn eine Straßenbahn kam, ist ein Grüner aufgestanden und hat seinen Wählern zugewunken. Das musste ja schief gehen. Wie heißt es dazu ganz richtig im 1. Korinther 15:33? „Lasst euch nicht überfahren“? Falsch! „Lasst Euch nicht verführen! Denn schlechter Umgang verdirbt gute Sitten“.

Lasst Euch nicht verführen, auch nicht von der Stuttgarter Zeitung, die Euch fast täglich in die Innenstadt zum Saufen lockt. Schon im 6. Jahr nach Christus warnte Apostel Paulus in seinen Briefen an die Korinther: „Schlechter Umgang verdirbt gute Sitten“. Verdammt lang her, verdammt lang!

Korinth, meine Damen und Herren Gläubige, war eine reiche Hafenstadt mit großen sozialen Gegen­sätzen, mit einer breiten ethnischen und religiösen Vielfalt – und einer in Griechenland sprichwörtlichen Sittenlosigkeit. Also fast wie Stuttgart am Meer, nur dass wir keinen richtigen Hafen haben, sondern allenfalls ein StadtPalais mit einem schönen Denkmal davor. Und wenn's nach uns geht, bleibt es, wo es steht. Denkt mal nach, was uns Peter Lenk da geschenkt hat.

Aber zurück zu den Korinthern: „Alles ist erlaubt, aber nicht alles nütze und nicht alles baut auf“, heißt es weiter in Korinther 10,23. Apostel Paulus von Tarsus hat viel gepredigt und manches davon in den Korintherbriefen ist wie gemacht für den Widerstand gegen Stuttgart 21 – als ob er es geahnt hätte! Hört also, was der Apostel schrieb.

Paulus hat von den Streitigkeiten in der korinthischen Gemeinde erfahren, hat hin und her überlegt, wie er am schnellsten von der Türkei nach Griechenland kommt, um zu klären und zu schlichten. Er ist gelaufen. Leute, hat Paulus den Korinthenkackern unter der Christen gesagt, es gibt einen Weg zwischen Beliebigkeit und extremen Idealen! Ihr müsst diskutieren. Ihr müsst das Für und Wider abwägen, um dann Schritt für Schritt zu einer eigenen Meinung zu kommen, so der Apostel.

Das mit der eigenen Meinung ist natürlich schwer, selbst heute noch. Soll man eher dem Internet glauben, der katholischen Kirche, Karl Marx oder der Stuttgarter Zeitung? In Korinth gab es seinerzeit keine TAZ mit Kontext, kein ZDF, keine Leitmedien, kein Freies Radio, nur halt die Römerbriefe, handgeschrieben. Wer also sollte den Korinthern sagen, was zu machen wäre, um aus der Misere rauszukommen? Paulus!

So hört denn: Die Prozesse zwischen Gemeindegliedern nahmen zu, der Umgang mit Prostituierten wurde zur Regel, es gab – wie heute bei Kardinal Marx – Probleme beim Abendmahl. Die Leute wollen eben immer alles alleine aufessen, und vor allen gab es, wie heute im christlichen Abendland und bei Sahra Wagenknecht, ganz, ganz große Unsicherheiten bezüglich der Auferstehung nach dem Tode.

Ich hoffe das Beste für mich, denn ich würd' ja gern nach meinem Tode noch das eine oder andere sagen. Kurzum – vieles ist heute noch so wie seinerzeit bei den Römern, ob es nun die Versprechen ans Jenseits sind, oder, noch schlimmer, die Versprechen ans Diesseits. Auf Nichts ist kein Verlass, nicht mal auf die Wählerinnen. Und in der DDR war die Wahlbeteiligung deutlich höher.

Egal. Gauleiter Tino Chrupalla freut sich natürlich, dass jeder vierte Wähler zwischen 18 und 30 für die AfD stimmte. 80 % der 2,2 Millionen Einwohnerinnen sind konfessionslos – und trotzdem! Putin, Gauland, Vonovia und Deutsche Wohnen, maoistische Masken für Bettler und Behinderte, Rückzug aus Afghanistan, Ärztemangel, der niedrigste Ausländeranteil weltweit, Abwanderung zwischen Bitterfeld und Südharz, Aspirin in der Kacke und Plastik im Boden, Klimaschwindel und Klimawandel – vielleicht hat Gott mitgewählt. Das Gegenteil können Sie mir nicht beweisen. Die Moral ist im Sinkflug, die Lügen von gestern längst vergessen, und auch der Journalismus ist heute nicht mehr das, was er früher mal war.

