Fremde Federn statt eigener Betten – die Deutsche Bahn und die neuen Nachtzüge

Rede von Joachim Holstein, „Back on Track Germany“ und „Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene“, auf der 644. Montagsdemo am 16.1.2023

Vor fünf Wochen, am 11. Dezember 2022, war großer Auflauf im Hauptbahnhof: Minister Herrmann, OB Nopper und einige mehr versammelten sich vor einer venezianischen Gondel – aber nicht, um zu demonstrieren, womit man sich nach einem Starkregen in der Stuttgarter Innenstadt fortbewegen muss, wenn der Tiefbahnhof den Wasserabfluss blockiert, sondern um den neuen Nachtzug von Stuttgart nach Venedig, Rijeka, Zagreb und über Wien nach Budapest einzuweihen.

Endlich! Endlich hat Stuttgart wieder Nachtzug-Anschluss!

Sechs Jahre, nachdem die DB ihren letzten Nachtzug abgeschafft hat. Das war der CityNightLine 419 ‚Pollux‘ zwischen Amsterdam und München, der mehr war als ein Nachtzug, denn er hielt nicht nur von 4:21 bis 4:35 Uhr am Stuttgarter Hauptbahnhof, sondern auch in Plochingen, Göppingen und Geislingen an der Steige. Ich kann mich noch an meine letzte Fahrt auf diesem Zug erinnern, Oktober 2016:  Samstagmorgens um vier stiegen hier ein paar angeheiterte Jugendliche ein, frisch vom Cannstatter Wasen, und als ich ihnen sagte, dass sie beim nächsten Wasen nicht mehr um diese Zeit heim nach Göppingen fahren könnten, wollten sie das gar nicht glauben.

Es war aber so – der Deutschen Bahn war es damals egal, dass die Fahrgastzahlen stiegen, dass die Nachtzüge fast immer ausgebucht waren, und dass sie nicht nur ein paar Spätflüge und Frühflüge ersetzten, sondern dass sie auch als letzter Intercity am Abend und als erster Intercity am Morgen fungierten.

Nochmal zwei Jahre früher, im September 2014, standen hier meine Kollegen Michael Stiegler und Vitus Walch aus München und sprachen auf der 239. Montagsdemo. Damals konnte man außer Amsterdam auch noch Paris mit dem Nachtzug ansteuern. Freitagnacht hier weg, Samstagmorgen in Paris, Sonntagabend wieder weg, Montagmorgen wieder in Stuttgart. 34 Stunden – und ein paar Jahre zuvor sogar 39 Stunden – Aufenthalt in Paris bei nur einer Hotelübernachtung: das schaffte man weder mit dem Flieger noch mit dem ICE, sondern nur mit dem Nachtzug.

Meine Kollegen haben damals aufgezählt, welche Ziele man vom Stuttgarter Hauptbahnhof und vom Autoterminal in Kornwestheim erreichen konnte:

Dresden und Berlin, Westerland auf Sylt, Rostock und Sassnitz auf Rügen, Amsterdam und Hoek van Holland, Oostende in Belgien, Ljubljana in Slowenien, Rijeka und Split in Kroatien, Rom, Neapel, Rimini, Ventimiglia und ganz im Süden Lecce an der Ostküste Italiens, Avignon und Narbonne in Südfrankreich, und es gab einen Nachtzug von Paris über Stuttgart nach Bukarest, also bis weit hinter Bratislava – alles mit Kopfbahnhof!

Das waren Zeiten, in denen die DB – also die Deutsche Bundesbahn und ein paar Jahre lang auch noch die DB AG – wirklich sagen konnten: „Wir verbinden Europa“ oder „Nachtzug für Europa“.

Aber dann kam der Klimagipfel in Paris im November 2015. Die DB hatte einen Sonder-ICE zur Verfügung gestellt – es gab ja keinen Direktzug mehr, seit der Nachtzug von Hamburg, Berlin und München nach Paris Ende 2014 abgeschafft worden war. Und in diesem Zug saß ein gewisser Ronald Pofalla, der ist ja auch hier in Stuttgart eisenbahntechnisch bekannt. Pofalla wurde an Bord von einem Umweltschutz-Blog interviewt und darauf angesprochen, dass die DB einige Nachtzüge gestrichen hatte und direkt nach dem Klimagipfel den Nachtzug Berlin-München abschaffen werde. Und gegenüber diesem „Klimaretter-Info“ erklärte Pofalla, dass die DB ihre Nachtverbindungen wieder ausbauen werde. O-Ton Pofalla: „Umfragen haben klar gemacht, dass es eine Nachfrage nach solchen Verbindungen gibt“.

