Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D.; auf der 756. Montagsdemo am 12.5.2025
Liebe Freundinnen und Freunde,
heute möchte ich vom Risiko des Bauens im Anhydrit reden. Zu lange wurde die Öffentlichkeit bei dem Thema eingelullt mit dem Märchen, man habe alles im Griff. Aber plötzlich quillt der Freudensteintunnel und ich will erklären, was das mit Stuttgart 21 zu tun hat. Dazu habe ich mich durch Hunderte von Seiten an Unterlagen gewühlt, darunter allein 150 Seiten Protokoll der sogenannten Schlichtung unter Heiner Geißler. Dass ich diese überhaupt auswerten konnte, habe ich Wolfgang Kuebart von den Ingenieuren22 zu verdanken. Denn bei den Recherchen bin ich auf eine ganze Serie von Auffälligkeiten gestoßen. Wie kann es sein, dass die Protokolle der Schlichtung im Internet gelöscht sind? Wieso können plötzlich viele Unterlagen der Bahn nicht mehr abgerufen werden, auf die bei Wikipedia zum Freudensteintunnel wie auch zu Stuttgart 21 verwiesen wird? Wer hat da etwas zu verbergen?
Als ich noch 140 Folien eines Vortrags von Professor Kirschke, dem Gegenspieler von Professor Wittke im Fachgebiet Bauen im Anhydrit, ausgewertet hatte, rauchte mir der Kopf. Aber genau in diesem Moment stieg im Vatikan weißer Rauch auf und meine Gedanken lichteten sich.
Jetzt habe ich immer noch nicht erklärt, was der Freudensteintunnel mit Stuttgart 21 zu tun hat, und weshalb wir das Thema Anhydrit wieder aufgegriffen haben. Die Bahn überraschte kurz vor Ostern mit der Ankündigung, die Schnellfahrstrecke zwischen Stuttgart und Mannheim werde für sieben Wochen wegen Arbeiten am Freudensteintunnel vollständig gesperrt. Seither fallen viele Züge aus, und der Rest braucht wegen der Umleitung 45 Minuten länger.
Der Freudensteintunnel ist auf dieser Strecke der längste Tunnel. Er wurde 1990 fertiggestellt und mit der Eröffnung der Schnellfahrstrecke 1991 in Betrieb genommen. Schon 2009 wurden größere Schäden am Bauwerk dokumentiert, 2014 und 2017 waren es bereits umfangreiche Schäden. 2020 wurde die ganze Schnellfahrstrecke umfassend saniert. Deshalb kam die jetzige Sperrung völlig überraschend.
Seit wir die Rückschlüsse zu Stuttgart 21 gezogen haben, taucht quellender Anhydrit als Grund für die Sperrung offiziell nicht mehr auf. Ich habe jedoch die früheren Ankündigungen gesichert und kann zitieren, dass Grund für die Sperrung des Tunnels ein Quellen des Gesteins ist, welches zu Rissen in der Innenschale der Tunnelröhre geführt hat. Ausdrücklich wird auch der uns wohl bekannte Anhydrit genannt. Anhydrit ist ein Mineral im nicht ausgelaugten Gipskeuper. Wenn dieser mit Wasser in Berührung kommt, quillt das Gestein wie ein Hefeteig. Dieses Quellen kann zu einer Volumenzunahme bis zu 60% führen und bis 120 bar Druck erzeugen. Der Vorgang kann nicht mehr gestoppt werden und erfordert immer wieder Sanierungen, wie wir vom Stuttgarter Wagenburgtunnel, dem Leonberger Engelbergbasistunnel und der Altstadt von Staufen im Breisgau wissen. Zum Wagenburgtunnel muss ich nichts weiter sagen. Das ist in Stuttgart allgemein bekannt. Der Engelbergbasistunnel wurde nach vier Jahren Bauzeit im August 1999 eröffnet und muss wegen quellendem Anhydrit laufend saniert werden. Die Zahlen, was der Tunnel samt Sanierungen bislang gekostet hat, schwanken zwischen 800 Millionen und über 1 Milliarde €. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen dauert das Quellen 100 bis 150 Jahre, sodass immer wieder teure Sanierungen erforderlich sein werden. In Staufen im Breisgau quillt der Fels unter der gesamten Altstadt als Folge einer Geothermie-Bohrung. 204 Häuser sind betroffen. Einige mussten abgerissen werden, durch andere ziehen sich große Risse.
