Generalstreik

Rede von Joe Bauer, Journalist und Stadtflaneur, auf der 634. Montagsdemo am 31.10.2022

Schönen guten Abend,

verehrte Protest-Gemeinde von Stuttgart, schön, dass Ihr heute wieder diesen Ort der Begegnung gewählt habt. Das Demoteam hat mich beauftragt, heute an ein wichtiges Stuttgarter Datum in der Demokratie-Bewegung zu erinnern. Heute ist schon der 31. Oktober, in meinem Vortrag allerdings geht es um einen 28. Oktober, der in dieser Stadt etwas in Vergessenheit geraten ist.

Was ich euch jetzt erzähle, habe ich zum großen Teil im April 2018 geschrieben, da waren gerade lobenswerte Warnstreiks in der Stadt. Busse und Bahnen standen still, Kitas und Schwimmbäder blieben geschlossen, die Müllabfuhr fiel aus. Auch die Flucht aus den verstopften Straßen unseres Feinstaubkessels auf dem Luftweg war schwierig: Auf den Flughäfen wurde ebenfalls die Arbeit niedergelegt.

Die Streikfreiheit ist, was sich bis heute nicht bei allen herumgesprochen hat, in unserem Grundgesetz verankert. Die meisten von uns haben das Recht, die Arbeit zur Durchsetzung von Tarifforderungen zu verweigern. Laut Bundesarbeitsgericht besteht der Sinn und Zweck des Streiks durchaus auch darin, wirtschaftlichen Schaden anzurichten, um die Arbeitgeber unter Druck zu setzen. Dieses Recht wird heute sehr oft ignoriert. Stattdessen werden die Propaganda des Egoismus und die verlogene Parole von der Partnerschaft zwischen Lohnabhängigen, Wirtschaft und Politik ausgegeben. In jüngster Zeit allerdings scheint der Begriff „Klassenkampf“ wieder etwas an Bedeutung zu gewinnen, leider steht er im Schatten der Identitätsdebatten in linken Kreisen.

Arbeitgeber und ihre neoliberal infizierte Gefolgschaft haben für Arbeitskämpfe in aller Regel „kein Verständnis“, wie sie das nennen. Diese Floskel gebrauchte 2018 auch ein Stuttgarter Sozialbürgermeister namens Wölfle während der Warnstreiks in den Kitas. Er sonderte nicht nur das übliche Geschwafel ab, wonach Arbeitskämpfe „zulasten von Eltern und Kindern“ gingen, sondern auch die arrogante Dummheit, dass Streiks als „fast schon folkloristisch zu betrachten“ seien. Dieser Mann war übrigens ein Grüner, der lange heftig gegen Stuttgart 21 protestiert hatte, ehe er eine Laufbahn als Wendehals einschlug – egal.

Stuttgart jedenfalls ist eine Stadt, die Streikgeschichte geschrieben hat wie kaum eine andere in dieser Republik. Es ist zwar ein paar Tage her, bei näherem Hinsehen aber für die Gegenwart durchaus relevant: Der größte Arbeiterprotest der Nachkriegszeit wurde als „Stuttgarter Ereignisse“ bekannt, man sprach auch von den „Stuttgarter Vorfällen“ und dem „Stuttgarter Tumult“. Das war im Jahr vor der Gründung der Bundesrepublik und des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Donnerstag, 28. Oktober 1948: In allen Stuttgarter Betrieben wird von 13 bis 14 Uhr die Arbeit niedergelegt. Fast 100.000 Menschen sind dem Aufruf zum Protest gefolgt. Der legendäre Stuttgarter Gewerkschaftsführer Hans Stetter fordert in seiner Rede auf dem Karlsplatz politische Maßnahmen, „um die Lohn- und Gehaltsempfänger vor dem Verhungern zu schützen“. Als sein Auftritt beendet ist und die Leute nach Hause gehen wollen – so berichtet am Montag darauf der „Spiegel“ – greifen „ein paar Radaubrüder ein, deren Kennkarten im Rheinland und in Dresden abgestempelt waren“. Sie provozieren die Leute, und ein Opfer des Zorns wird das Modegeschäft Stahl in der Königstraße. Bierflaschen und Steine fliegen, Schaufenster gehen zu Bruch – und zwischen „seidenen Krawatten und überteuerten Handschuhen und Stoffen (80 DM pro Meter)“, so berichtet später der Spiegel, sitzt ein „ramponierter Stadtpolizist“. Und vor dem Geschäft „johlt eine aufgebrachte Menge“.

Ob bestellte Provokateure die Unruhen heraufbeschworen haben, wird nie geklärt. Da aber die heimische Polizei nicht Herr der Lage ist, greifen die amerikanischen Kollegen mit Schlagstöcken und Tränengas ein. Sie lassen sogar Panzern auffahren.