Nur bei den Kosten zu S21 gibt es einen Höhenflug. Erinnern wir uns: Vor 10 Jahren hat der damalige OB Wolfgang Schuster rechtswidrig und demokratiefeindlich auf die Adressen der Wahlberechtigten der Stadt zugegriffen – als Stadtoberhaupt einen offenen Brief mit persönlicher Anrede geschrieben und den Teufel an die Wand gemalt. Mit diesem Datenmissbrauch bei der Volksabstimmung hat Schuster den Menschen Angst eingejagt und vor einem Schadenersatz in schwindelerregender Höhe gewarnt. 100 Hektar bezahlbarer Wohnraum, 5.000 Bäume werden gepflanzt, das Klima gesegnet, und ­– klatscht vor Freude in die Hände – und wir hätten endlich Anschluss an Europa!

Gesehen, gelesen, geglaubt. In der einen Woche jammern die Leitmedien gemeinsam mit Dinkelacker, Hofbräu, Wulle und der deutschen Jugend über den Lockdown, Masken und Ausgangssperren und heizen den Leuten so richtig ein. Letzte Woche druckte mein Heimatblättle ein großes Foto ab: Eine Vierer-WG mit 4 vollen Maßkrügen. Die Freiheit ist zurück, jetzt geht's lo-hos! Auf, alles in die City, Milaneo, Gerber, Königsbau-Passagen, nicht lang' fragen – das meiste kannste besoffen nur ertragen. Katzenjammer dann am Montag: Stuttgart heißt plötzlich Krawall-gart. Ein Prost an die Redaktion!

Natürlich kommt ein Dementi, wie bei den Masken gestern: Gesundheitsminister Spahn (CDU) will die zweifelhaften Masken gar nicht nur obdachlosen Maoisten schenken, sondern nach Afrika schicken. Allerdings nur die gebrauchten Masken. Wie beim Abfall.

Bei den Medien geht's um Deutungshoheit, um die Definitionsmacht: Wer sagt, was wir heute verbrauchen sollen? Was zu kaufen ist? Was zeitgemäß und modern ist? Wer sagt, welche Produkte unverzichtbar sind? Wer sagt, wie wir in Zukunft zusammenleben wollen? Was wir verlangen, was die Öffentlichkeit verlangt, was auch die selbstgestellte Aufgabe der Medien ist, orientiert sich an Normen wie Objektivität, Neutralität, Ausgewogenheit oder Unparteilichkeit. Das war erstens bislang fast noch nie einzulösen und passt 2. auch nicht ins Geschäftsmodell Kapitalismus.

Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es seit 2019 im Rundfunkvertrag einen Auftrag, nämlich als „Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen“. Theorie! Man könnte es mit dem Brandschutz bei Stuttgart vergleichen: Es darf halt nicht brennen. Die Vorschriften sind absolut eindeutig, Wenn das nicht das große Aber wäre: Für die insgesamt 60 Tunnel-Kilometer bei S21 ist die Evakuierung von Fahrgästen bei einem Brand leider nicht digital simuliert worden.

Mal ganz unter uns: Ich würde bei einem Brand nie Zug fahren! Einfach vorher aussteigen. Und auch nicht Gondel am Lago Maggiore. Da hängst du in den Seilen, wenn's gut geht, wenn die Bremsen funktionieren ...

Wenn da nicht der Mensch wäre, wenn da nicht der Druck wäre, der Druck vom großen Mann auf den kleinen Mann, Kohle zu machen, für Profit zu sorgen... Der Mensch ist jemand, der Fehler machen kann, der Mensch, der falsch plant, der mehr gehorcht als denkt, der Mensch, der irren kann. Auch die Vorschriften für Gerüste sind eindeutig, ob nun auf den S21-Baustellen unter der Erde, ob im Tal oder auf der Höh'. Peter, mit so einem Wetter kann doch niemand rechnen, sagt man mir. Dass die Wassermassen ein Gerüst wegreißen, Herr Grohmann, das ist äußerst selten, glauben Sie mir! Wir tun auch alles, damit die Gullys nicht überlaufen. Nicht nur das: Den Gullys ist das Überlaufen verboten, und den Gerüsten das Einstürzen.

