Rede von Dr. Gregor Gysi, MdB, auf der 587. Montagsdemo am 15.11.2021

Einen schönen guten Tag, liebe Stuttgarter und Stuttgarterinnen, liebe Gäste der Stadt,

die Moderatorin Angelika Linckh sagt, ich sei einer der geistreichsten Politiker, die sie kennt. Ich weiß ja nicht, wie viele sie kennt. Wenn sie natürlich nur drei kennt, dann ist es ja nicht so schwer, der Geistreichste zu sein. Also, man muss bei solchen Würdigungen immer vorsichtig sein, darauf wollte ich nur mal hingewiesen haben. Es war trotzdem eine insgesamt sehr nette Begrüßung.

Zunächst soll ich was zur Ampel sagen. Die gibt es ja noch nicht, die ist gerade bei der Geburt. Aber drei Sachen wissen wir schon. Das erste ist interessant: Grüne und SPD wollten für bestimmte, sehr vermögende Kreise Steuererhöhungen, die FDP wollte Steuersenkung. Nun haben sie sich darauf verständigt, dass es weder Steuersenkung noch -erhöhung gibt, dass heißt: Wir erleben eine Nullrunde, es bleibt einfach so, wie es war. Das finde ich nicht besonders spannend, um das mal klar zu sagen.

Das Zweite: Der Mindestlohn. Nun hat Scholz überall erklärt, wenn er Kanzler wird, gibt es einen Mindestlohn von zwölf Euro. Und da wird er zur FDP gesagt haben, da kommen wir nicht drumherum, wenn er jetzt auf 11,80 Euro geht, dann wird er landesweit vorgeführt. Aber keiner hat gemerkt, welcher Kompromiss geschlossen wurde. Der Kompromiss lautet: Nach 2022 werden nur noch die Vorschläge der Mindestlohnkommission umgesetzt. Das ist ein Verzicht auf politische Entscheidung. Das heißt, drei Parteien vereinbaren, dass sie keine politische Entscheidung treffen, ganz egal, was die Kommission vorschlägt. Man kann den Vorschlag unterschreiten, man kann ihn überschreiten, man kann ihn annehmen. Aber zu vereinbaren, dass man darüber nicht mal mehr berät, dass es keine Debatte gibt, finde ich ein ziemlich starkes und auch undemokratisches Stück.

Und dann hat man sich auf noch etwas geeinigt: nämlich, dass es auf den Autobahnen keine Geschwindigkeitsbegrenzungen geben soll, also keine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung. Ich glaube, dass wir das letzte Land auf der Welt sind, dass das nicht kennt.

Und sie wissen ja, dass die Glaubwürdigkeit der Politik permanent abnimmt. Es sind jetzt 30 %, die – von CDU bis zur Linken – nichts mehr damit anfangen können. 20 % gehen sowieso nicht wählen, die trauen niemandem über den Weg. Wir kennen das auch von den Demonstrationen hinsichtlich der Impfpflicht. 10 % wählen AfD, die haben die Demokratie ja auch abgeschrieben, so komme ich auf insgesamt 30 %. Und da gibt es viele Gründe. Der eine Grund besteht darin, dass die Wirtschaftsbosse immer mächtiger sind als die Bundesregierung. Aber wir haben ja Demokratie nur in der Politik, das heißt indirekt können sie die Kanzlerin wählen oder auch abwählen, aber sie können niemals entscheiden, wer Chef der Deutschen Bank wird. Und dass der mächtiger ist als die Kanzlerin, geht nicht in Ordnung. Und so entsteht schon mal ein tiefes Misstrauen.

Der zweite Grund besteht darin, dass die wirklichen Beweggründe für politische Entscheidungen nicht benannt werden. Also heute ist es so – noch regieren CDU und SPD – die setzen sich zusammen und entscheiden was. Dafür haben die ja Beweggründe, aber diese nennen sie nicht. Der nächste Tagesordnungspunkt lautet, wie verkaufen wir es an die Bevölkerung? Und dann überlegen sie sich eine Argumentation, von der sie meinen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sie teilt. Das ist interessant, weil die Bevölkerung dafür einen Instinkt hat. Sie merken, dass sie auch belogen werden und das vertieft das Misstrauen gegenüber der Politik ganz generell, das darf man nicht unterschätzen.