Aber was hat das alles mit Stuttgart 21 zu tun? Sehr viel, denn der jetzt quellende Freudensteintunnel wurde immer als Vorzeigeprojekt dafür gepriesen, dass man im Anhydrit sicher bauen könne. Und jetzt kommen wir zur sogenannten Schlichtung unter Heiner Geißler im Jahr 2010. Konkret war das am 20.11.2010. Da dozierte Professor Wittke als von den Projektbefürwortern benannter Sachverständiger lang und breit, dass man die Probleme des Tunnelbaus im Anhydrit im Griff habe. Und da spielte der Freudensteintunnel eine große Rolle. Wörtlich äußerte Wittke: „Es gibt kein Quellen im Freudensteintunnel. Diesen zähle ich zu den erfolgreichsten. Sie können auch lange warten; es wird nichts passieren, wenn Sie sich das genau anschauen.“
Das stieß auf Widerspruch des von den Projektgegnern benannten Sachverständigen Dr. Jakob Sierig, der von einem erheblichen Risiko sprach. Stuttgart 21 sei so extrem vom Betrieb der Tunnel abhängig, dass es unverantwortlich wäre, weitere Versuche mit Bauen im Anhydrit zu machen. Und da setzte Wittke noch einen drauf und äußerte wörtlich: „Die Zahl der Tunnel, die erfolgreich ausgeführt worden sind, ist größer, als Sie, Herr Sierig, das dargestellt haben. Ich zähle die Wendeschleife, den Hasenbergtunnel und den Freudensteintunnel dazu.“
Interessant auch, dass die Bahn im Freudensteintunnel einen zusätzlichen Versuchsstollen gebaut hatte, den sie Professor Wittke für seine Forschungen und Versuche überließ. Dabei berät Wittkes Firma seit vielen Jahren die Bahn für teures Geld. Wittke verwies auf diese angeblich positiven Erfahrungen („20 Jahre Versuche und Messungen“) in diesem Stollen und äußerte zu Stuttgart 21: „Das Risiko ist vernachlässigbar.“
Pech gehabt, lieber Herr Wittke. Sie hätten besser beherzigt, was Professor Dieter Kirschke in einem Fachvortrag in Baden-Baden im Jahr 2017 ausgesagt hat: „Anhydrit ist unberechenbar!“
Es wird aber noch toller: In dem streng vertraulichen Gutachten der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft zusammen mit Ernst Basler und Partner AG für den Aufsichtsrat der DB mit dem Titel „Überprüfung des Berichtes zur aktuellen Termin- und Kostensituation – Projekt Stuttgart 21“ vom 27. September 2016 werden die Risiken des quellenden Anhydrits bei Stuttgart 21 aufgelistet und scharfe Kritik an der PSU geübt. So wird berichtet, obwohl die PSU behauptet habe, dass alle Röhren absolut trocken gehalten worden seien, habe man beim Augenschein am 17.8.2016 an zwei Stellen im Cannstatter Tunnel Wasser vorgefunden. Ab einer Hebung des Tunnelbodens um 10 cm müsse man mit massiven Schäden rechnen. Für jede der Röhren wurde von einer Eintrittswahrscheinlichkeit zwischen 0,5 und 13,5% ausgegangen. Weil ja jeder der 4 betroffenen Tunnel zwei Röhren hat, kommt man also auf acht Röhren und kann das Risiko hochrechnen. Diese Tunnelröhren führen durch 15.290 Meter unausgelaugten Gipskeuper, wovon das Gutachten als kritische Bereiche immerhin 1.250 Meter einstuft. Das Gutachten schätzt die Kosten eines einzigen Schadensfalles auf 195 Millionen Euro. Folge wäre die langfristige Sperrung der betroffenen Röhre mit massiver Einschränkung des gesamten Bahnbetriebs. Der Esslinger Bahnhof müsste den Tiefbahnhof ersetzen.
Professor Wittke bekommt im Gutachten sein Fett weg: „Wir stellen zudem fest, dass die ausschließliche Abstützung auf einen einzigen Experten für die Beurteilung der höchst komplexen Anhydrit-Problematik hinterfragt werden muss.“ Das Gutachten kommt sogar zum Schluss: „Für dieses Problem (Quellvermögen des Gebirges) gibt es gemäß dem aktuellen Stand der Wissenschaft keine gesicherte bautechnische Lösung, welche die im Ingenieurbau üblichen Anforderungen bezüglich Lebensdauer und Unterhalt mit der geforderten Zuverlässigkeit erfüllen würde.“
Wer jetzt noch behauptet, es bestehe bei den S21-Tunneln kein Risiko, dem ist nicht mehr zu helfen. Aber jetzt sind wir an einer interessanten Frage. Wer sagt eigentlich, dass solche Risiken und Schäden bei Tunnelbauten und Großprojekten unerwünscht sind? Ist es nicht so, dass bei entstehenden Schäden Folgeaufträge locken, die Einnahmen auf viele Jahre sichern? Man denkt unwillkürlich auch an die Zusatzprojekte bei Stuttgart 21, immer noch mehr Tunnel und andere Bauten, die das große Geld bringen. Ist das vielleicht die Erklärung dafür, dass man nicht nur quellenden Anhydrit in Kauf nimmt, sondern auch unzureichenden Brandschutz, Überflutungsgefahr und andere Risiken? Ohnehin sind der Bau und der Betrieb von Tunneln ungleich teurer als oberirdische Strecken, und der CO2-Abdruck ist immens. Zudem ist der Energieverbrauch beim Zugbetrieb im Tunnel im wahrsten Sinne des Wortes unterirdisch. So gibt es Berechnungen, dass auf der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm, die mit ihren Tunneln viel kürzer als die alte Strecke über die Geislinger Steige ist, der Energieverbrauch trotzdem um 25% höher liegt.
Zurück zu Wittke: Sein Familienbetrieb WBI („Bekannt für jahrzehntelange Forschung und Entwicklung“) wird in zwei Wochen in Weinheim den 10. Felsmechanik- und Tunnelbautag veranstalten. Unter anderem geht es dabei um die Anwendung des „Partnerschaftsmodell Schiene“ beim Pfaffensteigtunnel. Sponsor der Tagung ist die DB InfraGo AG, verantwortlich für Stuttgart 21. Im Beirat sitzt der Tunnelbauer Dr. Martin Herrenknecht ebenso wie Manfred Leger, ehemals bei der Bahn für Stuttgart 21 zuständig. Da treffen sich also Auftraggeber und Auftragnehmer in trauter Runde. Schließlich muss auch das soeben beschlossene gigantische Sondervermögen für die Infrastruktur verteilt werden. Und so könnte man auf die Idee kommen, dass Gottes Segen nicht nur auf Stuttgart 21 ruht, sondern auch auf den Tunnelbauern.
Eigentlich könnte ich jetzt gleich noch weitermachen mit den erfundenen Güterzügen auf der Neubaustrecke Wendlingen-Ulm. Aber das ist ein anderes Thema und inzwischen wollen wir – oben bleiben!