Und damit hat doch niemand gerechnet, dass der Mai so kalt wird! Die Sache mit dem Klimawandel hat doch niemand geahnt! Dass die Buchen im Buchwald verrecken, weil kein Regen kommt. Dass die Eichen im Eichenhain absterben, weil es zu heiß war. Dass die Fichten und Tannen und Lerchen leiden – hätten Sie das geahnt?

Ich will ihnen jetzt mal was sagen, am 7. Juni 2021: Vor genau 65 Jahren haben wir in Markelfingen am Bodensee für den freien Zugang zum See demonstriert und jeden Tag ein anderes privates Seeufer besetzt. Bis die Polizei kam. Da waren wir aber schon auf einem anderen Grundstück. Seeufer müssen laut Bayerischer Verfassung frei zugänglich sein. Schön, werden Sie sagen, da regieren ja auch nicht die Grünen.

Westdeutschland in den Siebzigern: Da wussten wir Jungen schon etwas vom Waldsterben. Wir wussten was von Rechtsradikalen und Verbrechern und alten Nazis in der Bundesregierung, wir wussten von Filbinger und Kiesinger und Globke und den Scharfmachern, die gern Atomwaffen wollten. Wir waren Umweltschützer und Protestierer, gründeten das Parteifreie Bündnis, wir waren Kriegsdienstverweigerer und Internationalisten und setzten uns für die Anerkennung der DDR ein – doch die Luft war voller Hass und voller Blei und voller Ruß, sogar der Regen sauer. Nur die Grünen gab's noch nicht. Die Städte wurden zubetoniert, Historisches wurde abgerissen, das Kaufhaus Schocken, das Kronprinzenpalais, Güterabfertigung altes Zollamt, Häuserfronten in der Neckarstraße. Kommunales Eigentum wurde verscheuert, und die schönste Straßenbahnstrecke der Welt – von der Hohenheimer Straße nach Degerloch mit bester Aussicht auf die Stadt zwischen Wald und Reben – kam unter die Erde. Wir hatten den Blick in unseren Himmel, doch die hatten ihren Fimmel: Der Tunnelblick ist geblieben, voll unterirdisch. Die Autos dürfen oben spielen, großspurig, vierspurig, mit der Stuttgarter Zeitung im Hintern vom Daimler. Die Presse jubelte – nur wir bevorzugten weiter den freien Blick.

Heute jubelt die Presse klugerweise nicht mehr zu laut über S 21, sondern macht sich für die innovative Technik stark. Gerade eben – im Mai/Juni – erschien wieder das 60-seitige Stuttgarter Zeitung Magazin – für mobiles Leben, Technik und Stil. Hochglanz im Sonderformat für die dicksten Autos der Welt. Da durfte für die Redaktion sogar eine Frau Probefahrt machen – im roten Ferrari, 1,5 Tonnen – eine Frau, aber halt von der Presse, da weiß man, was läuft. Das Auto der Zukunft, heißt es in der StZ, fährt elektrisch. Ein Auto- Porno. Angeboten werden dann u.a. der Porsche Taycan – „mit 356 mm mehr Kopffreiheit“, Preis 93.600 Euro. Greifen Sie zu, Herr Adler! Oder nehmen Sie den neuen Audi e-tron, 598 PS, 99.800 Euro – oder doch lieber den Mercedes EQS mit gigantischem Bordmotor, für Luxus- und Elektro-Enthusiasten, 520 PS, 110.000 Euro. Mein Urteil: Pervers und unverschämt!

Lasst uns auch heute nicht den Ärger und die Wut über die staatstragende Atomclique vergessen, lasst uns nicht vergessen, was wir geschafft haben in Wyhl, in Brokdorf, in Wackersdorf. Wir haben gemeinsam für die Natur gekämpft, für Verständigung mit den Nachbarn, für mehr soziale Gerechtigkeit. Wir haben, bevor es die Grünen gab, die Forstwissenschaftler Bernhard Ulrich und Peter Schütt ins Gustav-Siegle-Haus eingeladen, mit ihnen die Reduzierung des Autoverkehrs gefordert, auf das Waldsterben aufmerksam gemacht, eine Verbesserung der Luftreinhaltung gefordert. Für eine lebenswerte, autofreie Innenstadt. Das war 1979.

