„Wer die Bahn so ruiniert, kann sie nicht retten“

Interview von Steffen Herrmann mit Arno Luik in der Frankfurter Rundschau vom 5.3.2024

Bei der Deutschen Bahn wird gestreikt, mal wieder. Für 35 Stunden will die Lokführergewerkschaft GDL den Bahnverkehr lahmlegen und damit auf ihre Kernforderung hinweisen: die Absenkung der Arbeitszeit auf 35 Wochenstunden. Im Interview spricht der Autor und Bahnkenner Arno Luik über die Hintergründe des Konflikts, falsche Umweltversprechen und darüber, wie die Deutsche Bahn zum Sanierungsfall wurde.

Herr Luik, die Verhandlungen zwischen der Deutschen Bahn und der Lokführergewerkschaft GDL sind geplatzt. Hat Sie das überrascht?

Da ich die Bahn kenne und weiß, wie sie agiert und wie sie Öffentlichkeitsarbeit beherrscht, bin ich nicht überrascht. Sie hat offensichtlich eine Indiskretion begangen und Interna an die Medien gegeben. So wird Stimmung gemacht.

Wie konnte es soweit kommen? Von außen sah es ja gut aus: vertrauliche Gespräche, zwei erfahrene Moderatoren.

Ich glaube, dass die Bahn-Spitze kein großes Interesse daran hat, dass die GDL-Forderungen geräuschlos in einem Kompromiss umgesetzt werden. Die GDL ist für die Bahn-Chefs einfach lästig. Zu kämpferisch. Sie möchten, vermute ich, dass die GDL nicht tariffähig ist. Das ist der Grund für die Aggressionen zwischen den beiden Tarifparteien.

GDL-Chef Claus Weselsky hat früh streiken lassen und einen scharfen Ton gegenüber dem Bahn-Management angeschlagen.

Weselsky wird oft als böser Bube gezeichnet. Aber er hat mit rund 20 privaten Bahnunternehmen Tarifverträge abgeschlossen, ratzfatz und ohne große Öffentlichkeit. Er ist also nicht der Rabauke, als der er oft dargestellt wird. Weselsky ist Mitglied der CDU, kein Klassenkämpfer. Er tut einfach das, was seine Aufgabe als Gewerkschaftsführer ist: Er setzt sich für seine Mitglieder ein.

Im Zentrum des Konflikts steht die Arbeitszeit. Die GDL will die 35-Stunden-Woche. Setzt die Gewerkschaft in Zeiten des Personalmangels, der sich durch viele Abgänge in die Rente weiter verschärfen wird, auf das richtige Pferd?

Auf jeden Fall. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche geht bis in die 80er-Jahre zurück, das ist keine neue Forderung. Bei vielen Betrieben ist diese 35-Stunden-Woche Normalität, auch bei vollem Lohnausgleich. Die Deutsche Bahn ist ein Staatsbetrieb und hat als solcher eine Vorbildfunktion. Ein Staatsbetrieb muss sich korrekt gegenüber seinen Angestellten verhalten. Und wenn Sie den Personalmangel ansprechen – dafür ist DB-Personalvorstand Martin Seiler verantwortlich, der ja auch die Verhandlungen mit der GDL führt. Die Bahn hat 325 000 Mitarbeiter und ist nicht in der Lage, genügend Lokführer anzustellen? Das ist ein eklatantes Versagen dieses Personalvorstands. Wenn die Bahn ihr Personal ordentlich bezahlen würde, hätte sie genügend Mitarbeiter. Fakt ist: Mehr als 100 von der Deutschen Bahn ausgebildete Lokführer arbeiten in der Schweiz.

Und warum?

Weil es dort bessere Verträge gibt, geregelte Ruhezeiten, weil die Schweizer Staatsbahnen mit ihren Angestellten nicht so umspringen wie die Deutsche Bahn mit ihrem Personal. Es gibt hierzulande Lokführer, die schieben pro Jahr 400 bis 600 Überstunden vor sich her. Da ist kein richtiges Familienleben möglich – und das, nochmals, bei einem Staatsbetrieb. Der Personalvorstand Martin Seiler hat ein Gehalt von 1,3 Millionen Euro, dazu bekam er neulich noch einen fetten Bonus. Wofür? Bahnvorstandschef Richard Lutz bekommt das dreifache Gehalt des Bundeskanzlers und einen Bonus von zwei Millionen. Aber Lutz ist verantwortlich für eine Bahn, die 35 Milliarden Euro in den Miesen ist. Die neun Bahnvorstände bekamen Boni von neun Millionen Euro. Das ist normalen Menschen, vor allem Mitbürgern, die es schwer haben, über die Runden kommen müssen, nicht mehr vermittelbar. Und bei den Eisenbahnern schafft es dieses Gefühl von Ungerechtigkeit: „Die da oben sahnen ab!“ Diese Stimmung stärkt die Streikbereitschaft.

Sie haben die Rolle der Bundesregierung angesprochen. Sollte sie stärker eingreifen?

Ja. Und noch etwas ganz Wichtiges: Die Deutsche Bahn ist ja angeblich die Wunderwaffe der ökologischen Transformation. Gleichzeitig hat diese Bahn in den vergangenen Jahren aber alles dafür getan, dass sie nicht umweltfreundlich ist.

Inwiefern?

