Rede von Wolfgang Hesse, vorgetragen mit Vorrede von Martin Poguntke, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, Theologinnen und Theologen gegen Stuttgart 21, auf der 760. Montagsdemo am 16.6.2025
Liebe Mitstreiter*innen,
eigentlich ist ja meine Aufgabe heute, für Sie hier – stellvertretend – die Rede von Wolfgang Hesse aus München zu halten. Aber Tom Adler hat mich gebeten, vorneweg noch ein paar Sätze zu einer brandaktuellen Zeitungsmeldung zu sagen.
Sie haben’s vielleicht selbst letzten Freitag in der Stuttgarter Zeitung gelesen. Da ist die unglaubliche und gänzlich unwahrscheinliche Nachricht zu lesen, dass ganz vielleicht, also wirklich nicht wirklich, sondern nur ganz vielleicht und wenn’s ganz dumm läuft und ganz anders, als man gedacht hat und – daran wird festgehalten – ganz anders, als man weiterhin plant und eigentlich auch weiterhin davon ausgeht, jedenfalls könnte es unter ganz, ganz unglücklichen Umständen, von denen keiner ausgeht, aber weil man halt nicht wirklich wissen kann… da ist nicht gänzlich auszuschließen, dass der Tiefbahnhof, der ja eigentlich fast fertig ist, aber eben nur fast, dass dieser Tiefbahnhof möglicherweise doch nicht 2026 in Betrieb geht.
Wie gesagt: Keiner geht davon aus, und die Bahn lässt auch verlauten, dass es weiterhin ihr Ziel sei, den Tiefbahnhof im Dezember 2026 zu eröffnen. Aber nun hat halt die Regionalversammlung, die der Bahn und dem Tiefbahnhof wirklich nichts in den Weg legen möchte, ein Problem mit den Streckensperrungen signalisiert: es werde langsam wirklich zu viel damit.
Und – wie wir die Bahn kennen: immer gesprächsbereit und entgegenkommend – da hat die Bahn nicht gezögert und sofort angeboten, ihre Pläne zu überprüfen. Niemand will ja den S21-Eröffnungstermin gefährden, aber wenn die Region nun weniger Baustellen und weniger geballte Sperrungen möchte, dann möchte die Bahn ihr nicht im Wege stehen.
Allerdings kommt natürlich damit alles ins Rutschen. Deshalb soll nun eine Arbeitsgruppe – von der albernen „Taskforce“, die man im Lenkungskreis angekündigt hatte, ist nicht mehr die Rede – in einer Arbeitsgruppe will man ermitteln, wie die Eingriffe für die Fahrgäste minimiert werden können. Ziel ist es, so wird ein Bahnsprecher zitiert, „ein gemeinsam getragenes Inbetriebnahmekonzept zu erreichen. Die für Dezember 2026 geplante Eröffnung des Durchgangsbahnhofs hat dabei weiterhin oberste Priorität“. Oberste Priorität, ja, aber sicher ist sie halt nicht mehr. Man werde im Juli den Lenkungskreis informieren. Ob man auch, im Juni schon, den Aufsichtsrat damit befassen werde, dazu wolle man sich nicht äußern.
Das Problem ist halt: Die Züge, die man im Winterfahrplan 2026 fahren lassen möchte, muss man 18 Monate vorher, also noch im Juni 2025, melden, damit noch ausreichend Zeit besteht, den bundesweiten Fahrplan zu gestalten. Deshalb bleibt – so Christian Milankovic in der Stuttgarter Zeitung – ungeklärt, ob die angestrebte Eröffnung des neuen Bahnhofs mit einer – so Milankovic – „vorübergehenden“ Beibehaltung des Kopfbahnhofs für jenen Teil des Zugverkehrs einhergeht, der – so Milankovic – „zunächst“ nicht im Durchgangsbahnhof abgewickelt werden kann.
Liebe Freundinnen und Freunde! Das ist eine echte Nachricht. So unwahrscheinlich und allerbestens „vorläufig“ es Herrn Milankovic erscheinen mag: Hier wird offiziell von einem Kombibetrieb gesprochen. Was unter unseren Bahnfachleuten als so sicher, wie das Amen in der Kirche galt – dass auf keinen Fall von Beginn an alle Züge im Tiefbahnhof würden fahren können, sondern natürlich der Kopfbahnhof mindestens „zunächst“ weiterhin gebraucht würde – das steht hier erstmals in der S21-Jubelpresse als reale Möglichkeit.