Ich nenne mal ein Beispiel – weil ich gerade von der generellen Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen gesprochen habe – ich liebe das, wenn der Bundesverkehrsminister in einer Talkrunde ist und dazu Stellung nimmt. Dann sagt er immer „Also, ja, es ist gar nicht bewiesen, dass es dadurch wirklich weniger Unfälle gäbe.“ Was ich nicht versehe. Warum kann er nicht sagen: „Hören Sie mal zu, die Bosse der Fahrzeugindustrie sitzen mir derart im Nacken und erzählen, wenn ich eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung einführe, dann kaufen die Leute nicht mehr die teuren Autos, und das Ergebnis ist ja nicht nur, dass sie weniger Gewinn haben, sondern dass sie auch noch 10.000 Arbeitsplätze abbauen müssen, etc., etc. So stehe ich unter Druck!“ Und dann sage ich, ich würde es aber trotzdem machen und habe mir dafür folgenden Kompromiss überlegt: Man könnte doch für den Nürburgring und für ähnliche Strecken die Erlaubnis für alle Wahnsinnigen in unserer Gesellschaft geben, dass sie dort – immer einzeln und frühestens ab 25 Jahren – starten können – jede Viertelstunde einer. Es ist streng verboten, eine Beifahrerin oder einen Beifahrer zu haben. Das liegt daran: Mord ist strafbar, Totschlag ist strafbar, fahrlässige Tötung ist strafbar, Körperverletzung mit fahrlässiger Tötung ist auch strafbar. Selbstmord ist nicht strafbar – das ist der Unterschied. Und dann steht da immer ein Rettungswagen, und wenn der benötigt wird, ist Schluss. Dann erst wieder am nächsten Tag. Da finden wir zwei, drei Strecken.

Man muss ja diesen Kompromiss nicht ernst nehmen. Ich will nur sagen, wie man die Leute auch davon überzeugen kann, um welche Hintergründe es eigentlich geht – was genau nicht geschieht. Und dann hat die Politik noch die falsche Sprache, sie spricht gerne von der Veräußerung-, Erlös-, Gewinnsteuer, und es interessiert sie überhaupt nicht, dass 95 % der Bevölkerung mit dem Begriff nichts anfangen können, sie übersetzen nicht – was dringend erforderlich wäre. Also mit anderen Worten: Viel erwarte ich nicht von der Ampel, indirekt hat die Linke dadurch eine Chance, selbstgemachte Fehler zu korrigieren, sich neu aufzubauen und dann die wahre soziale Opposition im Bundestag zu sein.

Sie wissen ja, dass Deutschland ein erstklassiger Industriestandort war und ist, aber jetzt haben wir den Anschluss verpasst – bei der Digitalisierung der Gesellschaft. Ich fahre viel durchs ganze Land und ich kann Ihnen sagen, permanent ist mein Handy und damit die Internetverbindung unterbrochen – kein Netz, da spielt sich nichts ab.

Nun habe ich einen Mann getroffen, der war zwei Jahre in dem afrikanischen Staat Uganda. Und der hat mir garantiert, dass dort sein Handy nie unterbrochen war, weder im Tunnel noch auf dem Berg, noch hinter dem Berg, noch vor dem Berg. Deshalb habe ich der Bundesregierung vorgeschlagen, Entwicklungshilfe in Uganda zu beantragen, das muss ja möglich sein.

Und wenn ich nun vom Industriestandort spreche, dann fallen mir noch zwei Dinge ein, nämlich der BER und Stuttgart 21. Es gibt einen tiefen Wettbewerb zwischen Berlin und Baden-Württemberg: Was dauert länger und ist teuer. Erst dachte ich immer, BER gewinnt, es könnte aber doch sein, dass Stuttgart 21 gewinnt. Aber ich finde für unsere Gesellschaft diesen Wettbewerb verzichtbar und er hätte nie stattfinden dürfen!

Stuttgart 21 wurde erstmals 1994 verkündet, von vier Schwaben. Nämlich: Matthias Wissmann, dem Bundesverkehrsminister damals, Erwin Teufel, dem Ministerpräsidenten damals, Manfred Rommel, dem Oberbürgermeister von Stuttgart damals und Heinz Dürr, dem Bahnchef damals. Das ist interessant, denn Wissmann spielte auch die entscheidende Rolle beim BER.

