Die Welt gewinnen – mutig statt machtlos

Rede von Kathrin Hartmann, Journalistin und Autorin, auf der 779. Montagsdemo am 27.10.2025

Vielen Dank für die Einladung, ich freu mich riesig darüber, dass ich jetzt zum dritten Mal hier stehen darf.

Und ich habe heute gute Laune und gute Nachrichten mitgebracht aus meiner bayrisch-schwäbischen Heimat. Ihr habt es ja bestimmt im Fernsehen gesehen: die Kühltürme des Atomkraftwerks Gundremmingen sind am vergangenen Samstag gesprengt worden. Bumm! Und eine Ära ist zu Ende. Was für ein Feiertag!

Ich weiß noch zu gut, wie mir diese Türme mit ihren dicken Dampfwolken, die man weithin am Horizont sehen konnte, immer Angst gemacht haben. Ich bin mit den atomunheilschwangeren Büchern von Gudrun Pausewang groß geworden, zwischen dem AKW Gundremmingen und den Pershing-II-Raketen im Unterallgäu. Ich erinnere mich noch genau an den 1. Mai 1986. Wir machten eine Radltour, vorbei an blühenden Löwenzahnwiesen, die Kühltürme in Gundremmingen im Blick.  Da wussten wir noch nicht, dass die Regenwolken den Gau direkt vor unsere Haustür getragen und radioaktives Material hier verteilt haben. Wenig später entsorgte meine Familie das gerade sprießende Gemüse aus unserem Garten, wir aßen fortan aus Dosen und der Tiefkühltruhe, schluckten Jodtabletten und blieben, soweit das möglich war, im Haus.  Meine Heimat traf der radioaktive Fallout nach Tschernobyl in Deutschland besonders stark. Der GAU von Tschernobyl hat mich geprägt, die Anti-Atomkraftproteste haben mich politisiert. Und heute, da sind die einstürzenden Türme für mich vor allem eins: Ein Symbol für den der Atomausstieg als große zivilgesellschaftliche, solidarische und demokratische Errungenschaft, die Vernunft, Fakten, Allgemeinwohl und Zukunft gegen Ewiggestrige, Ideologie, Wirtschaftsinteressen und harte politische Widerstände durchgesetzt hat.

Wenn jetzt Axel Bojanowski in der Springer-Presse Die Welt hysterisch wird und die Sprengung der Türme in Gundremmingen mit der Zerstörung der Buddha-Figuren durch die Taliban vergleicht, ja dann kann ich einfach nur laut und herzlich lachen, lacht gerne mit mir mit!

Auch bei euch in Stuttgart gibt es ja Grund zu großer Freude: ihr habt es geschafft, 24.000 Stimmen für das Bürgerbegehren gegen den Gleisbau am Rosenstein-Areal zu sammeln. Herzlichen Glückwusch! Das ist fantastisch.

Als mich Tom Adler vor ein paar Wochen eingeladen hat, hier zu sprechen und nachher im Weltcafé aus meinem Buch „Die Welt gewinnen“ zu lesen, da meinte er, an diesem Tag heute wäre das besonders wichtig, weil ihr dann alle vielleicht ermutigende Worte gebrauchen könnt für den Fall, dass die Unterschriftensammlung scheitern sollte. Das ist Gott sei Dank nicht passiert. Und so sag ich jetzt, wie es ist: jeder meiner Besuche bei euch ist auch eine Ermutigung für mich.

Ich erzähle darin von den Graswurzelbewegungen, die ich bei meinen Recherchen weltweit kennengelernt habe: die feministische Arbeiterinnenbewegung in der Textilindustrie von El Salvador, die Nachfahr:innen der Versklavten am Mississippi im US-Bundesstaat Louisiana, die heute gegen die Ausbreitung der Chemiefabriken kämpfen, die solidarische Bewegung in Griechenland, die als Antwort auf den Sparzwang in der Finanzkrise entstand, progressive Projekte mit Geflüchteten gegen die Festung Europa, Kämpfe für die ökologisch und soziale Konversion der Autoindustrie und Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, die mit agrarökologischem Anbau den Agrarmultis buchstäblich den Boden entziehen. Sie alle wollen nicht einzelne Missstände abstellen oder verbessern, sondern kämpfen für grundlegend andere Verhältnisse. Dabei entlarven sie ganz nebenbei Scheinlösungen und zeigen, dass ökologische und soziale Fragen nur gemeinsam beantwortet werden können. Diese Bewegungen sind durchdrungen vom unerschütterlichen Wunsch nach bedingungsloser Gerechtigkeit und dem unbedingten Willen, diese zu erreichen. Dieser Wille ist ansteckend, verbindet und schafft Raum für Utopien, die gemeinsam entwickelt werden.

