Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, auf der 775. Montagsdemo am 29.9.2025
Liebe Freundinnen und Freunde!
Einmal mehr haben wir uns zum Gedenken an den rechtswidrigen Polizeieinsatz vom 30.9.2010 versammelt. Wieder denken wir an die staatliche Gewaltorgie und rufen: Wir vergessen nicht!
Mit dieser Feststellung wollte ich es eigentlich bewenden lassen und nicht mit einem Rückblick auf das, was wir erdulden mussten und was für immer in uns lebt, alte Wunden aufreißen. Das war, bis ich heute Morgen den Bericht in der Stuttgarter Zeitung gelesen habe. Da ist von „Kampf im Park“ die Rede, von „massivem Widerstand.“ Wurfgeschosse seien geflogen. Stundenlang sei zäh um jeden Meter gekämpft worden. Die falschen Darstellungen haben mich so getroffen, dass ich spontan meinen Redetext geändert habe und der StZ zurufe: Nein, so war das nicht! Es war kein Kampf, sondern nicht zu rechtfertigende staatliche Gewalt, angeheizt vom Ministerpräsidenten Mappus, damals genannt „Rambo“. Gegen den, wie ich durch Auswertung geheim gehaltener Unterlagen aus dem Staatsministerium nachweisen konnte, der Verdacht der uneidlichen Falschaussage im Untersuchungsausschuss des Landtags besteht. Vielleicht will die StZ mal darüber schreiben?
Letztes Jahr hatte ich berichtet, dass ich am 9. September 2024 an Innenminister Thomas Strobl und an den Stuttgarter Polizeipräsidenten Markus Eisenbraun geschrieben hatte. Ich hatte nachgefragt, wie sie den Einsatz im Schlossgarten aus heutiger Sicht bewerten, welche Vorkehrungen getroffen worden seien, um Ähnliches künftig auszuschließen, und welche Rolle die Erfahrungen in der Ausbildung junger Polizistinnen und Polizisten spielen. Auch hatte ich ein persönliches Gespräch vorgeschlagen und mein Buch „Unerhört.Ungeklärt.Ungesühnt“ beigefügt, sowie um Antwort vor meiner Rede am 30.9. gebeten.
Schon am 14. Oktober teilte mir Thomas Strobl mit: „Seien Sie versichert, dass mir eine stetige Fortentwicklung unserer Landespolizei sehr am Herzen liegt und unter Berücksichtigung der Erfahrungen aus der Praxis sowohl mit der Fortbildung des bestehenden Personals als auch mit der Ausbildung künftiger Polizistinnen und Polizisten hierfür Sorge getragen wird.“ Und wie von ihm gewohnt – das Aktionsbündnis hat schon öfter vergeblich um ein Gespräch gebeten – gab es kein Gesprächsangebot.
Wenigstens habe ich inzwischen erfahren, dass Thomas Strobl es mit der Sorge um die Ausbildung künftiger Polizistinnen und Polizisten sehr ernst meint. Denn wörtlich hat er geäußert: „Wer Polizisten mit dem Messer angreift, hat sich entschieden, nicht mehr zu leben. Jedenfalls, nicht mehr in diesem Land zu leben." Das ist so etwas wie die Aufforderung zum finalen Todesschuss.
Trotzdem stellte Ralf Kusterer, Landesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft, fest: „Würde Herr Strobl seine Aufgaben ernst nehmen, hätte er längst mit einer Digitalisierungsoffensive im öffentlichen Dienst und bei der Polizei begonnen.“ Immerhin ist Thomas Strobl seit 2016 nicht nur für Inneres, sondern auch für Digitalisierung zuständig. Also vielleicht eine Fehlbesetzung im Amt?
Wer jetzt hofft, die Polizei sei kritisch und bezüglich des Schwarzen Donnerstags weiter als der Innenminister, dem lese ich jetzt aus der Antwort des Polizeipräsidenten Eisenbraun vom 28.10.2024 vor. Der schrieb: „Aus unserer Wahrnehmung heraus und den zahlreichen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen, aber auch durch Schreiben, die wir von Bürgerinnen und Bürgern erhalten, entnehme ich, dass diese Spaltung sowie Ihr angeführter Vertrauensverlust seit langem kein Thema mehr sind, weder in der breiten Mitte der Gesellschaft noch innerhalb der Stuttgarter Polizei.“ Also alles in Butter, wir gehören eben nicht zur breiten Mitte. Und zum Schluss steht wörtlich: „Daher versichere ich Ihnen an dieser Stelle, dass Recht und Gesetz für meine Kolleginnen und Kollegen und mich immer handlungsleitend sind und wir für deren Einhaltung heute und auch in Zukunft stets verantwortungsvoll eintreten werden.“
Markige Worte, nur leider sprechen die Berichte über Polizeieinsätze eine ganz andere Sprache, und das nicht nur bei Demonstrationen. Erinnern möchte ich besonders an die Stuttgarter Einsätze zum 1. Mai. Die Kontext:Wochenzeitung hat mit ihren Recherchen falsche offizielle Darstellungen aufgedeckt. Gerade jetzt in der Zeit von Demonstrationen gegen Rechts und gegen den Krieg in Gaza zeigt sich, wie rigoros und mit verwerflicher Gewalt durchgegriffen und abgeschreckt wird. Da wird ein Grundrecht anders definiert als von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes gefordert. Denn unter Meinungsfreiheit verstanden sie nicht nur, dass man eine andere Meinung haben darf, sondern dass man diese Meinung auch öffentlich äußern und sich auch dann versammeln darf, wenn die Meinung von derjenigen der Herrschenden abweicht.