Dazu muss ich Ihnen erzählen, dass es einen Vorschlag gab von einem Konsortium, dass sie Sperenberg ausbauen als Flughafen – das liegt in Brandenburg und war ein russischer Militärflughafen – da wohnen nur 200 Leute, denen hätte man woanders Villen anbieten können, damit sie durch den Lärm nicht belästigt werden. Und dann haben sie gesagt, sie bauen auch die Autobahn und die Bahnstrecke von Berlin und von Potsdam dorthin, das machen sie alles. Und der Bund, Brandenburg und Berlin müssen nichts bezahlen. Ich rede jetzt gar nicht über die Ökologie, sondern einfach nur mal übers Geld, interessanterweise. Also sie müssen nichts dafür bezahlen, nur das Eigentum an Tempelhof, Schönefeld und Tegel an das Konsortium übertragen. Da habe ich gefragt: „Und dann wolltet ihr da weiter fliegen?“ „Nein“, haben sie gesagt „das können sie uns verbieten, aber ansonsten müssen wir natürlich machen können, was wir wollen.“ – „Und wir hätten kein Bargeld zahlen müssen, nichts überweisen?“ –  „Nein“. Abgelehnt von Wissman. Und wissen Sie auch, warum? Weil München und Frankfurt am Main fürchteten, dass sie weniger Passagiere bekommen. Deshalb wollten sie Schönefeld, weil es da ein Nachtflugverbot geben muss. Und deswegen wollten sie die Proteste der Bürger und Bürgerinnen in Berlin gegen Schönefeld, weil sie wissen, dass es dann Einschränkungen gibt, die wiederum München und Frankfurt nützen. Sehen Sie, so um die Ecke muss man denken, um zu verstehen, wie Politik funktioniert. Und ich finde, dass sich das ändern muss, es wird höchste Zeit.

Bei Stuttgart 21 hieß es zunächst, dass die Kosten zwei Milliarden Deutsche Mark betragen werden, das wurde dann umgerubelt, aber nicht in eine Milliarde, sondern in zwei Milliarden Euro. Dabei blieb es nicht: Aktuell sind es offiziell knapp acht Milliarden Euro, und es werden wohl zehn Milliarden und mehr werden. Die Schwaben gelten als ökonomisch und effizient, einen anderen Ausdruck benutze ich nicht – hier hat dieses Wesen versagt.

1994 hieß es, dass der Tiefbahnhof 2000 fertig ist. Heute – ein Vierteljahrhundert später – heißt es, der Tiefbahnhof geht vielleicht 2025 in Betrieb. Alle wissen, das wird deutlich später werden. Damals hieß es auch, der bestehende Kopfbahnhof ist umständlich, man braucht im Untergrund einen Durchgangsbahnhof. Allen Ungläubigen wurde vorgerechnet, acht Gleise im Untergrund als Durchgangsgleise haben mehr Kapazität als die 16 Gleise des Kopfbahnhofs. Nun steht aber im Koalitionsvertrag von Grün/Schwarz für Baden-Württemberg vom Mai 2021 drin, dass man zusätzlich zum S21-Tiefbahnhof mit acht Gleisen noch einen Ergänzungsbahnhof mit mindestens sechs Gleisen benötigt, und der soll dann ein Kopfbahnhof sein, allerdings nicht oben, sondern in der Tiefe. Eine solche Unverschämtheit habe ich selten gelesen, muss ich sagen! Wirklich wahr, dass muss man sich mal überlegen.

Also jetzt zusammen dann doch wieder mindestens 14 Gleise. Aber das dauert ja mindestens weitere 15 Jahre. Das darf man nicht vergessen. Also sagen wir mal, bis 2035, bis der Tunnelbahnhof und der Ergänzungsbahnhof gebaut sind. Dann haben wir bei Stuttgart 21 gut 40 Jahre Planungs- und Bauzeit. Das, muss ich Ihnen sagen, überflügelt die DDR in jeder Hinsicht, das hätte ich nicht für möglich gehalten!