Die S21-Gemeinde scheint sich in ganz, ganz kleinen Schritten an die Realität heranzurobben. Zunächst einmal nur die Realität, dass man „zunächst“ noch die Kopfbahnhofgleise benötige. Der nächste Schritt wird noch ein bisschen Zeit brauchen, bis man sich der Realität nähert, dass das dauerhaft notwendig ist. Bei der Bahn jedenfalls – so hört man aus gut informierten Kreisen – bei der Bahn jedenfalls schmiedet man bereits Pläne für Treppenverbindungen zwischen Kopf- und Tiefbahnhof, also für einen vielleicht doch ein wenig länger dauernden Kombibetrieb.
Den wollen wir nicht, diesen Kombibetrieb, weil der Tiefbahnhof und die Tunnels viel zu gefährlich sind. Aber vielleicht ist das ja eine realpolitische Durchgangsphase, die sich da ankündigt, bevor der Tiefbahnhof endgültig zum City-Logistik-Zentrum umgewidmet wird – oder zum Technik-Museum, wer weiß. – Es bleibt spannend.
So, jetzt aber… Martin Poguntke vertritt Wolfgang Hesse:
München im Tieftunnel – Stuttgart lässt grüßen
Liebe Bahnfreundinnen und -freunde,
ich stehe heute hier in Vertretung des Ihnen allen wohlbekannten Professors Wolfgang Hesse aus München. Er hat ja schon mehrfach hier geredet und hat für unsere Bewegung immer wieder Zahlen, Berechnungen, Argumente geliefert – z.B. auch in Klaus Gietingers Film „Das Trojanische Pferd“.
Und heute hätte er eigentlich hier eine Rede für uns gehalten zum Thema „Zweite S-Bahn-Stammstrecke München“. Aber er kann zurzeit – auch wegen der unzuverlässigen Bahn – die Reise hierher nach Stuttgart nicht antreten. Da hat er mich gefragt, ob nicht einfach ich hier seine Rede vortragen könnte. Klar, gern doch! Deshalb hier die zwischen Wolfgang Hesse und mir vereinbarte Fassung seiner Rede. Sie startet mit einer Zeitungsmeldung aus der Süddeutschen Zeitung, die uns von den Stuttgarter Verhältnissen sehr vertraut vorkommt:
Am 9.4.2025 meldete die SZ: „Zweite Stammstrecke wird immer teurer“. Elf Milliarden statt vorher 7,2 Milliarden Kosten, ursprünglich sogar „nur“ 2 Milliarden! Und im Folgenden schließt sich das Blatt dem inzwischen wohlfeilen bundesweiten DB-Bashing an. Sie bemerkt dazu, „dass die Bahn sich weigert, eine ansatzweise realistische Prognose zu nennen“ und findet die „Kostenexplosion ... unakzeptabel“. Der CSU-Abgeordnete Baumgärtner lamentiert: „So geht’s nicht, so kann man Großprojekte nicht organisieren“.
Die Münchner S-Bahn
Doch lasst uns die Geschichte der Münchner S-Bahn kurz Revue passieren: Nach der Erfolgsgeschichte zu ihrer Eröffnung anlässlich der Olympischen Spiele 1972 ist die S-Bahn in die Jahre gekommen und hat sich inzwischen zu einem ständig vernachlässigten und überforderten Stiefkind entwickelt.
Als Herzstück des Netzes – gleichzeitig aber auch als Haupt-Nadelöhr – stellte sich die sogenannte „erste Stammstrecke“ heraus. Hier teilen sich 5 bzw. 7 Linien eine 2-gleisige Tunnelstrecke im Innenstadtbereich zwischen Haupt- und Ostbahnhof. Allein wegen der rasant wachsenden Fahrgastzahlen hätte man das Netz spätestens in den 1990er Jahren substantiell erweitern und ausbauen müssen. Die Pläne dazu lagen auf der Hand: Da gibt es jede Menge vorhandener oberirdischer Bahngleise über den Süd- und Nordring, die hätte man schrittweise ausbauen und in den S-Bahnbetrieb einbeziehen können.
Stattdessen wurden die Pläne verschleppt und zu Beginn der 2000er Jahre sogar systematisch torpediert. Denn ähnlich wie in Stuttgart gewann eine Beton- und Tieftunnelfraktion die Oberhand und erreichte 2016 einen Beschluss zur sogenannten „2. Stammstrecke“. Diese 10 km lange Strecke verläuft 7 km lang durch einen Tunnel – parallel zum vorhandenen S-Bahntunnel, nur um mehr als 40 Meter tiefer. Passende „Kosten-/Nutzen-Analysen“ sorgten für geschönte Kosten, angeblich kurze Bauzeiten und einen enormen prognostizierten Nutzen – das kommt uns alles wohlbekannt vor.
