Allons enfants – auf zur Verkehrswende!

Rede von Joachim Holstein, „Bürgerbahn – Denkfabrik“, auf der 764. Montagsdemo am 14.7.2025

Bonjour et bonsoir, liebe Anwesende,

das heutige Datum lädt dazu ein, mit einem Blick zurück zu beginnen – vor 236 Jahren begab es sich, dass die Bevölkerung einer Stadt mit rund 600.000 Einwohnern, 500 Kilometer westlich von Stuttgart, ziemlich unzufrieden mit den allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen war. Der Brotpreis explodierte, Entscheidungen wurden nur in abgeschotteten Zirkeln an der Spitze des Staates getroffen, und der größte Teil der Steuergelder wurde ausgegeben für Rüstung und für Prestigeprojekte der Landesherren. Acht Jahre zuvor hatte der Finanzminister erstmals einen Bericht über die Einnahmen und Ausgaben des Staates vorgelegt, und dadurch wusste man, dass eigentlich genügend Geld vorhanden war, und konnte immer lauter fragen, wofür es eigentlich ausgegeben wurde. Und dieser beliebte Finanzexperte – ein Mann mit dem schönen Nachnamen Necker – war gerade entlassen worden, weil der Staatschef der Ansicht war, mit sowas wie „Der Staat bin ich“, „Basta“ und „Der Käse ist gegessen“ – also mit Parolen im Bierdeckelformat – weiterregieren zu können.

Dann war aber am 14. Juli 1789 der Käse nicht mehr gegessen, sondern das Fass übergelaufen, und rund 1.000 mutige Menschen stürmten ein verhasstes Bauwerk, das wie kein anderes die Arroganz der Macht symbolisierte. Als dem Staatschef in seiner abgeschotteten Residenz davon berichtet wurde, fragte er: „Ist das ein Aufstand?“ „Nein“, sagte der Berichterstatter, „das ist eine Revolution.“

Ich will mich jetzt hier nicht über die weltweiten Auswirkungen der Französischen Revolution auslassen, sondern erwähnen, dass bereits zwei Tage nach dem 14. Juli mit dem Abriss der Bastille begonnen wurde – bei Aufstand Abriss, sozusagen. Aus Mauerblöcken wurden kleine Modelle der Bastille gemeißelt, die als Triumphsymbole in den Hauptstädten der neuen Départements aufgestellt wurden, und aus den Ketten und Fußkugeln der Gefangenen prägte man 60.000 Medaillen mit Freiheitsmotiven.

Das mit den Mauersouvenirs hat man ja nach 1989 in Berlin fortgeführt, und hier … nun ja, also ich bewerbe mich schon mal, aus Kelchstützen kann man bestimmt hübsche Blumenvasen basteln.

Nun lohnt ein Blick nach Paris ja immer noch, gerade hier von Stuttgart aus, das ja, wie zu hören war, an der Magistrale Paris – Bratislava liegt und deswegen das neue Herz Europas sein soll.

Der frühere Slogan „Großstadt zwischen Wald und Reben“ war irgendwie besser im öffentlichen Bewusstsein verankert, und bei der heutigen Anreise habe ich mir die Strecke gegönnt, auf der man das mit Großstadt, Wald und Reben besonders gut erfahren kann: auf er Panoramabahn runter von Vaihingen zum Hauptbahnhof. Was schwebt denn den Verfechtern von Stuttgart 21 vor: „Stuttgart – Tiefhaltepunkt zwischen Feuerbach- und Fildertunnel“?

Nee, liebe Freundinnen und Freunde, alleine schon die einmalige Lage von Stuttgart mit der Einfahrt in den Hauptbahnhof, egal ob von Feuerbach, von Bad Cannstatt oder von Vaihingen ist es wert, dass wir immer wieder fordern: „Oben bleiben!“

Nun aber nach Paris und zu dem, was eine Verkehrswende bewirken kann.

