Alarm des Weltklimarates – Notruf aus dem Ahrtal: Baustopp S21! Wann, wenn nicht jetzt?

Rede von Dr. med. Dipl. Psych. Angelika Linckh, Parkschützerin, auf der 575. Montagsdemo am 16.8.2021

Meine Damen und Herren, liebe Freund*innen,

die Titelseiten der Zeitungen waren vergangene Woche voller Schlagzeilen wie „Erderwärmung um 1,5 Grad wird bereits 2030 erreicht.“ Und wir sahen besorgte Gesichter der Moderator*innen im Fernsehen: Der neue Bericht des Weltklimarates IPCC zur Dynamik des Weltklimas war veröffentlicht worden. Die aktuell beste verfügbare Wissenschaft sagt: Weil die klimaverändernden Folgen unserer CO2-Emissionen uns mit etwa 10 Jahren Verzögerung einholen, wird die Erderwärmung um 1,5 Grad schon 2030 eintreten, also zehn Jahre früher als bisher angenommen.

Die Katastrophen in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz, in Griechenland, in der Türkei, in Italien, in Sibirien, in Algerien sind die Vorboten dessen, was kommen wird. Sie sind bereits Ergebnisse der Veränderungen des Weltklimas und keine unglücklichen, einzelnen „Jahrhundertereignisse“. Sie haben eine gemeinsame Ursache.

Wir alle, unsere Gesellschaft, die gesamte Zivilisation, wir sind in einer echten Notlage. In einer tiefen Krise. Um bei diesen 1,5 °C Erwärmung bleiben zu können, müssen wir in weniger als fünfeinhalb Jahren unsere CO2-Emissionen radikal senken. Das ist ein sehr kurzer Zeitraum.

Vor fünfeinhalb Jahren hatten wir unsere 310. Montagsdemo gegen Stuttgart 21. Die Zeit verfliegt, und es besteht die Gefahr, dass wir Kipppunkte im komplexen Klimasystem der Erde in Bewegung setzen, die nicht mehr durch unser Handeln zu beeinflussen sind – wenn wir weiter so wirtschaften und leben, wie bis heute!

Sicher ist: Wir brauchen jetzt sofort eine immense klimapolitische Anstrengung. Ansonsten droht das ungebremste Klimachaos mit nicht abschätzbaren Folgen. Jedes Zehntel Grad verhinderter Erwärmung zählt! Alles, was jetzt noch emittiert wird, entscheidet über die Intensität der Klimakrise.

Doch so alarmiert die Medien und die politisch Verantwortlichen für ganz kurze Zeit waren, so schnell ist die Dramatik der Klimakrise wieder als Top-Thema verschwunden. Wo doch die Aufgabe, die Klimakrise einzudämmen, eine so überlebenswichtige Herausforderung ist, dass sie täglich die Titelseiten füllen müsste!

Wem wirklich bewusst ist, wie dramatisch die Klimafolgen die eigenen Kinder treffen werden und wie klein das Zeitfenster ist, in dem wir noch handeln können, kann Ablenkmanöver nicht länger aushalten. Sei es die Ablenkmanöver durch das Abwälzen der Verantwortung auf andere Länder oder durch technikgläubige Verweise auf zukünftige Wundertechnologien. Auf Wundertechnologien zu hoffen, ist übrigens kein Optimismus, sondern Ignoranz.

Jede Entscheidung, jedes Bauprojekt muss jetzt auf den Klimaprüfstand mit der Fragestellung: reduziert es den CO2-Ausstoß spürbar?

Stuttgart 21 reduziert keinen CO2-Ausstoß, sondern erhöht ihn – Ihr kennt die Details, ich muss sie hier nicht wiederholen! Warum also jetzt nicht hier in Stuttgart beim Klimaschutz vorangehen mit einem Baustopp bei Stuttgart 21 und dem klimaschonenden Umstiegskonzept? Das Aktionsbündnis hat es vorgelegt und solide durchrechnen lassen.

Doch Medien und Politik beachten bisher unser Umstiegskonzept wenig bis gar nicht oder titeln völlig ignorant wie Konstantin Schwarz gestern online: „S21 Gegner wollen Halle teils schleifen“.

Für das Umstiegskonzept und gegen den Weiterbau sprechen mindestens folgende 3 Argumente:

  1. Kein weiterer CO2-trächtiger Stahlbeton für „Ergänzungsbauwerke“ – geplant sind weitere fast 50 km Tunnel, die mit S21 doch kein ausreichendes Zug-Angebot möglich machen können!
  2. Das Gleisfeld des Kopfbahnhofs kann belassen werden als Kühlkörper für das Stuttgarter Kesselklima, und die Frischluftschneise „Rosenstein“ wird nicht überbaut!
  3. Und das bisher Gebaute kann klimaverträglich und zukunftsfähig umgenutzt werden !

Ein Umstieg und Baustopp könnte also jetzt sofort unsere Lebensqualität hier in Stuttgart deutlich verbessern und wäre für kommende Generationen lebenswichtig.

