Rede von Dr. med. Dipl.-Psych. Angelika Linckh, Capella Rebella, auf der 757. Montagsdemo am 19.5.2025
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Mitstreiter*innen,
heute möchte ich mit Euch teilen, warum wir nicht aufgeben. Warum wir nicht schweigen. Warum wir trotz allem hier stehen – sichtbar und laut. Die Entscheidung, nicht zu resignieren, ist in Zeiten wie diesen sehr politisch. Und sehr menschlich.
Stehen wir mit unserem Protest gegen Stuttgart 21 auf verlorenem Posten, während Teile der Stadtgesellschaft sich auf den „wunderschönen Bahnhof“ freuen, auf den sie dann „stolz sein können“, wie es der Intendant des Stuttgarter Balletts im Propagandablatt der Bahn – Bezug – formuliert hat? Wir Freund*innen des Kopfbahnhofs und der Gäubahnanbindung erleben seit Anbeginn dieses absurden Projekts Stuttgart 21 ein krasses Wechselbad der Gefühle.
Heute ganz aktuell: Was Jörg Jäkel vom Lenkungskreis berichtet hat, zeigt, dass vieles, was gestern noch in Stein gemeißelt schien, heute schon ins Wanken gerät – und vielleicht zu neuen Rissen im Beton der Projektpartner führt, etwa der sogenannte „Eröffnungstermin“ des Tunnelbahnhofs Ende 2026.
Wir lesen letzte Woche in der Süddeutschen Zeitung, dass die Bahn Entlassungen in der Sparte Digitalisierung plant: Signale, Datenkabel und Stellwerke müssten dringend kurzfristig verbessert werden. Und deshalb setze man jetzt darauf, sich auf Techniken zu konzentrieren die in nächster Zeit wirken können, die zu mehr Kapazität und Qualität führen – und nicht auf eine Digitalisierung, die erst 2085 fertig sein könne: blankes Entsetzen bei den S21-Verfechtern Verkehrsminister Hermann und Michael Donth von der CDU.
Hoffnung, dass sich vielleicht, nach 15 Jahren, doch noch Vernunft gegen Kapitalinteressen durchsetzen könnte, macht auch die spektakuläre Entscheidung des Eisenbahn-Bundesamtes (EBA) in Berlin. Die Entwidmung von Bahnflächen für Wohnungsbau am Güterbahnhof Köpenick wird abgelehnt – mit bemerkenswerter Begründung. Das Allgemeine Eisenbahngesetz wirkt. Und mit ihm steigen auch die Chancen für den Erhalt der oberirdischen Gleise und für das Stuttgarter Stadtklima.
Aber aus den letzten Jahren kennen wir genau so gut wie diese Hoffnungsfünkchen auch die regelmäßigen desillusionierenden Erfahrungen, die Ernüchterung, z. B. durch eine ganz und gar unkritische Berichterstattung, die jede Bagatelle auf der Baustelle zur Heldengeschichte stilisiert. Ob ein Testzug rollt oder ein Kubikmeter Beton gegossen wird – begeisterte Medienberichte. Kritischer Journalismus? Fehlanzeige!
Liebe Freund:innen, ich will ehrlich sein: manchmal bin ich müde, das tausendmal Gesagte immer wieder zu sagen. Auch wenn uns das Bertolt Brecht doch in seinem Gedicht über das Gedächtnis der Menschheit ans Herz gelegt hat, damit es nicht einmal zu wenig gesagt würde. Und wenn es schon wie Asche in unserem Mund ist!
Auch ermüdend wirkt es auf mich, wenn zum Beispiel desinteressierte Passanten, eigentlich immer Männer, verständnislos in unsere Richtung die Scheibenwischerbewegung machen, weil sie sich von Kelchstützen-Ästhetik haben blenden lassen, ohne auch nur eine Minute nachzudenken. Oder wenn ganz junge Leute an uns vorbeieilen – auch meist Männer 😉 – und nur ein überhebliches Grinsen auf die Lippen kriegen und uns für Ewiggestrige halten.
Trotzdem stehen wir hier. Was lässt uns durchhalten, was bringt uns dennoch jede Woche hier zusammen auf die Straße? Was motiviert Sie alle, die hier jeden Montag pünktlich wie einst die Eisenbahn um 18 Uhr offen für unseren Kopfbahnhof eintreten, was motiviert das Aktionsbündnis, was die vielen Mahnwächterinnen, was motiviert das Demoteam?
