Rede von Joachim Holstein, Bürgerbahn Denkfabrik für eine starke Schiene, auf der 784. Montagsdemo am 1.12.2025
Liebe Anwesende, liebe Freundinnen und Freunde einer besseren Bahn,
vor etwa 50 Jahren wurden in Deutschland zwei Lieder geschrieben, die zu Klassikern geworden sind. Das eine erschien 1972 und handelt von Trennung, Verlassenwerden, Einsamkeit, und ist ein verzweifelter Wunsch, dass etwas Kaputtgegangenes wieder repariert werden möge. Der Autor wählte als Metapher – die Bahn. Ausgerechnet.
„Es fährt ein Zug nach Nirgendwo“ … viele haben jetzt sofort die Melodie im Ohr, erinnern sich an den Namen Christian Anders … und vielleicht fällt ihnen noch ein, dass seitdem in Zeitungsartikeln, in denen der Zustand der Deutschen Bahn beschrieben wird, dieses „ein Zug nach nirgendwo“ immer wieder auftaucht: Weil eine Weiche falsch gestellt war, weil die Strecke stilgelegt wurde, oder die Bahn sich lieber um Projekte kümmert, die den Regenwald in Brasilien oder indigene Heiligtümer in Mexiko zerstören, anstatt hierzulande dafür zu sorgen, dass man von A nach B kommt. Und zwar nicht nur von Paris nach Bratislava oder vom Münchner Hauptbahnhof zum Flughafen, sondern auch von Schorndorf zur Schwabstraße und von Herrenberg nach Zuffenhausen.
Manche Zeile aus dem alten Lied kann man heute als Satire verwenden, zum Beispiel, dass der Zug „mit mir allein als Passagier“ fährt – das eignet sich gut, wenn man es in einer überfüllten S-Bahn hört, weil davor eine ausgefallen ist. Oder dass dieser Zug nach Nirgendwo einer ist, „den es noch gestern gar nicht gab“ – da ist es ja eher andersherum, nämlich dass der gewohnte Zug, auf dem man beim Pendeln angewiesen ist, plötzlich nicht mehr fährt, etwa weil das Personal fehlt oder die Bahnfirma pleite ist, oder wegen einer „Störung im Betriebsablauf“, und jetzt ganz aktuell: weil das mit der Digitalisierung real nicht so klappt, wie einem das die Herren Verkehrsminister in Berlin und Stuttgart versprochen haben.
Am krassesten ist aber der Vers „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo / und niemand stellt von Grün auf Rot das Licht“. Normalerweise ärgert man sich, wenn das Signal rot ist, wenn die Durchsage kommt, dass das Gleis noch nicht frei ist … aber ihr wisst alle, dass es auch etwas bei der Bahn gibt, wo man schon viel früher die Signale von Grün auf Rot hätte stellen müssen, nämlich bei größenwahnsinnigen und schädlichen Projekten wie Stuttgart 21, wie bei der zweiten S-Bahn-Stammstrecke in München, wie beim Frankfurter Tunnel, bei Tempo 300 zwischen Hannover und Bielefeld und bei der Verlegung des Bahnhofs Hamburg-Altona nach Diebsteich.
Aber es gibt tatsächlich Projekte, da hat man gerade noch rechtzeitig das Signal auf Rot gestellt: In Hamburg, wo zwischen dem Hauptbahnhof und dem Kopfbahnhof Altona die sogenannte Verbindungsbahn mit zwei Gleisen für Regional- und Fernverkehr und zwei Gleisen für die S-Bahn liegt, schlug der für die Bahn zuständige Staatssekretär Enak Ferlemann vor sechs Jahren völlig überraschend einen Tunnel für die S-Bahn vor, um deren bisherige Gleise für den Regional- und Fernverkehr nutzen zu können. Die Kosten wurden anfangs mit „drei Milliarden Euro“ angegeben – unsere Bürgerinitiative Prellbock hat genauer nachgerechnet und dabei gewisse Erfahrungen mit Tunnelprojekten in Stuttgart einbezogen und ist auf 14 Milliarden gekommen.
Nun ist vor einigen Wochen durchgesickert, dass das Projekt sang- und klanglos beerdigt wurde: Der Bund hat es auf der Prioritätenliste so weit nach hinten geschoben, dass die S-Bahn-Fahrgäste nicht in den Tunnel verbannt werden, sondern dass für sie gilt: Oben bleiben!
Die feuchten Träume der Tunnelfetischisten haben aber trotzdem schon Schaden angerichtet: Durch die Planung des S-Bahn-Tunnels sind in den vergangenen Jahren große Investitionen in das Hamburger S-Bahn-Netz unterblieben – so wie in München wegen der Planung einer zweiten Stammstrecke alle Pläne, neue S-Bahn-Strecken ringförmig um die Innenstadt zu erschließen, vom Tisch gewischt wurden. Auch andernorts kann man beobachten, dass das Geld, das der Deutschen Bahn für Investitionen zur Verfügung gestellt wird, von ihr möglichst ineffizient ausgegeben werden soll, indem überteuerte und wenig nützliche Prestigebauten projektiert werden, anstatt in den Bestand zu investieren, eingleisige Strecken endlich zweigleisig auszubauen, Weichen und Überholgleise nach dem Abriss unter Mehdorn und Grube wieder einzubauen und mehr Oberleitung zu verlegen.
Wir von der Fachleutegruppe Bürgerbahn – Denkfabrik haben am Wochenende hier in Stuttgart getagt, haben über solche Projekte gesprochen und darüber, wie sich eine bessere Bahn erreichen lässt, das haben wir auch gemeinsam mit dem Stuttgarter Bundestagsabgeordneten Luigi Pantisano beraten. Wir waren am Samstagabend auch bei der Abfahrt des Nachtzuges von Stuttgart nach Venedig, Budapest und Zagreb und haben mit Transparenten die Kampagne des europäischen Netzwerkes „Back on Track“ zur Förderung der Nachtzüge unterstützt.