Und um nochmal auf die Presse zu kommen: Burkhard Müller-Ullrich ist Journalist und beim Bund Deutscher Sportschützen. Er fährt Diesel mit AdBlue, ist Lufthansa-Senator und isst gern Froschschenkel und Gänsestopfleber. Nein, nicht was Sie jetzt meinen – er prahlt damit. Damals, als ich noch nicht so viel redete, schimpfte Müller auf die Medienhysterie über das Waldsterben – das sei „ein Holzweg“, der Wald sterbe gar nicht. Dann geht's nach Tschernobyl: ein „Medien-GAU“, schimpft er – ist ja alles gar nicht so gefährlich. Müller Ullrich ist Autor beim SWR.

Um noch einmal auf die dicken Autos, dünnen Wohnungsbau, unerwünschte Großprojekte und die AfD zurückzukommen: Im Facebook wird gefragt: Was schadet Eichen? Die Dummheit der Menschen.

In den Leitmedien entsteht das „Gedächtnis der Gesellschaft“. Alle haben das gleiche gesehen, gelesen und gehört – aber die Leitmedien wissen, was ist und was sein darf, sagt sinngemäß Michael Meyen. Wir brauchen Pluralismus, publizistische Vielfalt, Zugang zu allen relevanten Informationen, wir brauchen Menschen, mehr Menschen, die im Namen der Öffentlichkeit handeln, wir brauchen uns und Euch und jeden. Eure Ausdauer und Standhaftigkeit über Jahrzehnte. Transparenz und Meinungsfreiheit sind nötig – nicht nur auf dem Papier der Landesregierungen. Und: Transparenz darf man sich nicht erst vor Gericht mühsam erkämpfen müssen, das weiß Dieter Reicherter.

Mit dem Glaubwürdigkeitsverlust haben auch Regierungen und Parlamente zu kämpfen, traditionelle Parteien, Kirchen, Institutionen, letztlich die Institution Demokratie. Die kann ihre Versprechen, ihren Anspruch auf Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit nicht mehr erfüllen. Immer mehr Menschen fühlen sich ausgegrenzt, im Stich gelassen – das Vertrauen schwindet, weil es immer mehr Menschen gibt, die die Institutionen meilenweit entfernt von der Realität sehen.

Thilo Scholpp von der FDP hat jüngst die Klimabewegung Fridays for Future in einer Mail beleidigt. „Was für Arschlöcher“, schrieb er in der Email, die in falsche, also die richtigen Hände geriet. Fridays for Future hatte den Spezialisten um Antworten auf einen Fragebogen zur Klimapolitik gebeten. „Ein eitler Fatzke“, würde meine Omi Glimbzsch in Zittau sagen. Das ist die Arroganz der Macht. Deshalb: Brecht die Macht der Manipulateure! Haltet der Demokratie die Stange! Wer, wenn nicht wir! Wann, wenn nicht jetzt! Das Gedächtnis der Gesellschaft ist kurz. Betreutes Denken, sagt uns Bruno Schollenbruch, war gestern. Heute brauchen wir Wagnis und neue Ideen, andere Innenstädte, radikale Umbrüche.

Thomas Müntzer aus Stolberg im Harz, tot seit fast 500 Jahren, ein christlicher Revoluzzer aus Sachsen-Anhalt, stand für die gewaltsame Befreiung der Bauern, für eine gerechte Gesellschaftsordnung Heute ist Sachsen-Anhalt die von vollautomatischen Maschinen (KI) geprägte Kornkammer Deutschlands – mit viel Mikroplastik in Erde und Brot. Die Bauern sind befreit und arbeitslos. Die aufgehobenen Privilegien sind wieder da, nur die von Müntzer geforderte Armenspeisung gibt es noch. Um mit Prediger 1.13 zu schließen: „Alles ist Eitelkeit. Welchen Gewinn hat der Mensch bei all seiner Mühe, womit er sich abmüht unter der Sonne? Weh dem, der allein ist, wenn er fällt! – Dann ist kein anderer da, der ihm aufhilft. –Auch, wenn zwei beieinanderliegen, wärmen sie sich. – Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen, und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei“. Das gibt uns Prediger 4.12 auf den Weg in die Woche.

Heute würde der Prediger fragen: Wessen Mühen? Wessen Land? Wessen Stadt?

Die Antwort heißt: Oben bleiben!

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