Dagegen bekam die viel naheliegendere und günstigere Alternativstrecke über den Südring keine Chance. Allen Warnungen vor unkalkulierbaren Risiken, vor deutlich sichtbaren Kostensteigerungen und Bauverzögerungen zum Trotz, hat man 2017 per „Spatenstich“ die offiziellen Bauarbeiten begonnen. Und – ganz ähnlich wie in Stuttgart der Nord- und Südflügel – wurde gleich mal, um Fakten zu schaffen, das Empfangsgebäude zum Hauptbahnhof kurzerhand abgerissen. Seitdem klafft inmitten des Portals der Millionenstadt München eine Bauruine.
Störungen, Ausfälle und Frust
Heute, neun Jahre später, gibt es immer noch keinen Bypass für das S-Bahn-Nadelöhr. Die täglichen Fahrgastzahlen nähern sich der Millionen-Grenze, aber bei der Bahn, deren Baustellen und ständigen Störungen sind kaum Fortschritte erkennbar. Regelmäßig wird die vorhandene erste Stammstrecke zu allfälligen Wartungsarbeiten über ganze Wochenenden gesperrt, dazu kommen unvorhergesehene Ausfälle.
Noch am 11. Februar dieses Jahres ließ die Presse verlauten: „Zweite Stammstrecke in München: Teurer, aber im Zeitplan. … Über sieben Milliarden Euro … aber hier hat die Bahn immerhin gute Nachrichten. Erste Züge könnten 2035 rollen. Verbesserungen soll es aber schon dieses Jahr geben.“
Münchens OB Reiter hat kein Vertrauen mehr in Zeitplan der Bahn
Aber auch diese sogenannten „guten Nachrichten“ waren bereits am 3. März Makulatur. Die Bahn plante zwar eine Inbetriebnahme 2035, hatte diese aber schon vorher um zusätzliche zwei Jahre relativiert. Der SPIEGEL berichtete vom Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter: „Er bezweifelt, dass die zweite S-Bahn-Stammstrecke wie geplant bis 2037 fertig wird. Dass der Bau auf einmal fast zehn Jahre länger dauern solle, habe er … ‚nicht fassen können‘, sagte Reiter. ‚Deswegen habe ich wirklich gar kein Zutrauen in die Planungen. Nur ständigen Ärger, weil das alle einfach nur nervt.‘“
Die Kosten von 3,84 Mrd. Euro (vom Jahr 2017) lagen im März 2025 nach Bahn-Angaben bei mehr als sieben Milliarden Euro, dann waren es nach Berechnungen des Freistaats 8,5 Milliarden Euro – jetzt sind wir bei 9,4, an anderer Stelle bei elf Milliarden, aber Herr Baumgärtner von der CSU rechnet bereits mit 14 Milliarden Euro – „sofern das Projekt wirklich 2037 fertiggestellt wird“.
Auch der Neubau am Empfangsgebäude des Hauptbahnhofs soll sich nach Bahn-Angaben auf 2037 verzögern – was der OB sarkastisch als „einen Quell reiner Freude“ bezeichnet: „Wir haben einen Bahnhof, der ewig lang dauert, neu hergerichtet zu werden. Das macht das Entree in diese Stadt nicht besser.“
Und weiter: „Sollten Hauptbahnhof und zweite Stammstrecke für Olympia 2036 oder 2040 noch im Bau sein, würden wichtige Kapazitäten im Nahverkehr fehlen.“
Übrigens: Bei der U-Bahn wird zurzeit die U5 nach Pasing verlängert – im Prinzip ein sinnvoller Ausbau und Lückenschluss. Pikanter Weise ist das genau das, was man mit der S-Bahn-Stammstrecke erreichen wollte. Das heißt: Hätte man diesen Plan (der auch damals schon im Gespräch war) verwirklicht, hätte man mindestens 15 Jahre und ca. 10 Mrd. Kosten einsparen können. Die größte Quelle für den ständigen S-Bahn-Verdruss wäre längst beseitigt.
Was keine Zeitung verrät – und was in München auch sonst noch schiefläuft
Was aber keine Zeitung verrät: Wer hat das ganze Desaster eigentlich – neben der dauer-gescholtenen Bahn – verbrochen? Wer zahlt, schafft an: Es sind die Bauherren, die schon seit 25 Jahren das Projekt betrieben und seit 9 Jahren beschlossen haben: Der Freistaat Bayern, die Bundesrepublik Deutschland mit ihren CSU-Verkehrsministern und – leider – auch die Münchner Oberbürgermeister und Stadträte, die ihre Pflicht zum Wohle der Stadt sträflich versäumt haben und weiter versäumen. All das ist ja auch aus Stuttgart wohlbekannt.