Liebe Freund:innen, es ist nicht nur unsere Erinnerung an eine funktionierende Bahn, an eine angenehme Atmosphäre im unangetasteten Mittleren Schlossgarten und an den Bonatz-Kopfbahnhof mit Seitenflügeln, Großer und Kleiner Schalterhalle, Wartesälen und zuverlässigen Fahrplänen. Alles Erinnerungen, die die Jüngeren und die seither Zugezogenen nicht haben können.
Nein, es ist nicht einfache „Erinnerung“: wir haben auch über viele Jahre einen großen Schatz an Wissen gesammelt und die Fähigkeit entwickelt, Unwahrheiten zu enttarnen, Behauptungen von Fakten zu unterscheiden. Es ist unsere kollektiv erworbene Fähigkeit, die über all die Jahre vorgetragenen Täuschungen und Lügen und Manipulationen der Öffentlichkeit analysiert und präsent zu haben, wenn uns die nächsten aufgetischt werden.
Und es ist ein gutes Stück Zorn dabei, wie diese unverfrorenen Lügner bis heute ungestraft davon kommen und bis jetzt nicht zur Rechenschaft gezogen werden.
Ich erlebe hier eine unbändige Motivation von Menschen, die nicht nur oberflächlich begriffen haben, dass eine Verkehrswende weg vom Auto kein nice-to-have ist, sondern ein must-have, eine Überlebensfrage. Und dafür brauchen wir einen funktionierenden Kopfbahnhof: oberirdisch, leistungsfähig, klimaschonend. Also genau das Gegenteil von Stuttgart 21.
Und da zitiere ich wieder Bertolt Brecht, aus diesem schon erwähnten Gedicht über das „Gedächtnis der Menschheit“: „Und doch wird nichts mich davon überzeugen, dass es aussichtslos ist, der Vernunft gegen ihre Feinde beizustehen!“
Wir, die aktiv gegen das „System Stuttgart 21“ geblieben sind, können uns auch vernetzen mit Menschen, die unsere Ideale und Ziele nicht teilen. Wir können pragmatische Allianzen bilden, um möglichst weit zu kommen. Zum Beispiel mit der Bewegung gegen die Gäubahnkappung.
Diese Bewegung mit den Anrainergemeinden und Oberbürgermeistern und z. B. Guido Wolf, jetzt Vorsitzender des Interessenverbandes Gäu-Neckar-Bodensee-Bahn, ist ja nicht gerade homogen oder gar geschlossen gegen Stuttgart 21 – aber es gibt Schnittmengen, und die versuchen wir produktiv zu machen für den Erhalt des ganzen Kopfbahnhofs.
Auch Allianzen bilden können wir mit den Initiativen von Jürgen Resch (DUH) und Claus Weselsky (GDL) für einen Plan B: „Oben bleiben und unten nutzen!“ Erst letzte Woche gab es mit einer gemeinsamen Pressemitteilung von Resch und Weselsky einen neuen Vorstoß für eine klimaschonende Bahnpolitik, in der sie unter anderem vom neuen Bundesverkehrsminister Patrick Schnieder fordern, die aktuell geplante Abtrennung der Gäubahn vom Stuttgarter Bahnhof zu verhindern.
Dass in der Region Grüne und CDU jetzt der SPD und FDP versichern, eine Verschiebung des Termins der Kappung der Gäubahn auf Dezember 2026 sei keinesfalls der Einstieg in eine dauerhafte Diskussion über einen Kombibahnhof, also einem dauerhaften Betrieb von unterirdischem Durchgangs- und oberirdischem Kopfbahnhof, ist bei ihrer schienenverkehrspolitischen Ignoranz verständlich. Ein OBEN BLEIBEN des Kopfbahnhofs fürchten sie wie der Teufel das Weihwasser. Wo doch die Bau- und Immobilienfirmen schon für die Rosensteinbebauung mit den Hufen scharren und mit Geld aus dem Staatshaushalt rechnen!
Wir dagegen als Bewegung für’s Oben Bleiben brauchen keine Scheu vor dieser Diskussion zu haben! Für uns ist es möglich, gleichzeitig weiter gegen das unnütze, gefährliche und extrem klimaschädliche Projekt S21 zu protestieren und dennoch Kombi-Vorstöße zu begrüßen. Denn es ist nirgendwo festgelegt, was genau ein Kombibahnhof ist. Wieviel dabei oben, wieviel unten möglich ist.