Deswegen kommt auch die Bewegung gegen Stuttgart 21 in meinem Buch vor. Und der Protest geht inzwischen ja weit über den Erhalt des Bahnhofs hinaus. Hier geht um alles: Demokratie, Recht auf Stadt, Verkehrswende, Klimagerechtigkeit, Antifaschismus und Solidarität mit Geflüchteten. Tom Adler bezeichnet die Demos als „Volkshochschule unter freiem Himmel“, denn hier habt ihr einen festen Ort der Aufklärung und Weiterbildung, einen offenen Raum für Wahrheit und Gegenöffentlichkeit geschaffen, den ihr verteidigt und sichtbar macht. Ich bin stolz darauf, dass ich mich zu euren Verbündeten zählen und immer wieder das Herz der ökosozialen Bewegungen in Stuttgart besuchen darf.

Und jedes Mal bin ich fasziniert und inspiriert von der Entschlossenheit und Beharrlichkeit, der Herzlichkeit und dem Zusammenhalt dieser Gruppe. Ihr lebt das, was Antonio Gramsci als „Optimismus des Willens“ beschreibt:  nicht aufzugeben, an eine gerechte und lebenswerte Welt und Zukunft innerhalb der ökologischen Grenzen zu glauben und für sie zu kämpfen. Das ist das Wesen der Solidarität. „Solidarität bedeutet, den Versuch zu unternehmen, verbindliche und egalitäre Verbindungen zu knüpfen und Beziehungen aufzubauen, auch wenn die Lebensrealitäten weit auseinanderklaffen“, sagt der Politikwissenschaftler Alexander Behr. Auch er weiß nur zu gut: Der Kampf um Gerechtigkeit braucht einen langen Atem. Deswegen geht es nicht ohne Solidarität. Die bedeutet vor allem auch, sagt Behr, „sich die Haltung und Gewissheit zu eigen zu machen, dass solidarisches Handeln Sinn hat, egal wie die Dinge am Ende ausgehen“.

Alexander Behr setzt sich besonders mit Strategien der Solidarität auseinander. Protestbewegungen alleine, sagt er, reichen nicht aus: „Sie können den Druck nicht auf Dauer aufrechterhalten.“ Wenn Forderungen nicht institutionalisiert werden, also beispielsweise in ein Gesetz gegossen, bleibt alles beim Alten. Und auch Institutionen brauchen den Druck von unten, damit Gesetze nicht ausgehöhlt, geschleift oder abgeschafft werden. Behr beschreibt eine „Solidarische Arbeitsteilung“: Graswurzelbewegungen, NGOs und Gewerkschaften, aber auch kritische Wissenschaft und Journalismus, die zusammenwirken. Veränderung gelingt nur in Bündnissen, wie ich sie in diesem Buch auch beschrieben habe, in denen die Last auf viele Schultern verteilt sind, und in denen die ökologische und die soziale Frage gleichzeitig beantwortet wird. So entsteht globale Gerechtigkeit: der Kampf für autofreie Innenstädte verbindet sich mit den Kämpfen gegen den Rohstoffabbau im globalen Süden. Eine kleinteilige regionale und ökologische Landwirtschaft, die unabhängig ist von Importen, ermöglicht Menschen überall, selbst darüber zu entscheiden, was sie anbauen und essen wollen. Sie macht außerdem den Einsatz von mineralischem Dünger überflüssig, was wiederum die petrochemische Industrie obsolet macht. Und auf diese Weise ist auch das Lieferkettengesetz entstanden, das Unternehmen zur Einhaltung von Menschenrechten zwingen soll. Es wurde gemeinsam von NGOs, Graswurzelbewegungen im Globalen Süden und Gewerkschaften erkämpft, von Juristen entwickelt, von Journalistinnen und Journalisten verbreitet und von Mehrheiten in der Bevölkerung gefordert. Trotzdem braucht es weiterhin Druck auf die Politik, damit dieses Gesetz nachgeschärft wird und Wirkung zeigt.

Jeder und jede kann – nein: sollte! – an diesem solidarischen Projekt einer gerechten Welt mitmachen: „Wer Privilegien hat, der hat auch den Auftrag, diese Privilegien zum Wohle andere zu nutzen“, schreibt Behr. Es bedeutet, „mit denjenigen solidarisch zu sein, die in ihren sozial-ökologischen Auseinandersetzungen am meisten aufs Spiel setzen“ und die richtigen Aufgaben zu übernehmen. Für mich ist es das größte Privileg, dass ich hier stehen darf, dass ich euch und all die Menschen und ihre Kämpfe, über die ich schreibe, treffen und von ihnen lernen darf. Dass ich also Teil dieser großen globalen solidarischen Familie sein darf, die mir Mut macht und meine Zuversicht nährt, dass diese schöne Welt, die wir uns wünschen, Wirklichkeit wird.

Danke euch! Und in diesem Sinne: Oben bleiben!

Rede von Kathrin Hartmann als pdf-Datei

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.