Wir als Bürgerbahn freuen uns, dass die neue Bahnchefin Evelyn Palla keinen Eröffnungstermin für Stuttgart 21 mehr nennen will, sondern einen realistischen Blick auf dieses Projekt mitbringt. Denn wenn man sich alleine schon mal den Pfaffensteigtunnel anschaut, der den Abriss der Panoramabahn ermöglichen soll, dann müssen für diesen Tunnel sofort die Signale von Grün auf Rot gestellt werden, denn er würde ja buchstäblich nach Nirgendwo führen: nämlich in den steilen Fildertunnel, der weder von Güterzügen, noch von lokbespannten Schweizer Zügen und von Nachtzügen befahren werden kann. Wo sollen denn diese Züge hin, ohne Panoramabahn? Wir erinnern uns noch daran, was los war, als das Desaster von Rastatt die Rheintalstrecke lahmlegte und man wegen einer Baustelle nicht auf die Gäubahn ausweichen konnte! Sollen die Züge aus Zürich von Horb über Rottenburg durchs Neckartal oder über Calw durchs Nagoldtal geführt werden? Völliger Quatsch, das geht nicht – der Pfaffensteigtunnel mit dem Abriss der Panoramabahn würde also tatsächlich Züge ins Nirgendwo bedeuten.
Beim zweiten Lied über ein Verkehrsmittel ist sofort klar, worum es geht, wenn ich „Reinhard Mey“ oder „Wind Nord-Ost, Startbahn null-drei“ sage. Das Lied gehört zum kollektiven Gedächtnis – und das nicht, weil Mey es fertiggebracht hat, „Jacke“ auf „Luftaufsichtsbaracke“ zu reimen, sondern weil es an uralte Menschheitsträume anknüpft, man denke nur an den Mythos von Dädalus und Ikarus. Fliegen galt als Privileg der Götter, als Ausdruck der Freiheit, und dieses Gefühl, diese Verknüpfung hat sich tief ins Bewusstsein eingebrannt. Nicht nur im bildungsbürgerlichen Kanon, sondern auch im alltäglichen Sprachgebrauch, legendär wurde hier der Werbeslogan für den von 1968 bis 1973 gebauten Opel GT: „Nur fliegen ist schöner“.
Dieser Slogan stammt übrigens vom selben Autor wie die bekannteste Bahnwerbung aller Zeiten: „Alle reden vom Wetter. Wir nicht.“
Wenn also in diesen Monaten die Bundesregierung mit größter Selbstverständlichkeit die Parole „Fliegen muss bezahlbar bleiben“ raushaut und die Luftverkehrsabgabe senken will, aber gleichzeitig das Deutschlandticket, das von einem Sechstel der Bevölkerung genutzt wird, in zwei Jahren um fast 30 Prozent verteuert, dann arbeiten Flugindustrie und Regierung mit genau diesem kulturellen Mythos, mit dieser Erhöhung von Fliegen als persönliche Freiheit – und über diesen Gefühls-Bonus, über dieses „emotionale Kapital“, verfügt das Bahnfahren leider nicht.
Das ist schade – und eigentlich unlogisch, denn in einem Flugzeug zu sitzen, zu sechst oder sogar zu zehnt nebeneinander, eingezwängt in Sicherheitsgurte, ist das Gegenteil von Freiheit, wenn ich es mit dem Bahnfahren vergleiche. Denn obwohl sich Bahnbetreiber alle Mühe geben, das Wageninnere nach dem Vorbild von Flugzeugkabinen zu verunstalten, ist es bezeichnend, wie die Kundschaft mit den Füßen abstimmt: die Abteile, die Vierer-Separees, die Vierergruppen mit Tisch sind immer die beliebtesten Plätze; man kann aus dem Fenster die Landschaft betrachten, und wenn man es nicht eilig, aber die passende Fahrkarte hat, kann man unterwegs auch mal aussteigen.
Wir sollten mit diesem „emotionalen Kapital“ der Bahn selbstbewusster umgehen. Denn es gibt Hunderte von Artikeln, Büchern, Fernsehbeiträgen oder Filmen über die schönsten Bahnstrecken Deutschlands, Europas oder der Welt – aber es gibt nichts über „die schönsten Flugstrecken“ der Welt, denn „über den Wolken“ ist nicht die Freiheit, sondern die Langeweile derart grenzenlos, dass man nur fernsehen, reden oder schlafen kann. Googelt man nach „schönsten Flugstrecken“, dann findet man nur Landeanflüge, also etwas, wo Landschaft, Gebäude und Menschen fast zum Greifen nah sind.
Und was anderes als ein solcher Landeanflug ist es, wenn man über die Panoramabahn von Vaihingen aus herunterkommt? Auch wenn man von Zuffenhausen und Feuerbach kommt oder wenn man in Cannstatt in den Tunnel hineinfährt und in Stuttgart wieder herauskommt – dann ist das ein Erlebnis. Ganz anders, als wenn in einem kilometerlangen Tunnel die Bremsen quietschen, und man an einem unterirdischen Bahnsteig zum Stehen kommt.
Und deswegen müssen der Pfaffensteigtunnel gestoppt und die Panoramabahn erhalten werden, deswegen muss der Kopfbahnhof bleiben, denn wir wollen nicht wie die Maulwürfe in Stuttgart ankommen, sondern wir wollen …
O B E N B L E I B E N!!!






