Rede von Joe Bauer, Stadtflaneur, Autor und Journalist, am 11. Jahrestag des Schwarzen Donnerstags am 30.9.2021

Schönen guten Abend an diesem 30. September,

verehrte Stuttgarter Protest-Gesellschaft. Ich grüße Euch vor unserem zerfallenden Denkmal der mutwilligen Zerstörung.

Die Kunst hat uns gelehrt, dass auch Steine sprechen können. Und wenn die Steine genug gesprochen und die meisten Menschen nicht zugehört haben, dann fallen sie eben aus der Wand. Immerhin waren die Muschelkalkbrocken dieser Ruine hier so freundlich, bei ihrem Sturz aus der Fassade niemanden zu erschlagen. Es waren solidarische Steine. Sie haben lediglich ein hässliches Loch in der Wand hinterlassen, und hässliche Löcher sind symbolisch für Stuttgart 21 und den Umgang mit einer Stadt, deren Politik die Stadtplanung den Immobilien-Spekulanten zugeschanzt hat.

Der Name „Schwarzer Donnerstag“ steht ja auch für ein großes schwarzes Loch – für die dunklen politischen Machenschaften, die das Lügen als legales Propagandamittel betrachten. Natürlich nennt man Vertuschen, Lügen und Verharmlosen nicht Propaganda, sondern Kommunikation. Und die allermeisten fallen darauf rein.

Neulich war ich wieder in dieser Stuttgarter Bahnhofsruine, um eine Freundin an einem Bahnsteig irgendwo im Nirwana abzuholen. Der Zug hatte Verspätung, ich stand eine Weile herum, ehe mich eine junge Frau ansprach: „Suchen Sie Hilfe?“ – „Nein“, sagte ich, „auf diesem Bahnhof kommt jede Hilfe zu spät.“ Dann sah ich das Shirt der jungen Frau mit der Aufschrift: „Baustellen-Buddy“. BB. Ich muss jetzt bei dieser ach so originellen Bezeichnung aus der Stabreim-Abteilung des Propaganda-Büros auf die präzise Aussprache achten: Es heißt „Buddy“, hart und schnell mit einem A-Laut gesprochen. Also nicht etwa „Body“, weich mit einem angedeuteten O-Laut. „Buddy“ bedeutet „Kumpel“. „Body“ heißt Leiche.

Ich wäre keinesfalls überrascht gewesen, auf dieser Stuttgarter Chaos-Station einer Baustellen-Leiche zu begegnen. Vielleicht war sie gerade aus einem zum Himmel stinkenden Milliardengrab namens Stuttgart 21 geflüchtet.

Die junge Frau mit ihrem Hostessen-Trikot drückte mir eine kleine Tüte in die Hand. Die enthielt, wie ich nach der Sezierung mit meinem Schweizer Messer feststellte, sieben Gummibären. Auf dieser Plastiktüte mit dem Logo der Deutschen Bahn steht zu lesen: „Neue Wege im alten Bonatzbau. Wir bitten um ihr Verständnis“.

Diese neuen Wege bedeuten für Bahnreisende: Willst du nach München, ist es vernünftiger, die erste Etappe bis Ulm zu Fuß zurückzulegen. Das geht wesentlich schneller, als auf den neuen Umwegen durch den halben Stuttgarter Kessel im kaputten Bonatz-Bau ein Gleis zu finden.

Jetzt könnt Ihr fragen: Was hat das mit dem Schwarzen Donnerstag zu tun? Kann ich Euch sagen. Es geht um die Absurdität des Profitwahns und seiner Folgen. Am 30. September 2010 haben die Stuttgarter Landesregierungs-Versager und die Rathaus-Leuchten mit Dollar-Zeichen in den Augen eine Armee schwer bewaffneter Bullen in Gang gesetzt, um ein idiotisches Milliardenprojekt durchzuprügeln. Und vom Schwachsinn dieses Großbau-Desasters soll uns heute eine Gummibären-Offensive ablenken. (Haribo macht Kinder froh.)

Wenn wir uns heute hier zum 11. Jahrestag eines deutschen Kapitels brutaler Staatsgewalt getroffen haben, dann darf es uns nicht nur um Erinnerungen gehen. In der Praxis der sogenannte Erinnerungskultur stört mich seit jeher, dass sie uns viel zu selten an die Gegenwart erinnert, sondern uns vorgaukelt, Verbrechen seien abgeschlossen und aufgeklärt. Dass sich in elf Jahren nichts geändert hat, wurde uns doch erst unlängst von einem Gericht bestätigt: Auch die Räumung des Hamburger Forsts und die Gewalt gegen die Demonstrierenden waren rechtswidrig.