Stellen wir uns doch mal vor: das EBA würde wegen des mangelhaften Brandschutzkonzepts den Betrieb des Tunnelsystems mit nur ganz wenigen Zügen gestatten und der Rest bliebe oben! Das liefe ja auch auf eine Kombi-Variante hinaus – und Claus Weselsky sagte schon bei der Vorstellung des Plan B: wenn diese Variante politisch gewollt ist, wird sie auch realisiert!
Liebe Freund:innen, wer sich wie wir lange genug engagiert gegen ein Projekt wie Stuttgart 21, hat es erlebt: wie der Weg zu den Milliarden Steuergeldern für die Bau- und Immobilienkonzerne mit Lügen für die Bevölkerung gepflastert wurde: Von der Lüge des Finanzbürgermeisters Michael Föll über das „sich selbst finanzierende Projekt“ bis zur Kostenentwicklung auf heute 12 Mrd. Euro, über die Rosensteinbebauung als Lösung für verfehlte Wohnungspolitik bis zu den eben aufgeflogenen Wirtschaftlichkeitsmanipulationen der Neubaustrecke, den unverfroren herbei gelogenen Leistungsversprechen, bis zur Lüge vom gar nicht wahrnehmbaren Bahnhofs- und Tunnelbau.
Dabei liegen viele der gefährlichen Risiken noch vor uns, sind aber noch nicht gut für Schlagzeilen und Klicks – und werden deshalb von den Medien kaum thematisiert – etwa der mangelnde Brandschutz, die Anhydritquellung bei Wasserkontakt – einen kleinen Vorgeschmack liefert jetzt Wittkes Freudensteintunnel.
Bei allem, was noch kommt: es tut gut, hier zu sein. Nicht allein mit den Ängsten dieser Zeit zu sein: Klimakrise, Kriege, Gefahren nach Trumps Wiederwahl, Übermacht von Big Tech und Gefahren durch KI. Nicht allein, sondern gemeinsam – mit Euch. Nach jeder Demo gehe ich mit mehr Mut, mehr Zuversicht, mehr Freundlichkeit nach Hause.
Und manchmal kommt dann noch etwas obendrauf, das gut tut. Ihr erinnert Euch sicher an Markus Wissen (750. Montagsdemo: „Kapitalismus am Limit“): Er schrieb mir, dass er sehr froh sei, bei uns in Stuttgart gewesen zu sein. Er bewundere unser Engagement, unsere Hartnäckigkeit und die Art und Weise, wie wir trotz all der Rückschläge und auch der Repression und der strukturellen und körperlichen Gewalt nicht nachlassen oder gar verbittern, sondern mit einem Lächeln und mit viel Humor weitermachen.
So etwas wärmt. So eine positive Resonanz zeigt: Wir werden gesehen, auch über Stuttgart hinaus, und positiver wahrgenommen, als wir oft denken!
Natürlich könnten wir aufhören zu protestieren und uns schulterzuckend mit allen Skandalen abfinden. Aber was wäre damit besser? Würden wir schweigen, sähe es so aus, als stimmten wir zu.
Sicher kennen einige von Ihnen die 20 Lektionen des US-amerikanischen Historikers Timothy Snyder über Tyrannei. Nicht nur in den USA und einigen europäischen Staaten sehen wir eine gefährliche Entwicklung in Richtung Autoritarismus. Snyder appelliert an Wachsamkeit und Zivilcourage. Seine 13. Lektion lautet: „Die Machthaber möchten, dass du auf deinem Sessel körperlich erschlaffst und deine Emotionen vor dem Bildschirm virtuell auslebst.“
Wir sagen Nein zur Resignation – und Ja zum Handeln. Wir zeigen körperlich Haltung. Woche für Woche. Und ja – wir tun das mit Wut, aber auch mit Würde. Mit Klarheit, aber auch mit einem Lächeln.
Denn, wie Rutger Bregman, der niederländische Historiker, Autor und Aktivist, sagt: „Freundliche Kooperation ist unsere geheime Superkraft.“ Und genau das leben wir hier.
Danke, dass Ihr da seid. Danke, dass Ihr bleibt. Danke für Eure Aufmerksamkeit!
Oben bleiben!