Klimagerechtigkeitsbewegung und Stuttgart-21-Protest: Ein Blick zurück und nach vorn

Rede von Dr.med.Dipl.Psych. Angelika Linckh, Parkschützerin, auf der 592. Montagsdemo[1] am 20.12.2021

Liebe Freunde und Freundinnen,

wir leben in komplizierten, schwierigen Zeiten. Die fortschreitende Erwärmung des Erdklimas erzeugt in immer kürzeren Abständen Katastrophen, die Menschenleben kosten und unvorstellbare Zerstörungen hinterlassen. Besonders im Globalen Süden leiden die Menschen unter der Klimaerwärmung, die zu Naturkatastrophen führt. Sie erleben Dürre, Überschwemmungen, die Zerstörung ihres Landes und die postkoloniale Ausbeutung durch meist multinationale Konzerne aus dem Globalen Norden, die sich in ihren Heimatländern bei uns als grün präsentieren.

Und auch hier im Globalen Norden erlebten wir die Auswirkungen der Klimaerwärmung bei den Zerstörungen im Sommer im überfluteten Ahrtal und in den USA die dem Erdboden gleichgemachten Städte durch Tornados vor wenigen Tagen.

Die Kipp-Punkte des Welt-Klimas sind beim heutigen Stand der Klimaerwärmung noch nicht unwiderruflich in Bewegung gesetzt. Wir müssen aber der Tatsache ins Auge sehen, dass dies bald der Fall sein kann und sich – so oder so – Katastrophenereignisse wie im Ahrtal und in Kentucky auch bei uns in immer kürzeren Abständen ereignen werden. Wir rasen auf eine Situation zu, die das Leben für uns und auch die Bedingungen für ein gutes Leben der nach uns kommenden Generationen auf diesem Planeten grundlegend verändern wird.

Und wir müssen leider erkennen, dass die herrschende Politik nicht beabsichtigt, das Ruder herumzureißen. Die Beschlüsse der UN-Klimakonferenz in Glasgow zeigen dies. Genau wie die Pläne der Ampelkoalition. Wenn wir nur darauf hoffen, dass die Regierenden und die Konzerne wirklich drastisch Emissionen senken werden, dann ist der Kurs auf eine nicht umkehrbare Erhitzung der Erde besiegelt, das Überleben hunderter Millionen Menschen und unzähliger Tier- und Pflanzenarten bedroht. Der radikale politische Kurswechsel, um das 1,5-Grad-Ziel halten zu können, ist bisher nicht in Sicht. Die eingeleiteten oder nur geplanten Maßnahmen reichen bei weitem nicht aus, um wenigstens das Schlimmste zu verhindern, obwohl die Fridays for Future hunderttausende und die Klimagerechtigkeitsbewegung global Millionen Menschen auf die Straße gebracht hat.

Diese Kluft zwischen ökologischer Notwendigkeit und politischer Realität könnte in Apokalyptik und Hoffnungslosigkeit führen. Sie führt aber ebenso viele Menschen in der Klimagerechtigkeitsbewegung zum Nachdenken über künftige Strategien. Unsere Bewegung gegen Stuttgart 21 und gegen die neuen, destruktiven Ergänzungs-Tunnelpläne war von Anfang an Teil der Klimaschutzbewegung, auch wenn wir uns nicht so genannt haben. Wir haben immer die klimaschädlichen Beton- und Stahlorgien von S21, seinen Schaden für das Stadtklima und sein destruktives Potential für den Schienenverkehr attackiert. Auch unser viel verlachter Kampf für die Juchtenkäfer und Eidechsen gehört zu unserem Kampf gegen den Ökozid. Und wir kennen dieses Gefühl der Ohnmacht nur zu gut: Wenn machtvolle Demos einer Bewegung mit bundesweiter Ausstrahlung die Projektbetreiber nicht dazu bewegen können, umzukehren oder wenigstens eine ernsthafte Debatte über Alternativen zu führen, dann fragen wir uns: Wie müssen wir denn weitermachen, um unsere Ziele zu erreichen? Müssen wir radikaler werden – radikal im Sinne von den Übeln an die Wurzel zu gehen?

Was ist eigentlich die „Wurzel des Übels“ bei von Profit und Wirtschaftswachstum getriebenen Großprojekten wie Stuttgart 21? Was ist die Ursache des Zwangs zu endlosem Wachstum in einer Welt endlicher Ressourcen? Ohne die globale kapitalistische Ordnung zu überwinden, kann der zerstörerische Wachstumszwang nicht beendet werden. Sehr viele von uns Stuttgart-21-Gegner*innen und Klimagerechtigkeitsaktivisti sehen das so. Das sollte zum handlungsleitenden, Orientierung gebenden, gemeinsamen Grundverständnis unserer Bewegung werden!