Paris war bis ungefähr zur Jahrtausendwende ein Moloch, der am Verkehr buchstäblich fast erstickte. Abgas- und Feinstaubbelastung, endlose Staus im Zentrum… Zu Fuß hatte man es schwer, und wer mit dem Fahrrad in der Innenstadt unterwegs sein wollte, konnte im Grunde sein Testament machen.

Und dann kam 2001 zum ersten Mal seit der Pariser Kommune 1871 ein Bürgermeister ins Rathaus, der kein Rechtsbürgerlicher war: der Sozialdemokrat Bertrand Delanoë. Der begann mit einer Umverteilung des Straßenraums: in der Mitte der großen Boulevards wurden Fahrspuren aufgehoben, es blieb nur ein Fahrtstreifen pro Richtung übrig, dann folgte nach außen eine Parkspur, dann eine von hohen Bordsteinen geschützte Fahrradpiste und dann, nach der nächsten Bordsteinkante, das, was in Paris genauso heißt wie in Stuttgart, nämlich das Trottoir. Dazwischen übrigens auch noch Bäume.

Und diese Umverteilung, um den Menschen wieder mehr von der Straße zurückzugeben, propagierte man mit dem Slogan: „La civilisation des rues“ – die Zivilisierung der Straßen. Auf diesem Weg ist Paris unter Bürgermeister Delanoë und seiner seit 2014 amtierenden Parteikollegin Anne Hidalgo ganz schön weit vorangekommen. Auch wenn man Fotos und Videos von Amsterdam oder Kopenhagen von vor 50 Jahren mit dem heutigen Zustand vergleicht, dann merkt man den Unterschied. Aber auch dort gab es damals Skeptiker, die die Veränderungen bekämpften, nicht weil es wissenschaftlich haltbare Begründungen für Zweifel und Abwehr gegeben hätte, sondern weil wirtschaftliche Interessen dahintersteckten. Und heute mag man sich Kopenhagen, Amsterdam und Paris gar nicht vorstellen, wie diese Städte aussähen, wenn man weitergemacht hätte wie zuvor.

In Paris, wo es auf beiden Ufern der Seine Autostraßen gab, wurden diese Stück für Stück zurückgebaut, im Sommer mit Sand zugeschüttet und in ein Erholungsgebiet umgewandelt –„Paris Plages“, also „Strand Paris“ nannte man das, und bei der Olympiaeröffnung 2024 konnte die Welt sehen, was man mit einem zurückgewonnenen Flussufer alles veranstalten kann. Paris hat 70.000 Autoparkplätze abgebaut, hat die Innenstadt in eine Fußgängerzogen umgewandelt, auf den meisten Straßen gilt Tempo 30 und auf der Ringautobahn Tempo 50.

Sollen wir damit mal Stuttgart vergleichen? Mit der Heilbronner Straße, mit der Konrad-Adenauer-Straße, mit den ganzen Schneisen der Bundesstraßen oder mit dem Neckarufer gegenüber von Bad Cannstatt? Oder wenn wir an die Opfer denken, die an einer Straßenbahnhaltestelle von einem tonnenschweren Auto ums Leben gebracht werden? Da ist es noch ein weiter Weg von der Barbarei auf den Straßen zur Zivilisierung der Straßen!

Verkehrswende bringt aber noch mehr: Unter dem Pflaster, da liegt nicht nur Strand, sondern da liegt auch Erdreich, in dem man Bäume pflanzen kann. Paris macht das massenhaft, im Zeitraum 2020 bis 2026 wurden und werden 170.000 Bäume angepflanzt – mit dem Effekt, dass die Temperatur in den Straßen um etwa 5 Grad sinkt.