Zwei Tage später fordern die Amerikaner die Stuttgarter Zeitung auf, ihnen umgehend einen Redakteur zu schicken, er dürfe aber „kein Kommunist“ sein, heißt es in dem Befehl. Der Chef der Militärregierung für Württemberg-Baden, Charles M. La Follette, übergibt dem Journalisten die Vorschriften der beschlossenen Ausgangssperre: Alle 450.000 Stuttgarter haben sich von neun Uhr abends bis morgens um vier in ihrer Wohnung aufzuhalten. Bei Verstoß droht „jede Strafe außer der Todesstrafe“. Der deutschen Polizei teilen die US-Militärs wörtlich mit, sie habe „Scheiße“ gebaut. Als die wahren Schuldigen der Ausschreitungen aber werden wie üblich die Gewerkschaften bezeichnet.

Theodor Bergmann, der Stuttgarter Widerstandskämpfer, Publizist und Agrarwissenschaftler, hat später das Buch „Klassenkampf & Solidarität“ herausgegeben, und darin heißt es: „Der Ortsausschuss der Gewerkschaften distanzierte sich von den Steinwürfen gegen das Modehaus, erklärte aber gleichzeitig, dass solche Zwischenfälle durch ‚habgierige Geschäftemacher‘ und ihre Duldung durch die Behörden provoziert wurden. Trotz dieser Erklärung wurde Hans Stetter von der amerikanischen Militärpolizei festgenommen und in Frankfurt von General Clay stundenlangen schweren Anschuldigungen ausgesetzt.“ Stetter wird vorgeworfen, er habe die Massen aufgehetzt. Clay sagt ihm, aufgrund der Stuttgarter Vorgänge könne er die Gewerkschaften verbieten, beendet den Anschiss aber mit dem Satz: „Ich will das vorläufig nicht tun.“

Das unbefristet ausgesprochene Ausgehverbot löst in Stuttgart Empörung aus. Die Gewerkschaften beginnen mit der Vorbereitung eines Generalstreiks, der dann am 8. November in Düsseldorf für den 12. November beschlossen und nach heftigen Diskussionen von zunächst geplanten 48 auf 24 Stunden beschränkt wird. Nach den „Stuttgarter Ereignissen“ genehmigen die US-Behörden diese „Arbeitsruhe“, wie sie den Arbeitskampf nennen, nur unter der Auflage, keine Kundgebungen, Demonstrationen und „sonstige Zusammenkünfte“ abzuhalten.

In der sogenannten Bizone, dem Zusammenschluss der amerikanischem und britischen Besatzungszone, legen am 12. November mehr als neun Millionen Arbeiter aus Industrie und Handel, Handwerk und Verkehrswesen die Arbeit nieder – drei Viertel der 11,7 Millionen Beschäftigten. Damals haben die Gewerkschaften nur vier Millionen Mitglieder.

Trotz des großen Erfolgs der Aktion wird der Begriff „Generalstreik“ lange gemieden, auch von den Gewerkschaften. Dieses Wort darf nicht fallen. Kurioserweise spricht man von einem „Demonstrationsstreik“, obwohl Demonstrationen verboten waren. Der Unmut der Arbeiterschaft damals richtet sich vor allem gegen Ludwig Erhard, den Kopf des westdeutschen Wirtschafts- und Verwaltungsrats. Er hat mit der Währungsreform im Juni 1948 sämtliche Preiskontrollen aufgehoben und damit den Grundstein für die sogenannte soziale Marktwirtschaft gelegt. Im Dezember wird der Lohnstopp teilweise und – nach weiteren aufreibenden Arbeitskämpfen – im Jahr darauf komplett freigegeben.

Ohne die „Stuttgarter Ereignisse“ vom 28. Oktober 1948 wäre die Arbeitergeschichte der Bundesrepublik und der Kampf um Bürgerrechte anders verlaufen. Daran sollten wir heute bei jedem Streik denken, vor allem dann, wenn irgendwelche Waschlappen von Folklore sprechen. Und wir sollten uns auf unser Recht auf Kundgebungen und Streiks besinnen, jetzt, in den Tagen der sozialen Krisen, da wir endlich das Thema Umverteilung in den Mittelpunkt demokratischer Proteste stellen müssen. Es ist die Ungerechtigkeit, die Schere zwischen Arm und Reich, die in diesen Tagen überall den Rechten zugute kommt und faschistische Prozesse fördert. Es sind die maßlosen Profite von Unternehmen, die jetzt viele Menschen noch mehr in ihrer Existenz bedrohen als vor der Energiekrise. Da das Wort Generalstreik weiterhin verpönt ist, verabschiede ich mich jetzt mit dem Aufruf zum baldigen Generalprotest!

Vielen Dank.

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