Gegen die Zerstörung des Sozial- und Rechtsstaats

Rede von Joe Bauer, Stadtflaneur, Autor und Journalist, auf der 777. Montagsdemo am 13.10.2025

Liebe Stuttgarter Protestgemeinde,

vielen Dank für die Möglichkeit, heute wieder im Zentrum der Stadt die wichtigste Bühne des Bürgerprotests besteigen zu dürfen. Und die schlechte, die deprimierendste Nachricht dieses deutschen Reformherbstes gleich zu Beginn: Hier auf dem Stuttgarter Schlossplatz, wo auch heute wieder über den Zustand eines weithin bekannten Größenwahnprojekts informiert wird, darf an Silvester keine große Party mit Musik und Feuerwerk stattfinden. Silvester ist ja schon bald, und ihr alle müsst in diesem Jahr zu Hause bleiben. Der Gemeinderat hat es mit großer Mehrheit abgelehnt, zum Neujahrsbeginn einen öffentlichen Provinzrummel für die lächerliche Summe von einer Million Euro zu finanzieren. In Anbetracht der Tatsache, dass ein Euro inzwischen angesichts der allgemeinen Preissteigerungen sowieso nichts mehr wert ist, eine sehr bedauerliche Entscheidung. Fast so weitreichend wie der Beschluss der Europäischen Union, eine Vegan-Wurst in Zukunft auf keinen Fall mehr Wurst nennen zu dürfen.

Die eingesparte Silvester-Million kommt jetzt nicht unbedingt der Verbesserung der Verkehrssituation am Hauptbahnhof zugute. Diese Maßnahme gegen die städtisch finanzierte Versammlungsfreiheit zur Förderung des Alkoholkonsums hat also nicht zwingend mit Stuttgart 21 zu tun. Ich erwähne sie trotzdem, weil sie mit meinem heutigen Thema zu tun hat: Die Stadt Stuttgart muss sparen.  Und zwar dermaßen sparen, dass sogar CDU und alle anderen Parteien und Fraktionen außer den Freien Wählern und einem Tierschützer gegen die Silvesterparty gestimmt haben. Und das, obwohl dieses Ereignis der renommierteste Festles-Experte und erfolgreichste Fassanstecher Europas unbedingt höchstpersönlich durchsetzen wollte, nämlich der Stuttgarter Oberbürgermeister Nopper, besser bekannt als Backnang-Frank.

Solange nur Partys aus dem städtischen Haushalt gestrichen werden, könnte man meinen, sind wir noch gut bedient. Aber leider läuft es anders, und deshalb ruft unsere Initiative Gemeinsam gegen rechts – für eine bessere Demokratie wieder zu einer Kundgebung auf: Wir treffen uns schon an diesem Samstag, 18. Oktober, hier auf dem Schlossplatz. Thema: „Gegen die Zerstörung des Sozial- und Rechtsstaats“. Untertitel: „Demokratische Errungenschaften verteidigen! Minderheiten vor Angriffen schützen!“

Und für diese Aktion wurde ich als Werber zu dieser Montagsdemo eingeladen.

Angesichts des ungebremsten Erstarkens der Rechtsextremen im Land und in der Welt müssen wir selbst damit rechnen, schon bald nur noch einer Minderheit anzugehören. Das ist durchaus möglich in einer Zeit, in der der US-amerikanische Demokratie-Zerstörer Donald Trump ernsthaft für den Friedensnobelpreis gehandelt wird – und die aktuelle Friedensnobelpreisträgerin Maria Corina Machado ihre Auszeichnung eben diesem Desaster-Präsidenten widmet.

Damit zurück zu unserem bundesrepublikanischen Sozial- und Rechtsstaat. Ich zitiere mal eine Zeitungsmeldung von Ende September: „Stadt Stuttgart verhängt Einstellungsstopp.“ Bei freiwilligen Leistungen bleiben 500 Stellen unbesetzt. Ich wiederhole: 500 notwendige Stellen werden nicht besetzt. Zu den sogenannten freiwilligen Leistungen gehören beispielsweise Kinder- und Jugendangebote und Hilfsangebote für Menschen, die in psychische oder materielle Not geraten sind. Oder auch die städtischen Bäder, die Menschen aller Altersgruppen etwas Erholung und Gesundheit verschaffen.

Wie gesagt: Das sind nur Beispiele für freiwillige Leistungen. Noch ist der neue Stuttgarter Haushalt im Gemeinderat nicht verabschiedet, zu hören ist allerdings aus zuverlässigen Quellen, dass der oberste Rathaus-Chef seine Verwaltung nicht annähernd so im Griff hat, wie es für eine Stadt mit 600.000 Einwohnern wichtig und absolut notwendig wäre. Man könnte auch sagen: Es hat sich ein gewisses Chaos in den Ämtern ausgebreitet. Und dafür, denke ich, dürfen wir auf keinen Fall die Leute verantwortlich machen, die tagtäglich ihre Arbeit im Rathaus tun. Sondern die, die nicht die notwendigen Voraussetzungen für diese schwere Arbeit schaffen.

Nun ist es keine Frage, dass gespart werden muss, wenn die Steuereinnahmen der Kommunen sinken. Dass in unserem Sozial- und Rechtsstaat vieles mit der gerechten Verteilung und vor allem der oft lächerlichen Besteuerung von Monsterreichen nicht stimmt, dürfte hier bekannt sein. Umverteilung von oben nach unten wäre bitter nötig, auch als demokratisches Zeichen. Mit unseren Christ- und anderen Spezialdemokraten läuft diese Umverteilung allerdings mehr verkehrt herum, nämlich von unten nach oben.