Und wenn jetzt hier die interessierten Kreise aus der Industrie tönen: Ja, aber wir sind doch im Autoland Deutschland, hier geht das nicht, dann schauen wir einfach mal an das andere Ende des berühmten europäischen Korridors Paris-Bratislava: die Slowakei ist das Land, in dem pro Kopf der Bevölkerung die meisten Autos produziert werden, drei bis vier Mal so viel wie in Deutschland. Und dennoch drängt auch Bratislava den Autoverkehr zugunsten von Öffis, Fahrrad und Fußverkehr zurück, und die Slowakische Staatsbahn glänzt mit kundenfreundlichen Angeboten sowie zuverlässiger Technik.

Demgegenüber stellt sich der neue Verkehrsminister Schnieder hin und verkündet als seine Hauptforderung: „Fliegen muss bezahlbar bleiben!“

Geht’s noch?

Ich meine, die Frage „Geht’s noch?“ muss man bei der Merz-Regierung gerade ziemlich häufig stellen, aber der Mann macht sich Sorgen um die Flugpreise von Echterdingen nach Köln oder von Frankfurt nach Dubai?

Während die Regierung trotzig verkündet, für das Deutschlandticket sei kein Geld da, und die Preise müssten dann eben steigen, oder man schafft es gleich ganz ab?

Also ich sage – und ihr sicherlich auch: Öffentliche Verkehrsmittel müssen bezahlbar sein, Bus und Bahn müssen bezahlbar sein!

Die Chefin des Hamburger Verkehrsverbundes Anna-Theresa Korbutt hat ein flammendes Plädoyer für das Deutschlandticket gehalten: „Derzeit haben 13,5 Millionen Menschen das Ticket abonniert, um die 22 Millionen haben es zumindest zeitweise genutzt – das sind mehr, als die katholische Kirche in Deutschland Mitglieder hat. Da frage ich mich, ob die Union wirklich ein Produkt vom Markt nehmen will, das ein Viertel der Deutschen nutzen oder genutzt haben. Und das von den Kundinnen und Kunden sehr gut bewertet wird, wie unsere eigenen Umfragen zeigen.“

Und weiter: „Die Länder müssten sich auch vielmehr überlegen: Wie können wir den Nahverkehr durch das Deutschlandticket effizienter machen? Das Deutschlandticket macht unser Geschäft günstiger, so müssen wir denken! Keine andere Branche ist so kleinteilig wie der Nahverkehr – IKEA agiert doch auch deutschlandweit und hat nicht in jeder Filiale ein eigenes Marketing, ein eigenes Warenwirtschaftssystem. Aber in unserer Branche machen Hunderte Verkehrsunternehmen alle ihr eigenes Ding. Jeder Betriebswirt würde fragen, was wir hier eigentlich treiben. … Vor dem Deutschlandticket hatten wir 70 verschiedene Zeitkarten, jetzt haben wir nur noch drei – eine Wochenkarte, eine Monatskarte und das Deutschlandticket. Wenn uns das auch bei den Einzeltickets gelingt, können wir den Vertrieb viel einfacher machen.“

Die Nutzerzahlen des Deutschlandtickets sind nach der Preiserhöhung zurückgegangen, von 14,2 auf 13,5 Millionen, als um etwa 6 Prozent. Über die Hälfte des Rückgangs wird auf die Preiserhöhung zurückgeführt.

Übrigens: In Hamburg haben 91 Prozent der berechtigten Kinder und Jugendlichen ein Deutschlandticket. Es ist nämlich für Schülerinnen und Schüler kostenlos. So geht das!

Zurück zu Verkehrsminister Schnieder. Der hat zum Thema Investitionen in den Verkehrssektor einen Satz gesagt, auf den wir ihn immer wieder festnageln sollten: „Wir setzen auf den Grundsatz: Erhalt vor Neubau.“ Also Herr Schnieder: kein Geld in Anhydrit-Tunneln verbuddeln, sondern: Oben bleiben!

Auch hier kann Paris als Vorbild dienen: die französische Hauptstadt hat sieben Kopfbahnhöfe. Sieben! Und die bleiben da auch!

Also nehmen wir uns ein Beispiel an Paris – für ökologische Städte, für eine Verkehrswende:

Oben bleiben!

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