Wo wir bei München sind: Nicht nur bei der „zweiten Stammstrecke“, sondern bei einer ganzen Reihe von weiteren Projekten scheint die Stadt von allen guten Geistern verlassen – mit weiteren Kostenexplosionen und Zerstörungen infolge fataler Fehlscheidungen der letzten Jahre:
- Sei es der Plan für eine Nord-Süd-U-Bahn-Strecke „U9“ durch die Innenstadt;
- sei es das Kulturzentrum „Gasteig“, das seit fünf Jahren ruiniert und geschlossen einer angeblichen „Sanierung“ durch immer noch fehlende „Investoren“ harrt;
- sei es ein gigantisches Hochhaus-Projekt neben der ungenutzt brachliegenden riesigen Paketposthalle;
- sei es die historische „alte Akademie“, die man für einen inzwischen Bankrott gegangenen „Investor“ entkernt und ruiniert hat.
Alles Projekte, mit denen München seine Mega-Weltmeister-Fähigkeiten beweisen will, aber vorwiegend Bauruinen und Ratlosigkeit produziert.
Bahn und Verkehr in Deutschland: Ratlos
So geht es auch mit der Bahn und dem Verkehr in ganz Deutschland weiter: Die Bahn bekommt die Schelte, die sie auch verdient hat – aber wer sind die eigentlichen Verantwortlichen?
- Wer hat die deutsche Bahn seit 50 Jahren systematisch ruiniert, fast ausschließlich den Auto- und Flugverkehr begünstigt und nicht einmal ein Tempolimit auf Autobahnen zustande gebracht?
- Wer hat die Verkehrsminister seit 1990 gestellt, sich mehr um Autobahnen und „Freies Rasen für freie Bürger“ als um die Bahn gekümmert?
- Wer hat die Interregio-, Nacht- und Autozüge abgeschafft, seit 1994 mehr als 12 % der Strecken stillgelegt, Bahnhöfe geschlossen und ganze Regionen vom Fernverkehr abgehängt?
Eine unselige Kette von Bahn-zerstörenden Verkehrsministern und Bahnchefs reiht sich da zusammen.
Aber wer sorgt in der neuen Koalition für das Wohl der Bahn und ihrer Fahrgäste? Wer bietet den Bahnhofs-Zerstörern von Stuttgart, München, Hamburg-Altona, Frankfurt und sonst wo Einhalt? Wer stoppt die sinnlosen und teuren Großprojekte nach Bielefeld, Ulm und Rosenheim, in die Lüneburger Heide, zum Elbsandsteingebirge und in Spessart-Höhen? Und wer bringt stattdessen den Deutschland-Takt aufs richtige Gleis, flüssig, zügig und überall erreichbar?
Mit Mut aus der Bahn-Schockstarre
Dazu bräuchte es viel Mut für eine echte Verkehrs- und Bahnreform: für Strecken-Reaktivierungen, Elektrifizierung, Doppelgleise und Weichen für mehr Bahn in der Fläche und mehr Bürgernähe.
München wäre ein gutes Beispiel für einen solchen Befreiungsschlag – heraus aus der Weltmeister-Mentalität des „mia san mia“ zu einem soliden Projekt des Vernünftigen und Bezahlbar-Machbaren. Dazu bräuchte es einen – zunächst für „Realo-Politiker“ schmerzhaften – aber notwendigen Beschluss:
Sofortiger Baustopp bei der Zweiten Stammstrecke, stattdessen unverzügliche Umplanung und Ausbau des Südrings – Inbetriebnahme vorgesehen für das Jahr 2030 (eigentlich hätte das bis 2020 längst erfolgt sein können). Gleichzeitig schrittweise Realisierung der notwendigen Ausbauten für die Außenstrecken und den Nordring. So hätte München ein modernes und dauerhaften Schnellbahn-System – und eine verlässliche S-Bahn weit vor 2037.
Mit alledem könnten die guten Geister wiederbelebt und zu neuem Leben erweckt werden. Am Ende könnte man dann sogar wieder über die Stadt schwärmen: „München leuchtet“.
Damit endlich wieder Vernunft in die deutsche Bahn- und Verkehrspolitik einkehren möge schließt Wolfgang Hesse – für den ich ja hier rede – auch dieses Mal mit Cato dem Älteren:
„Ceterum censeo
auch in Stuttgart und München
der Wahnsinn esse terminandum“
– und rufe Euch zu: OBEN BLEIBEN!