Richtig, Herr Pofalla, es gibt in der Tat Leute, die von Berlin aus morgens um sieben in Stuttgart sein wollen und nicht erst um elf (aber nur, wenn sie um vier Uhr aus dem Haus gehen). Auch eine Sandra Maischberger (habt ihr gesehen, wie sie am Mittwoch Verkehrsminister Wissing auseinandergenommen hat?) ist immer viel lieber nach der Sendung mit dem Nachtzug von Köln nach Berlin heimgefahren, anstatt den Frühflieger zu nehmen.

Aber dann macht Herr Pofalla die Logikwende: „Nachtzüge sind total unwirtschaftlich“, deshalb sei nun ein „Nacht- ICE“ vorgesehen, … Äh, Moment mal. Da gibt es also Nachtzüge, die nicht nur Sitzplätze, sondern auch Schlaf- und Liegewagen haben, Herr Pofalla attestiert hohe Nachfrage, will die Verbindungen ausbauen – und deswegen will die DB ICEs statt Schlaf- und Liegewagen einsetzen? Ja, es klingt nach Wahnsinn, aber genau das hat die DB durchgezogen.

Acht Wochen nach dem Ausstieg saß DB-Vorstand Berthold Huber im Verkehrsausschuss des Deutschen Bundestages – zweite Anhörung zu Nachtzügen nach 2015. Neben ihm Kurt Bauer, Fernverkehrs-Chef der Österreichischen Bundesbahnen. Kurt Bauer wurde befragt, wie es denn so ist mit den sechs Nachtzuglinien, die man von der DB übernommen hatte. Bauer sagte: Die Züge sind voll, die Schlafwagen verkaufen sich von selber, für die bräuchten wir gar keine Werbung machen, und wir verdienen damit Geld. Berthold Huber sagte nix. Denn das alte Mantra der DB „Nachtzüge rechnen sich nicht“ war damit zerstört – und das, wie gesagt, schon acht Wochen nach Übernahme der Züge durch einen Betreiber, der was von Nachtzügen versteht.

Aber dann sagte er doch noch was, nämlich Glückwunsch an die ÖBB, und dass man sie unterstützen werde, und selbstverständlich würde man kooperieren und die Bahncards gegenseitig anerkennen. Daran hat sich die DB leider nicht gehalten, stattdessen hat sie ein paar von Pofallas Nacht-ICEs zeitlich parallel zu den ÖBB-Nightjets auf die Strecke geschickt und dafür gesorgt, dass man innerdeutsche Verbindungen, etwa von Mannheim nach Berlin, nicht auf www.bahn.de buchen kann, sondern nur auf der Seite für Auslandsreisen, nämlich www.international-bahn.de – oder man geht gleich auf die Website der ÖBB, hat dann aber womöglich drei Tickets, wenn man vorher und nachher noch jeweils einen Zug der DB braucht.

So – ich überspringe jetzt mal sechs Jahre, sonst stehen wir morgen noch hier – wir wissen alle, was in der Zeit passiert ist: Klimawandel, Verkehrswende, Fridays for Future, Flugscham – und rund um Deutschland herum blühen die Nachtzüge wieder auf. Die ÖBB bauen ihr Netz aus, fahren nach Amsterdam und Paris und über Polen nach Berlin, Frankreich hat die Nachtzüge wieder eingeführt, die Schweiz will wieder von Zürich nach Rom und Barcelona, und Schweden hat jetzt gleich zwei Nachtzüge nach Deutschland – einen rein privaten von Stockholm über Hamburg nach Berlin und manchmal weiter bis Dresden, und seit viereinhalb Monaten einen von Stockholm nach Hamburg-Altona, der wird betrieben von der schwedischen SJ – eine Staatsbahn, von der dänischen DSB – eine Staatsbahn, und auf der deutschen Strecke nicht etwa von der Staatsbahn DB – die wollte nicht – sondern von der privaten RDC, das ist eine US-Firma namens Rail Development Corporation mit ihrem deutschen Ableger, die betreiben auch den Autozug Hamburg-Lörrach und den Alpen-Sylt-Nachtexpress, der zeitweilig auch vom Bodensee und von Basel nach Westerland fährt. Dieser Zug wird an vielen Verkehrstagen als „bestellter Verkehr“ mit einer staatlichen Anschubfinanzierung unterstützt, an anderen Tagen fährt er als eigenwirtschaftlicher Verkehr. Eine spannende Konstruktion – man sieht: Wo ein Wille ist, da ist auch ein Schienenweg.