Und wenn wir schon bei den schlechten Nachrichten sind, so muss ich leider erwähnen, dass auch die Verantwortlichen in der Landeshauptstadt nichts dazugelernt haben. Obwohl das völlig unnötig und der Bau der Interimsoper bei den Wagenhallen nicht gesichert ist, will die Stadt ein dort wild gewachsenes Wäldchen noch in diesem Herbst komplett abholzen. Begründet wird das damit, dies sei zur Vergrämung der streng geschützten Mauereidechsen notwendig. Ihr erinnert euch an den ersten Teil des Dramas im vergangenen Februar, den wir letztlich trotz umfangreicher juristischer Schritte nicht verhindern konnten. Allerdings hat noch nie jemand Eidechsen in dem Wäldchen gesehen. Nicht genug damit: Das bewundernswerte Experiment Stadtacker darf dort zwar weitermachen, muss aber alles komplett entfernen, was den Eidechsen Schutz bieten könnte. Also buchstäblich jeden Blumentopf. Dazu schrieb mir ein Betroffener: „Ich sehe hier einen Interessenkonflikt innerhalb der Stadt, weil Stuttgart bis 2035 klimaneutral sein will und das auch mit mehr Begrünung erreichen möchte. Und es deswegen solche Orte wie diesen kleinen Wald für das Ziel der Klimaneutralität braucht.“
Das Ganze passt ins Bild einer Stadt, die sich auf den immer stärker werdenden Klimawandel nicht einstellen will, und der Leben und Gesundheit ihrer Bürgerinnen und Bürger offenbar egal sind. Wie anders sonst könnte man es sich erklären, dass beispielsweise das Gelände A2 des jetzigen Kopfbahnhofs zugebaut werden soll. Damit wird das Europaviertel erweitert, welches intern in der Stadtverwaltung „Bratpfanne“ heißt. Dazu hatte ich durch einen Antrag auf Akteneinsicht Unterlagen des Amtes für Umweltschutz erhalten, die klar ausweisen, dass genau dort die Hauptbelüftungsachse des Talkessels verläuft. Diese wird durch die Bebauung blockiert. Insider haben mir ihre Sorgen mit dieser Planung geschildert, wagen aber nicht, sich an die Öffentlichkeit zu wenden.
Und damit sind wir beim Bürgerbegehren, welches schon aus Klimagründen diese Bebauung verhindern will. Erst recht brauchen wir aber für einen guten Bahnverkehr, insbesondere für den Erhalt der Gäubahn, den Kopfbahnhof weiter. Wir protestieren auch gegen die unzulässige Behinderung des Bürgerbegehrens durch öffentliche Falschaussagen der Stadtverwaltung, an der Spitze OB Dr. Frank Nopper. Unter Verstoß gegen die Verpflichtung zur Objektivität und Neutralität unterstellen sie uns, wir seien gegen Wohnungsbau. Das Gegenteil ist der Fall. Wir fordern, dass sofort preiswerter Wohnraum geschaffen wird statt unbezahlbarem in den Vierzigerjahren. Denn es gibt genügend schnell bebaubare Flächen und 11.500 leerstehende Wohnungen, wie die Stadt selbst gezählt hat.
Gerade habe ich den Aufruf einer Vereinigung zur Förderung der Demokratie mit dem Motto „Ohnmacht ist keine Option“ gelesen. Das passt hundertprozentig auf uns, denn wir lassen uns nicht unterkriegen. Sinnbild dafür ist unser Schild mit der Aufschrift „Kopf bleibt oben“, welches ich gerade in einem Fernsehbericht zum heutigen Tag wiedergesehen habe. Das ist genau das Richtige, denn wir können stolz erhobenen Hauptes unsere Anliegen vertreten. Mut gemacht hat mir auch ein Abend mit engagierten Menschen von Kesselbambule zur Vorbereitung einer Klimakonferenz im November. Solange es solche tollen jungen Menschen an unserer Seite gibt, ist mir nicht bange. Und begeistert bin ich, dass ich vergangenen Freitag im Interview mit dem koreanischen Fernsehen dazu aufrufen konnte, bei einem großen Bahnprojekt in Busan die dortige Zivilgesellschaft mit einzubeziehen.
Und jetzt darf ich euch zur Veranstaltung des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 zur Unterstützung des laufenden Bürgerbegehrens gleich anschließend ab 19:30 Uhr im Großen Saal des Gewerkschaftshauses ganz herzlich einladen. Der Demozug wird dorthin gehen und ein spannendes Programm mit Beiträgen von Hagen von Ortloff, Jürgen Resch, Matthias von Hermann und Dr. Hans-Jörg Jäkel wird beweisen, dass wir den oberirdischen Hauptbahnhof weiter brauchen. Ganz besonders freue ich mich, dass unser Liedermacher Thomas Felder sich zu einem Auftritt bereit erklärt hat. Gerne dürft ihr euch dort auch noch zur Mithilfe bei den Aktionen zum Bürgerbegehren melden.
Dass Ihr Alle uns weiter unterstützt, ist für mich ebenso sicher wie dass wir weiter
Oben bleiben!