Widerstand und Alltag – über die Folgen eines Wasserwerferschlages

Rede von Daniel Kartmann, Musiker, auf der 775. Montagsdemo am 29.9.2025

Liebe Freundinnen und Freunde,
Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,

wir blicken auf nun schon 15 Jahre seit dem schrecklichen und unrechtmäßigen Polizeieinsatz im Schlossgarten zurück! Nun stehe ich wieder einmal hier oben und bin froh und dankbar, zu Euch zu sprechen. Ich möchte Euch heute ein paar persönliche Einblicke aus der Perspektive eines Verletzten gewähren über die Zeit des Widerstandes und die Folgen des fatalen Wasserwerferschlages am sogenannten Schwarzen Donnerstag.

Immer wieder werde ich gefragt, wie es mir denn geht nach meiner Verletzung. Darauf kann ich nur antworten: es geht mir gut. Aber ich werde diesen Tag, dieses Ereignis, diesen Schlag und diesen Schmerz nie vergessen. All das ist in meinem und unser aller Gedächtnis eingebrannt, und wir sind dadurch in dieser Stadt und darüber hinaus miteinander verbunden.

Nach 15 Jahren Rückschau wiederholt sich vieles, manches verblasst und einige Themen spielen keine Rolle mehr.

Niemals jedoch werden wir die Bilder der Verletzten, die zügellose Gewalt der Polizei, die auf wehrlose, friedliche Bürgerinnen und Bürger, auf Kinder – Schülerinnen und Schüler – auf Rentnerinnen und Rentner, sogar auf Unbeteiligte rücksichtslos und mit brutaler Gewalt geprügelt, mit Pfefferspray unmittelbar ins Gesicht gesprüht und mit Wasserwerfern direkt auf Kopfhöhe geschossen haben, vergessen. Hunderte wurden verletzt – ich war einer davon.

Niemals vergessen wir die grausamen Bilder von Dietrich Wagner, der so schwer getroffen wurde, dass er die letzten 13 Jahre seines Lebens in nahezu kompletter Blindheit verbringen musste. Lieber Dietrich – wo auch immer du jetzt bist – wir werden dich nicht vergessen!

Wir Alle, die wir hier seit Jahren gegen dieses unsinnige Projekt Stuttgart 21 demonstriert haben, wissen, dass Widerstand leisten eben auch bedeutet, Opfer zu bringen. Neben dem Alltag, den jeder und jede auf seine und ihre Weise zu bewältigen hat, muss man zusätzlich Kraft, Zeit, Kreativität, Muße und den Mut aufbringen, um dieses Engagement zu leisten. Wenn das viele tun, fällt es leichter und man kann etwas erreichen, es wächst der Glaube, dass man etwas verändern kann.

Ich erinnere mich gerne an die Zeit im Schlosspark vor dem besagten 30.09.2010: die tausenden Leute im Park – friedlicher Protest durch alle Schichten: bunt, kreativ, gut informiert, solidarisch, kommunikativ, manchmal anstrengend, schräg, auch schrill – vor allem beim Schwabenstreich, in Zelten, auf Bäumen, in Musikgruppen, Gottesdiensten, Diskussionsforen oder beim Tai Chi auf der Wiese – beständig und stetig wachsend. Das konnte den Merkels, Mappus‘, Rechs, Gönners, Strobels, Grubes, Schusters und wie sie alle heißen, nicht gefallen. Sie bekamen es mit der Angst zu tun – diese Menschen im Park, die ihre Zeit und ihre Energie opferten, um dem aus Profitgier, Macht- und Geltungssucht geborenen Projekt im Weg zu stehen, die für eine andere Idee von Stadt und Zusammenleben, konkret für einen modernen, funktionsfähigen, ökologisch und verkehrstechnisch sinnvollen Kopfbahnhof demonstrierten, mussten zu Opfern gemacht werden. Diesen Protest zu brechen, war das Ziel des Einsatzes am 30.09.2010!

Durch den Wasserwerferschlag, der mein Auge traf, und der mir durchaus noch schlimmere Verletzungen hätte zufügen können, war ich erst mal außer Gefecht gesetzt. Als damals dreifacher Familienvater und freischaffender Musiker geriet ich in eine existenziell bedrohliche Lage. Dank großartiger Unterstützung durch meine Familie, vor allem meiner Frau, meinen Kindern, meinen Eltern, meinen Freundinnen und Freunden, aber eben auch durch die wunderbaren Menschen in dieser Bewegung habe ich zu neuer Kraft gefunden. Dafür kann ich nicht oft genug Danke sagen!