Man muss vermutlich auch nicht mehr besonders deutlich darauf hinweisen, wie Steuergeld verschwendet wird, wenn es darum geht, mit Dollar-Zeichen in den Augen auf die Immobilienprofite eines irrwitzig geplanten Angeber-Projekts namens Stuttgart 21 zu spekulieren. Es geht beim Thema Sozialstaat im Übrigen nicht nur ums Geld, die Sache ist viel schlimmer. Es geht um die Zerstörung des sozialen Gedankens innerhalb unserer Gesellschaft. Der Geist des Miteinanders wird vernichtet.

Seit langem beispielsweise wird das sogenannte Bürgergeld auf eine Art und Weise zu einem Thema hochgeputscht, dass viele glauben, der komplette Haushalt der Republik werde von etwa fünf Millionen Empfänger:innen dieser Leistung bedroht. In Wahrheit geht es um ein paar Prozent des Gesamthaushalts. Dass mehr als 800.000 Menschen mit Bürgergeld aufstocken müssen, weil ihr Lohn trotz Vollzeitarbeit nicht ausreicht, um ihre Existenz zu bestreiten, um ihre Miete bezahlen zu können, wird höchst selten erwähnt.

Meine Absicht aber ist es nicht, hier auf dieser Montagsdemo ein Zahlenwerk vorzutragen. Mir geht es um etwas anderes. Mit den Angriffen auf die Bürgergeldempfänger wird das brandgefährliche Sündenbock-Denken forciert. Nach dem niederträchtigen Motto: Weil einige zu faul sind, ist die Lebensqualität der ganzen Gesellschaft in Gefahr. Und so verkündet die Regierungskoalition von sogenannten Christ- und Sozialdemokraten mit unfassbarem Getöse eine sogenannte Reform des Bürgergelds. Man nennt es jetzt Grundsicherung und droht mit großer Geste allen Empfängern, die ihre Auflagen nicht erfüllen, mit der Streichung ihres ohnehin spärlichen Betrags fürs Überleben. Dabei sind es nicht viele, die diese Auflagen, etwa die Jobcenter-Besuche, nicht erfüllen. Und von denen, die es tun, sind nicht wenige psychisch oder suchtkrank.

Das alles aber spielt in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle. Von Propaganda aufgeheizter Volkszorn differenziert nicht. Ganz im Gegenteil: Wir erleben eine große, eine pauschale Hetze gegen angebliche Schmarotzer. Und die zielt immer auf Minderheiten: auf Migranten, auf queere Menschen, auf Behinderte und so weiter.

Naturgemäß gibt es bei jeder Art von Geldverteilung Missbrauch, das habe ich selbst schon bei unserer ehrenamtlichen Spendenaktion während der Corona-Pandemie erlebt – aber dieser Missbrauch steht in keinem Verhältnis zu den üblen Angriffen auf die, die wirklich in Not sind.

Die Verunsicherung vieler, die angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung um ihre Existenz bangen und oft ohne Not in irrationale Ängste verfallen, führt zum Hass gegen die ohnehin Gebeutelten unserer Gesellschaft. Dieser psychische Mechanismus, das wissen wir aus der Geschichte, funktioniert sehr simpel – und ist lebensgefährlich. Denn wie immer kommt er den Rechtsextremen und ihrer Partei zugute. Die brauchen bekanntermaßen keine Argumente. Für ihre Propaganda reicht es, mit primitivsten emotionalen Parolen Menschen in Gut und Böse einzuteilen. Und die Bösen sind dann die da unten – und die gibt es in der Propaganda der Rechten nur deshalb, weil die da oben es so wollen. In dieser irren Situation leben wir, und es ist äußerst schwierig, klaren Kopf zu behalten.

Verunsicherung und Ängste sind ansteckend, und wir können nur etwas dagegen tun, wenn wir zusammenhalten, wenn wir uns zusammentun, wenn wir gemeinsame Sache machen. Wenn wir die Erfahrung machen, gemeinsam etwas zu verändern. Wenn wir das positive Gemeinschaftsgefühl erleben. Auf uns allein gestellt haben wir keine Chance, und Rio Reisers Songzeile dürfte noch bekannt sein: „Allein machen sie dich ein“.

Schauen wir auf Stuttgart 21. Die ganze Sache lief und läuft nicht so, wie man an den guten und großen Tagen des Protests hoffen konnte. Aber – und das ist doch das Positive dieses Protests: Wir alle haben gesehen, was möglich ist, wenn wir handeln. Dass es möglich ist, Zigtausende auf die Straße zu bringen, um gegen Unrecht zu protestieren. Und wer sagt uns denn, dass nicht schon morgen oder in zwei Monaten oder in einem Jahre eine große Bewegung entstehen kann, die für die Demokratie auf die Straße geht? Die sich wehrt gegen die Entmenschlichung und die Verrohung unserer Gesellschaft – einer Gesellschaft, in der viele ein faschistisches Verhalten an den Tag legen, die gar nicht genau wissen, was Faschismus eigentlich ist.

Ich bin seit jeher ein eher skeptischer, ein pessimistischer Mensch, keiner, der laut Hurra brüllt und sich in der Feierstimmung auf Silvesterpartys besonders wohlfühlt. Eines aber habe ich gelernt, auch dank Stuttgart 21: Wenn wir noch etwas Hoffnung haben, dann müssen wir handeln. Hoffen und handeln gehören zusammen. In diesem Sinne möchte ich dazu aufrufen und darum bitten: Unterstützt alle Aktionen für den Erhalt demokratischer Errungenschaften. Kommt zu unserer Kundgebung am kommenden Samstag.

Bei jeder Aktion geht es letztendlich um die Wurscht – ob vom Schwein oder vegan, ist völlig Wurscht.

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