Wir Menschen sind nicht blöd: die meisten spüren, dass wir auch für unser persönliches Leben Konsequenzen ziehen müssen. Was ist uns wichtig im Leben? Worauf kommt es wirklich an?

Dass wir unsere Konsum- und Lebensweise verändern müssen, wissen viele. In der taz hat Hengameh Yaghoobifarah die Klimaschutz-Wirkung unseres individuellen Verhaltens richtig eingeordnet: „… klar ist, dass nicht individuelle Konsumentscheidungen zu den maßgeblichen Veränderungen führen werden, auch wenn wir uns das vielleicht wünschen würden. Sondern Politiker_innen müssen endlich große Unternehmen in die Verantwortung nehmen. Es ist ein Gefühl der Ohnmacht: Die Erde geht unter und ich kann so viel ... radeln, wie ich will, aber es wird so viel am Klimaverlauf ändern wie eine schwarz-grüne Bundesregierung. Um das Klima zu retten, braucht es eine konsequent antikapitalistische Haltung. Die Grünen bringen die nicht mit, die CDU/CSU schon gar nicht.“

Die politisch Verantwortlichen, die trotz der bedrohlichen Diagnosen des Weltklimarats weiter machen wollen wie bisher, machen nicht einfach nur einen „Fehler“. Sondern sie werden zu Tätern. Und zwar dadurch, dass sie nur vorgeben, handeln zu wollen. Diese Leerstelle, diese abgrundtiefe Kluft zwischen Reden und Handeln müssen wir anprangern. Und wir müssen die Täter politisch scharf angreifen! Wir brauchen Staatsanwält*innen, die Profiteure der Klimazerstörung anklagen. Wir brauchen Medien, die offen legen, wem die Zerstörung nützt. Wir brauchen politisch Verantwortliche, die unsere Steuergesetze so ändern, dass Klimagerechtigkeit belohnt wird und nicht das Gegenteil!

Unsere Bürgerbewegung leistet dazu einen Beitrag, indem wir fordern: Der Klimaskandal Stuttgart 21 muss auf den Prüfstand, Baustopp jetzt, um ein klimaschonendes Umnutzungskonzept zu diskutieren!

Nach der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen gibt es auch ganz dringende aktuelle Gründe dafür: die Infrastruktur dort ist so zerstört, dass bereitgestellte Milliarden alleine nicht helfen, sie wieder herzustellen. Die Bürgermeisterin aus dem Ahrtal hat das im Tagesthemen-Interview unmissverständlich erklärt. Sie war sehr klar, sehr erschöpft und hat gemeinsam mit den anderen Bürgermeistern der betroffenen Gemeinden einen offenen Brief an die Bundespolitik geschrieben.

Sie sagte: Milliarden für den Wiederaufbau sind gut – aber mit Beschlüssen, Geld bereit zu stellen ist die zerstörte Infrastruktur noch nicht wieder aufgebaut. Sie hat darauf hingewiesen, wie schwierig es ist, an die riesigen Mengen Material für den Wiederaufbau tausender Häuser, Straßen, Brücken, Kanalisation überhaupt heranzukommen, an die Baumaschinen und an fähige Ingenieur*innen, Handwerker*innen und Arbeiter*innen, die die Großaufgabe umsetzen können.

Die Ahrtalbürgermeisterin forderte in dem Interview deshalb sehr eindrücklich eine „Nach-Hinten-Priorisierung aller Großprojekte von Land und Bund“!

„Nach-Hinten-Priorisierung aller Großprojekte“ – das bringt es auf den Punkt: kein Mensch braucht jetzt einen Weiterbau von Stuttgart 21, kein Mensch braucht eine A49 oder irgendeine Autobahnerweiterung, alle Ressourcen müssen dort hin, wo sie jetzt so dringend gebraucht werden!

„Nach-hinten-Priorisierung aller Großprojekte“ heißt erstens schnellen Wiederaufbau dort, wo die Folgen der beginnenden Klimakatastrophe Wiederaufbau erfordern. „Nach-hinten-Priorisierung aller Großprojekte“ heißt zweitens: Zeit gewinnen, um diese Großprojekte angesichts der schnell näher kommenden Kipppunkte auf den Klima-Prüfstand zu stellen.

Und um Prioritäten dort zu setzen, wo sie für uns existentiell wichtig sind: für eine Wirtschaft ohne kapitalistischen Wachstumszwang, der gleichzeitig Renditen und Aktienkurse in die Höhe treibt – und Brand-Katastrophen wie zum Beispiel am Mittelmeer im wahrsten Sinne des Wortes „befeuert“.

Jeder Tag früher, an dem Projekte wie Stuttgart 21 gestoppt werden, ist ein Beitrag dazu, die Klimakatastrophe zu verhindern. Und für uns in Stuttgart ein notwendiger Beitrag unserer Stadt.

Wir werden deshalb nicht aufhören, das den „Tätern“ immer und immer wieder vorzuhalten und wir werden und müssen noch lauter werden, wenn sie sich weiter taub und blind stellen!

Danke für Eure Aufmerksamkeit,

Oben Bleiben!

Rede von Angelika Linckh als pdf-Datei

 

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