Auf unseren Demos vor vielen Jahren war manchmal ein Rap zu hören mit dem Refrain: „Nehmt ihnen die Welt aus der Hand“! Womit die nächste Frage gestellt ist: wie fallen wir den ignoranten, betriebsblinden, profitabhängigen, wachstumsgläubigen Konzernspitzen und Politikern denn in den Arm, um ihnen womöglich, irgendwann, hoffentlich, die „Welt aus der Hand“ nehmen zu können?

Zunächst einmal: indem wir nicht wie Kaninchen auf die drohende Schlange starren, sondern weitermachen! Als Uta Köbernick in der legendären Sendung der Anstalt sagte: „Liebe Stuttgart-21-Gegner! Ihr habt nichts erreicht. Deshalb: macht bitte weiter!“ standen vielen von uns Tränen in den Augen.

Wir haben in den vielen Jahren, in denen wir das Klimaskandalprojekt Stuttgart 21 bekämpfen, neben regelmäßigen Demos viele verschiedene Protest- und Aktionsformen angewandt. Wir hatten mit hunderten Menschen unzählige Sitzblockaden gegen die Abriegelung des Bonatzbaus, gegen den Abriss des Nord- und des Südflügels. Wir hatten Besetzungen des Nord- und des Südflügels und Besetzungen der Abriss-Bagger. Wir haben den Bauplatz des Grundwassermanagements besetzt mit anschließenden Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe und drastischer Strafverfolgung. Wie im Dannen­röder Wald haben auch wir versucht, die uralten wertvollen Bäume im mittleren Schlossgarten vor den Kettensägen zu schützen. Mit dem eigenen Körper, angekettet an Baufahrzeuge, mit in den Boden einbetonierten Armen und Beinen, mit monatelangen Baumbesetzungen durch Robin-Wood-Aktivisti.

Hunderte wurden von der brutalen Polizeiarmee bei der Räumung des Parks z.T. schwer verletzt. Tausende von uns erkennungsdienstlich behandelt, viele vor Gericht gezerrt und verurteilt. Wir haben erlebt, was inzwischen viele junge Klimagerechtigkeitsaktivisti umtreibt. Wir wissen, dass Demon­-strationen allein nicht das Ende von Stuttgart 21 herbeiführen werden. Und dass alleine Demonstrationen auch nicht den notwendigen, radikalen politischen Kurswechsel auf den 1,5-Grad-Pfad erzwingen können.

Wir haben auch erlebt, dass militantere Aktionsformen nicht der einzige und Erfolg versprechende Weg sind. Keine Aktionsform für sich allein bietet die Garantie, vorwärts zu kommen – erst recht nicht, wenn wir an die Wurzel des Übels wollen: Wachstumszwang und Kapitalismus! Es kommt vielmehr darauf an, dass wir die Vielfalt verschiedener Aktions- und Protestformen wertschätzen und dabei eines immer im Blick behalten: noch sind wir nicht die Mehrheit der Gesellschaft mit unseren Vorstellungen und Zielen – sonst hätten wir heute keine Ampelregierung und CDU und AfD als größte Oppositionsfraktionen im Bundestag. Im Interview mit der Zeit sagte die Frankfurter FFF-Aktivistin Sara deshalb ganz richtig: „Unsere Bewegung will eine Breitenwirkung auf die Gesellschaft haben und große Massen mobilisieren“.

Dass unsere Bewegung gegen den Klimakiller Stuttgart 21 nach über 10 Jahren immer noch aktiv ist, und wir mit unserem Protest in der Stadt sind, hat viel mit unserer Wertschätzung der sehr unterschiedlichen Protestformen zu tun. Nicht jede und jeder kann oder will an Besetzungen teilnehmen, aber alle sind wichtig, die unsere Forderung nach Baustopp des Klimaskandals S21 unterstützen. Ich finde es großartig, dass jede Woche in Stuttgart ein paar hundert Menschen ihren Protest auf die Straße tragen und sich seit über 10 Jahren nicht in die Resignation treiben lassen.