Das alles kostet Geld, die Österreicher bauen zum Beispiel neue Schlaf- und Liegewagen für einen dreistelligen Millionenbetrag. Und die Deutsche Bahn? Die hat man natürlich auch gefragt, genauer: man hat sie aufgefordert, auch in Nachtzüge zu investieren, sich an der Anschaffung von Fahrzeugen zu beteiligen. Tja, und dann kommt immer die gleiche Antwort. Die ist so Mantra-artig, die kann man inzwischen sogar googeln: „Wenn jeder ein bisschen Nachtzug betreibt, ist im Wettbewerb der Bahn mit Auto und Flieger nichts gewonnen“, erklärte eine Bahnsprecherin.

Hm. Wie war das im Dezember bei der Einweihung des Nachtzuges hier in Stuttgart? Tolle Bilder, tolle Reden – man hielt ein Plakat hoch mit dem Slogan „Nachtzug für Europa“, darunter die Logos der ÖBB, der französischen SNCF, der Schweizer SBB und der DB. Ganz vorne als Lok eine österreichische Taurus, dann drei Wagen der ÖBB nach Venedig, vier Wagen der Kroaten nach Rijeka und Zagreb, und am Schluss drei Wagen der Ungarn nach Wien und Budapest.

Drei Unternehmen aus drei Ländern – ein Zug. Also jeder betreibt ein bisschen Nachtzug. Also genau das, was laut DB nicht funktioniert, und wobei sie nicht mitmachen will. Außer natürlich, den Konzernbevollmächtigen zur Eröffnung schicken, ein DB-Logo aufs Plakat der ÖBB kleben und so tun, als sei man irgendwie beteiligt, mehr noch, als sei man federführend. Dabei ist das einzige, was die DB macht: die Hand aufhalten und Geld kassieren für Trassengebühren und Stationsgebühren. Das sagen die allen Ernstes auch auf konkrete Nachfrage der Presse, worin denn der Beitrag der DB zu den neuen Nachtzügen bestehe: Wir stellen in Deutschland die Gleise und den Lokführer.

Aber wie man am neuen Nachtzug Stockholm-Hamburg gesehen hat, will man ja nicht einmal den Lokführer stellen, da hält man sich völlig raus. Dieser neue Schwedenzug – die Presse hat ihn bei seiner Eröffnung „Greta-Express“ getauft (und nun ratet mal, mit welchem Zug Greta Thunberg von Stockholm Richtung Lützerath gefahren ist) – fährt übrigens auf Wunsch der Schweden nach Hamburg-Altona und nicht nach Hamburg Hauptbahnhof. Die Schweden haben gesagt: Der Hamburger Hauptbahnhof ist total überlastet, da kommen wir morgens nicht rein und abends nicht raus, aber Hamburg hat ja mit Altona einen zweiten großen Fernbahnhof – einen Kopfbahnhof. Da kann unser Zug ruhig eine halbe Stunde vor Abfahrt schon am Gleis stehen und morgens bei Ankunft gibt es auch genügend Zeit zum Aussteigen.

Außerdem kann man den Zug ebenerdig erreichen – wer Altona kennt, weiß: da kann man mit dem Trolley, mit dem Rollstuhl, mit dem Kinderwagen und mit dem Fahrrad bis zum Zug fahren, ohne eine einzige Stufe, ohne eine einzige Rolltreppe, ohne einen einzigen Lift. Und deswegen kann man da auch sein Auto oder sein Motorrad auf den Zug verladen. Deswegen setzt sich die Bürgerinitiative Prellbock Altona auch so vehement dafür ein, dass der Bahnhof Altona bleibt, anstatt abgerissen zu werden.

Für Nachtzüge gibt es als Start- und Zielbahnhof nichts Besseres als einen Kopfbahnhof. In diesem Sinne grüße ich auch aus Hamburg-Altona mit:

Oben bleiben!!!

 

Zitate aus der Pressemitteilung der DB zur Einweihung am 11.12.2022: Minister Hermann sagte: „Eine der Stärken der Eisenbahn war in früheren Jahrzehnten, dass sie wichtige Metropolen über Nacht miteinander verbunden hat. Bedauerlicherweise ist diese Art des Reisens über längere Zeit aufs Abstellgleis geschoben worden. Umso mehr freut es mich, dass Stuttgart mit dem Nightjet jetzt wieder einen Anschluss an einen echten Nachtzug mit dem Traumziel Venedig erhält. Das ist ein wichtiger Beitrag zum klimaschonenden Reisen, auf den hoffentlich noch viele Nachtzugangebote folgen werden.“

Stefanie Berk, Marketing-Vorständin DB Fernverkehr: „Der Nachtzug ist nicht nur ein starkes Symbol für klimafreundliches Reisen, sondern auch für ein vernetztes, grenzenloses Europa. Ab heute sind in Deutschland 41 Städte an das europäische Nachtzugnetz angebunden. Damit können unsere Kunden aus 10 Städten mehr als bisher Regionen in ganz Europa im Schlaf erreichen.“

Rede von Joachim Holstein als pdf-Datei

 

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