Das Zusammenspiel von politischer Macht und Polizeigewalt gehört zum Alltag. Denken wir an den Umgang mit Menschen, die eine andere Hautfarbe haben als Weiße – man nennt sie People of Colour. Denken wir an die Vertreibung junger Menschen von Stuttgarts öffentlichen Plätzen. Oder an Polizeigewalt bei Aktionen gegen Nazis. Auch die organisierte Zusammenrottung brauner Kräfte in den Kreisen von Polizei und Militärs sind nun mal Fakt – und keine linke Propaganda. Selbstverständlich dürfen wir nicht pauschalisieren. Aber die Augen müssen wir offen halten.

Vor ein paar Tagen waren Bundestagswahlen, und weil die AfD in einigen Gegenden Stimmen verloren hat, wird schon wieder so getan, als sei der Rechtsextremismus kein Problem. Das ist ein Irrglaube, das ist Verharmlosung. Der rechte Sumpf, die Gefahr der Neuen Rechten spiegeln sich nicht in Wahlergebnissen. Auch die Verbindungen von extrem Rechten und sogenannten Querdenkern sind extrem gefährlich.

Selbstverständlich gibt es das Recht, politische Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie zu kritisieren. Wer aber mit Faschisten gemeinsam marschiert – und dies auch noch wissentlich – hat jede Glaubwürdigkeit verloren. Wer sich nicht von Rechtsextremen distanziert, ist ein Feind der Demokratie. Da gibt es keine Ausreden. In diesem Land hat man lange genug von nichts gewusst. Geschichte ist Gegenwart. Das müssen wir uns immer wieder vor Augen führen. Vergangenheit vergeht nicht. Sie ist immer präsent.

Auch die Bundestagswahl ist noch nicht ausgestanden. Über den Sinn von Wahlen lässt sich streiten. Der Kabarettist Max Uthoff hat gesagt: „Wenn an einem Sonntag um 18 Uhr wieder klar sein wird, dass sich von 78 Prozent, die mitgemacht haben, nur neun Prozent eine sozialere Gesellschaft wünschen, während über 70 Prozent die ängstliche Verteidigung ihres Status quo bevorzugen und aber auch über zwölf Prozent hundertprozentige Arschgeigen wählen, habe ich an dem Vorgang tendenziell null Interesse.“

Tendenziell könnte man dieses Zitat so auslegen, als wollte ich zum Nichtwählen aufrufen. Keineswegs. Ich selber wähle immer, auch im Wissen um meine Nichtsnutzigkeit als Wähler. Max Uthoffs Sätze betrachte ich viel mehr als Aufforderung, sich nicht damit zu begnügen, seine Stimme abzugeben. Wir müssen auch den Mund aufmachen. Wenn Wahlen nichts verändern, dann haben wir immer noch die Straße, uns für oder gegen etwas zu engagieren. Und auf der Straße kommt es darauf an, die Gemeinsamkeiten verschiedener Bündnisse zu erkennen. Und solidarisch mit ihnen zu sein.

Längst wissen wir, dass Stuttgart 21 ein monströser Klima-Killer ist. Die meisten von uns haben verstanden, dass es bei Stuttgart 21 nie um einen Bahnhof ging, sondern um ein Immobilienprojekt und Bodenspekulation. Wohin die Wohnpolitik der Vergangenheit geführt hat, erfahren wir ganz besonders in Stuttgart. Wir haben die höchsten Mieten in der ganzen Republik. Was das in einer Krise wie in den Zeiten der Pandemie bedeutet, können uns viele Menschen erzählen. Beispielsweise in der Kunst- und Kulturarbeit oder im Studium, seit anderthalb Jahren habe ich aufgrund unserer Initiative Künstler*innensoforthilfe mit diesen Leuten täglich zu tun.

Genauso wissen wir, dass die Staats- und Polizeigewalt am 30. September 2010 kein einmaliges Ereignis war. Sie gehört zum politischen Alltag. Diese Dinge ändern wir nicht durch Wahlen. Wir dürfen sie nicht stillschweigend hinnehmen. Wir müssen uns besser vernetzen als bisher und gemeinsam etwas tun.

Liebe Freundinnen und Freunde, ich hoffe, es ist mir gelungen, Euch heute eine neue wissenschaftliche Erkenntnis deutlich zu machen: Es gibt eindeutig historische und politische Zusammenhänge von Gummiknüppeln und Gummibären. Beide schaden übrigens der Gesundheit.

In diesem Sinne: Auf der Straße bleiben!

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