Großartig finde ich auch, dass Extinction Rebellion sich in der Nacht von Freitag auf Samstag am Protest gegen das Bauprojekt Stuttgart 21 beteiligt hat und sich mit seiner Banneraktion am ZÜBLIN-Kran auf der Königstraße solidarisiert hat mit der Initiative UMSTIEG21 PLUS. Großartig finde ich auch unsere Dauer-Mahnwache seit mehr als 10 Jahren. Wir Menschen aus der Stuttgart-21-Bewegung sind inzwischen mehr als 10 Jahre älter geworden und schätzen und verteidigen den Aktivismus und die Aktionen der jungen Klima-Aktivist*innen gegen erwartbare Angriffe aus Medien und Politik, wie z.B. die Blockaden und Besetzungen von Baggern und Gleisen im Kohleabbau und auf Autobahnen. Wenn die veröffentlichte Meinung schreit, das sei „Gewaltanwendung“, halten wir dagegen: es ist kapitalistisch-strukturelle Gewalt, die inzwischen unseren Planeten und damit die Lebensgrundlagen aller bedroht, und dagegen dürfen und müssen wir uns wehren.

Wir brauchen einander in der Klimagerechtigkeitsbewegung, in Deutschland und auch international. Wir Stuttgart-21-Gegner*innen versuchen diesen Schulterschluss immer wieder. Auch mit den Bewegungen im Globalen Süden – sei es mit den Menschen in Bangladesch, die um den Erhalt der Mangrovenwälder und gegen Kohlekraftwerke kämpfen, die hier bei uns in Stuttgart von der Firma Fichtner mitgeplant werden, sei es mit den Indigenen in Mexiko, die sich gegen die neokoloniale Enteignung ihres Landes wehren und gegen die Zerstörung der Regenwälder im Süden Mexikos durch das sogenannte „Tren Maya“-Großprojekt, an dem auch unsere Deutsche Bahn beteiligt ist. Wir brauchen einander, denn wir haben nur diese eine gemeinsame Welt.

Wir erleben, dass sowohl unsere Gesellschaften wie auch das Klima große Erschütterungen und unerwartete Entwicklungen durchlaufen. Noch Mitte 2019 erwartete kaum jemand die globale Pandemie und die verheerenden Fluten wie im Ahrtal. Doch daneben gibt es auch unerwartet Hoffnung Spendendes: Mitte 2018 hätte sich noch niemand von uns die globalen Streiktage von Fridays for Future vorstellen können. Unser Mitstreiter, der Regisseur Volker Lösch sagte vor kurzem: „Der Aktivismus dieser Generation ist die wichtigste politische Kraft, die wir derzeit haben.“ Und auch der Wissenschaftler Christian Zeller schöpft Hoffnung aus gemeinsamen Aktionen, aus denen sich vielleicht eine globale, wirkungsmächtige ökologische Massenbewegung entwickeln könnte: zum Beispiel bei der Zusammenarbeit von Fridays For Future mit ver.di und den Streikenden im ÖPNV in NRW im Herbst 2020, und zum Beispiel bei den Streiks im Januar 2021 in den französischen Raffinerien von TOTAL für eine Konversion der Erdölindustrie, die von französischen Umweltverbänden unterstützt wurden.

In einem Interview zu seinem neuen Theaterstück AufRuhr in Essen sagt Volker Lösch, dass „große Bauprojekte wie „Stuttgart 21“ das alte kapitalistische und größenwahnsinnige „Weiter so“ repräsentieren, die Kultivierung des nicht nachhaltigen Wachstumsgedankens und die fortgesetzte Klimazerstörung. Dann wird er gefragt, ob eigentlich bei der Tragödie um Umverteilung Widerstand zwar immer machbar war, aber gegen das Kapital stets zwecklos blieb, und ob das sein eigentliches Lehrstück sei? Und er antwortet darauf: „Das ist die große Frage: Warum eigentlich? Wieso gibt es keinen erfolgreichen Widerstand gegen offensichtliche Ungerechtigkeiten, unter denen die Mehrheit leidet? Das Utopische liegt im Machen selbst, im Rebellieren gegen das, was ist, und in der Unbeirrtheit, die darin liegt. Im Weitermachen, obwohl die Zukunft dunkel aussieht.“

Wir alle brauchen einander. Wir haben nur diese eine gemeinsame Welt. Danke an Sie alle, dass sie sich mit ihren unterschiedlichen Möglichkeiten weiter dafür engagieren – für ein umfassend verstandenes Oben Bleiben!

[1] ab 21.12.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, wieder online:
https://www.parkschuetzer.de/videos/

Rede von Angelika Linckh als pdf-Datei

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