Wie sich dieser Schicksalsschlag für mich und meine Kinder auswirkte, möchte ich in einer kurzen Anekdote verdeutlichen: Ein paar Monate nach dem 30.09. bekam einer meiner Söhne – er war gerade drei Jahre alt – Besuch von der Polizei im Kindergarten. Die netten Herren in Uniform wollten den Kindern mal erklären, was für ein spannender und wichtiger Beruf Polizist sein kann. Auf die Frage, des Polizisten, ob ihm der Beruf denn gefallen würde, antwortete mein Sohn: „Ich finde die Polizei nicht gut.“ Und auf die Frage, warum das so sei, antwortete er: „Weil ihr meinem Vater das Auge rausgeschossen habt!“ Da war der Mann aber erst mal sprachlos. Als ich von den Erzieherinnen diesen Bericht gehört hatte, war ich einerseits sehr stolz auf meinen Sohn, andererseits wurde mir bewusst, wie sehr meine Verletzung auch ihn beschäftigte, ja sogar belastete. Später erfuhr ich von meinen Kindern, dass sie sehr große Angst um mich hatten. Immerhin war ich wochenlang im Krankenhaus und sah wirklich nicht so schön aus mit nur einem vollwertigen Auge.

Wenn mein dreijähriger Sohn schon so mutig ist, dann kann ich das jetzt auch wieder sein. Jedenfalls hat mir dieser Vorfall Mut gemacht, mich weiter im Widerstand zu engagieren. Das ist auch nötiger denn je – nicht nur gegen S21, sondern auch gegen den bedrohlich aufkommenden Faschismus und gegen antisemitische und antimuslimische Pogrome, gegen Krieg und Kriegstreiberei, gegen eine damit einhergehende Militarisierung, die unser Zusammenleben nicht nur in Stuttgart, Deutschland und Europa, sondern global massiv in Gefahr bringt. Gegen die Zerstörung unserer Umwelt und die Armut, die daraus erwächst.

Widerstand leisten erfordert aber auch Widerstandsfähigkeit. Das heißt, dass man sich gut um sich kümmern muss. Wichtig ist, nicht nur auf seine Gesundheit, sondern eben auch auf die eigenen Ressourcen zu achten. Nur wenn man in innerem Gleichgewicht ist, schafft man es, wirklich nachhaltig Widerstand zu leisten. So muss ich immer wieder in mich hinein hören, wenn ich zu einer Demo gehe, wenn ich Widerstand leiste, und mich fragen: kannst Du das im Moment wirklich leisten? Oder bin ich anfällig für Verletzungen. Denn alte Wunden reißen all zu schnell auf, jede Provokation kann dann zu einem emotionalen Ausbruch, manchmal auch zu einem Zusammenbruch führen.

Als ich vor Jahren mit meiner Familie an einem Sonntagmorgen gleich hier hinter uns am Schillerplatz – in der Stiftskirche war gerade Gottesdienst, meine Kinder noch klein – spazieren ging, schoss plötzlich eine Polizeistreife von der Markthallenseite auf den Platz und meinte, da zwei-dreimal um die Schillerstatue rasen zu müssen. Da hatte ich das gleiche Gefühl wie vor 15 Jahren im Park: Die muss ich aufhalten! Ich nahm all meinen Mut zusammen und stellte mich vor diese flegelhaften Insassen im Polizeiauto und fragte sie, was das soll. Sie kamen direkt vor mir zum Stehen und blafften mich an, sie täten nur ihre Arbeit. Mit quietschenden Reifen jagten sie einfach davon. Danach bin ich innerlich zusammengebrochen, die Ohnmacht war wieder da. Da war ich froh, dass meine Lieben direkt um mich herum waren.

Und so bin ich es auch heute: In der Mitte von Menschen, die einem zuhören, die gemeinsam auf sich und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter achten, deren Meinung anhören, sich zusammenschließen und sich gegenseitig unterstützen! Wir brauchen weiterhin den Mut und die Selbstverständlichkeit, uns zu widersetzen, wenn uns eine innere Stimme sagt, dass wir es tun müssen.

Wie mein Sohn gegenüber einem großen Polizisten in Uniform nein sagte, dürfen wir das kindliche, naive Gefühl, nein zu sagen, zulassen und es ebenfalls aussprechen. Der Widerstand lebt. Der Mut unserer Kinder steckt uns an.

Also in jeglicher Hinsicht: OBEN BLEIBEN!

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