Viele Milliarden fließen in die Hochgeschwindigkeitsstrecken zwischen den Metropolen. Diese Strecken sind zum großen Teil auf Betonplatten gebaut. Aber Beton ist der Klimafeind Nummer eins, bei der Produktion werden wahnsinnige Mengen von CO2 freigesetzt. Dazu wurden unzählige Tunnel gebaut, die ebenfalls mit einem gigantischen Energieverbrauch angelegt werden müssen. Jenseits von Tempo 200 Kilometer zerbröselt der Ökovorteil des Zugverkehrs. Mehr Güter auf die Schiene zu bringen, ist auch kaum möglich, denn seit 1994 wurde die Zahl der Industrieanschlüsse dramatisch reduziert: von über 12 000 auf derzeit knapp 2000. Unfassbar.

In Nachbarländern wie Schweiz oder Österreich scheint es im Bahnverkehr deutlich besser zu laufen als hierzulande. Warum?

In der Schweiz stimmt der Spruch noch: Pünktlich wie die Eisenbahn. Der Zustand der Deutschen Bahn ist so desolat, dass die Schweizer häufig keine ICEs, das Vorzeigeprodukt der Deutschen Bahn, mehr nach Zürich fahren lassen. Die Schweizer haben einfach keine Lust mehr, ihre Fahrpläne durch diese ziemlich kaputt gemachte Deutsche Bahn kaputt machen zu lassen. Die Deutsche Bahn war mal ein extrem zuverlässiges Unternehmen. Dass die Bahn in einem Zustand ist, der für ein Industrieland überaus peinlich ist, hat Gründe. Und Verantwortliche dafür – und die sitzen im Vorstand der Bahn, aber auch in der Bundesregierung.

Was muss sich ändern?

Es müsste sich so viel ändern, dass es kaum noch möglich ist, das zu schaffen. An die Spitze der Bahn müssen echte Bahn-Profis – wie in Österreich, der Schweiz. Aber in Deutschland sind die Bahnchefs seit gut drei Jahrzehnten Bahn-Fremde: Heinz Dürr – Autoindustrie; Hartmut Mehdorn – Autoindustrie, Rüdiger Grube – Autoindustrie. Am Anfang ihrer Bahnkarriere waren diese Herren Bahn-Azubis. Überbezahlte Azubis. Wenn Sie im Fußball einen Mittelstürmer suchen, dann kaufen Sie den doch nicht bei einem Basketball-Verein! Aber so wurde bei der Deutschen Bahn agiert und das Ergebnis sehen wir jetzt: eine strukturell unzuverlässige Bahn. Richard Lutz, der aktuelle Chef, war zwar schon immer bei der Bahn – aber als Controller. Als Finanzchef hat er all die unseligen Abbauprogramme seiner Chefs abgesegnet: diesen Rückbau des Schienennetzes, das Rausreißen von Weichen, die Stilllegung von Rangierbahnhöfen, den Verkauf von Bahnhöfen. Wer die Bahn so ruiniert hat, kann nicht ihr Retter sein.

Und was müssten die Bahn-Profis machen?

Sie stehen vor einer Herkulesaufgabe, die fast nicht zu bewältigen ist. Man muss natürlich das Schienennetz ausbauen, wieder Tausende von Weichen einbauen. Wie fatal die Lage ist, zeigt diese Zahl: Um auf den Zustand der Schweiz zu kommen müsste die Deutsche Bahn ihr Streckennetz augenblicklich um 25 000 Kilometer erweitern. Ein Ding der Unmöglichkeit. Dazu fehlt schon das nötige Land, denn die Bahn hat viel Grundbesitz verhökert. Wo früher Gleise waren, Züge fuhren, stehen heute oft Wohnhäuser, Logistik- oder Einkaufszentren.

Zurück zum Tarifkonflikt: Welche Verantwortung trägt das Bahn-Management an der Eskalation des Konflikts? Personalvorstand Martin Seiler sagt, die Bahn habe „weitreichende Zugeständnisse“ gemacht.

Die Deutsche Bahn ist in einer Sache gut: Eigenwerbung. Sie beherrscht die Klaviatur der Öffentlichkeitsarbeit. Die Bahn könnte ohne Probleme dem Papst ein Doppelbett andrehen. In diesen krisenhaften Zeiten einen Tarifvertrag über eine Laufzeit von 32 Monaten anzubieten, ist eine Frechheit. Das kann kein Gewerkschaftschef akzeptieren. Die Lokomotivführer gucken in die Schweiz, nach Österreich und Luxemburg – und sehen, dass dort ihre Kollegen viel besser bezahlt werden, bessere Arbeitszeiten und viel weniger Überstunden haben. Viele Lokführer sagen: Wir sind das Gespött des Landes, können aber nichts für diese Zustände. Doch die Verantwortlichen für diese Malaise kriegen Gehälter, die die Vorstellungskraft übersteigen. Ein Lokführer sagte letztens zu mir: Wenn du aus dem Führerstand schaust und an den verfallenen Bahnhöfen vorbeifährst, die rausgerissenen Schienen siehst, dann denkst du, dass du in einem Unternehmen arbeitest, das abgewickelt wird.

Ist eine Einigung noch möglich?

Ich denke schon, dass die beiden Parteien zusammenkommen können. Das müssen sie ja auch. Die Forderung nach der 35-Stunden-Woche gibt es, wie gesagt, seit mehr als 35 Jahren. Und es geht ja auch um eine schrittweise Einführung. Für den Staatsbetrieb Deutsche Bahn, der in über 130 Ländern unterwegs ist, sollte das möglich sein.

Frankfurter Rundschau 5-3-24

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