Und was ist mit den Klimafolgen – heute am Tag eins nach Glasgow? Wie viel CO2-Emissionen sind mit diesen gigantischen Tunnelarbeiten, Eisen- und Stahlbewehrungen, Betonverschalungen usw. verbunden? Keiner rechnet das aus. Es wird höchste Zeit, dass die Wissenschaft uns hier mal eine klare Rechnung vorlegt. Das Ganze läuft auf eine Verdopplung der klimaschädlichen Emissionen hinaus.

Nun geht es mir noch um etwas anderes: Was wir eigentlich brauchen ist „Flächenbahn“. Wir müssen weg von diesem Tunnelbau, und wir brauchen auch nicht immer mehr High-Speed-Strecken, aber das ist noch mal was anderes. Aber der Tunnelbau ist einfach zu teuer und gar nicht nötig. Ich war neulich in der Schweiz. Und wenn in der Schweiz etwas funktioniert, dann die Bahn. Davon könnten wir wirklich mal lernen, auch die Anschlüsse usw. Bei mir ist es so – die Direktoren können mich wahrscheinlich nicht leiden – wir haben folgende Regel festgelegt: Wenn ich pünktlich bin, fährt mein Zug immer später ab, und wenn ich eine Minute zu spät komme, ist er weg. Dann verlasse ich mich darauf, dass er immer fünf Minuten später fährt, keine Chance. Das nehme ich ihnen übel, aber nur nebenbei bemerkt.

Jetzt werde ich Ihnen noch etwas sagen: Nur wenn wir wirklich einen solchen integralen Taktverkehr wie in der Schweiz haben wollen, und wenn wir wirklich mit einer Verkehrswende das 1,5-Grad-Ziel erreichen wollen, müssen wir alles umstellen, und ich schwöre, die Bahn ist der allerschwierigste Brocken zwischen SPD, den Grünen und auch der FDP, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es um Stuttgart 21 geht, trotzdem will ich ja noch schwach hoffen, dass etwas einigermaßen Vernünftiges herauskommt, aber ich habe meine Zweifel.

Nun demonstrieren Sie hier. Nun sage ich Ihnen ganz offen – das wissen Sie ja alle selbst – wir werden es ja nicht verhindern können. Warum ist es trotzdem wichtig, dass Sie hier demonstrieren? Weil man sich erinnern muss. Man muss immer wieder die Öffentlichkeit aufklären: Das wurde damals erzählt, so habt ihr einen Volksentscheid gemacht und herausgekommen ist etwas völlig anderes. Und wenn Sie auf Ihre Demos verzichten, verzichten Sie darauf, dass dieses Wissen in der Bevölkerung verbreitet wird. Und das geht nicht! Und deshalb beglückwünsche ich Sie dazu. Wir dürfen nicht vergessen, und Sie erinnern daran. Und wir müssen irgendwann einmal zu realistischen Planungen zurückkehren. Und ich bin es auch Leid, dass die Bevölkerung immer mit falschen Zahlen getäuscht wird. Und dann kommt ja nicht das Doppelte, sondern es kommt das Zehnfache, das Zwanzigfache, das Vierzigfache dabei heraus. Das dürfen wir uns nicht bieten lassen. Zur Demokratie gehört auch der Widerspruch.

Und deshalb müssen wir auch wieder ein Primat der Politik herstellen: Die Politik muss entscheiden was in der Wirtschaft geschieht und nicht die Wirtschaft darf entscheiden, was in der Politik geschieht!

Und es gibt einen weiteren Irrtum. Die Wirtschaft muss für die Menschen da sein, nicht die Menschen für die Wirtschaft. Auch das wird umgekehrt gesagt. Und ich möchte – aber ich habe wenig Hoffnung wegen der FDP – dass die prekären Beschäftigungsverhältnisse endlich abgeschafft werden. Ich will keine Leiharbeit, ich will keine Werksverträge, ich will nicht das Outsourcing, was letztlich alles eine Form moderner Sklaverei ist. Das sollten wir uns nicht bieten lassen.

Sagen Sie „Nein“ zu bestimmten Zuständen, das hilft unserer Gesellschaft. Und natürlich brauchen wir die Welt, wir brauchen auch eine andere Art Außenpolitik, da könnte ich weitere eineinhalb Stunden sprechen, aber das geht nicht, weil ich heute einen Anschlusstermin habe. Außerdem ist es kalt und ich möchte, dass Sie was Warmes trinken, und ich sage Ihnen bis zum nächsten Mal alles Gute, dankeschön!

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