Gastbeitrag von Martin Poguntke: Nicht wählen ist auch keine Lösung

Kommunalwahlen nicht unterschätzen!
Kommunalwahlen nicht überschätzen!
Aber wählen, was das Zeug hält!

Wir brauchen eine starke Minderheit in den Gremien!

Liebe MitstreiterInnen!

Die Entwicklung der GRÜNEN könnte einem wirklich die letzte Hoffnung rauben, dass es irgendeinen Sinn macht, zur Wahl zu gehen. Konsequent haben sie in den letzten Jahren – um sich als Partei der Mitte zu empfehlen – zentrale Positionen verwässert, wegen derer sie gewählt wurden. Sie unternehmen inzwischen (außer – zugegeben – einigen kritischen Anträgen und Fragen im Stuttgarter Gemeinderat) nicht nur nichts gegen S21, sondern behindern sogar den S21-Widerstand. Neuestes Beispiel: Sie verweigern im Bundestag ihre Unterstützung für einen Antrag der Fraktion DIE LINKE auf einen S21-Untersuchungsausschuss, für den die Stimmen beider Fraktionen gebraucht werden (siehe dazu die Online-Petition an die Grünen-Bundestagsfraktion – für die ich herzlich um Unterstützung werbe).

Aber ich meine, aus dem Versagen der GRÜNEN im Baden-Württembergischen Landtag und nun auch im Bundestag kann man nicht schließen, dass es grundsätzlich keinen Sinn mache, wählen zu gehen – im Gegenteil.

Ich sehe zwei große Gefahren:

  1. dass wir die Kommunalwahlen überschätzen (und dann frustriert werden),
  2. dass wir die Kommunalwahlen unterschätzen (und deshalb meinen, es lohne sich nicht, zur Wahl zu gehen).

Meine These ist: Wir müssen unbedingt wählen – aber mit Frustbremse und klarem Blick.

Die Kommunalwahlen werden überschätzt

Der Frust darüber, dass die ökosoziale Mehrheit im Stuttgarter Gemeinderat so wenig erreicht auf dem Weg, S21 zu stoppen, rührt nach meinem Eindruck daher, dass diese ökosoziale Mehrheit im Gemeinderat überschätzt wird. Wir müssen ungeschminkt den realen Bedingungen ins Gesicht sehen, sonst schmettern uns dauernd unsere eigenen unrealistischen Hoffnungen zu Boden.

Lediglich SÖS und DIE LINKE arbeiten konsequent gemeinsam gegen S21. Wenn wir von dieser Minderheit erwarten, dass sie S21-kritische Anträge durchbekommt, ist der Frust vorprogrammiert. Wir müssen erkennen: Die S21-Gegner sind im Gemeinderat eine politische Minderheit; sie können auch nicht auf eine Mehrheit hoffen; und deshalb müssen die Ansprüche an sie im Gemeinderat auch ganz andere sein (dazu weiter hinten mehr).

Die Hintergründe für die mangelnden Erfolge der S21-Bewegung im Gemeinderat liegen m.E. nicht an der Bewegung selbst, sondern an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen und Strukturen:

  • Die S21-Betreiber verfügen über eine so gut geölte Propaganda-Maschinerie (der sich aus wirtschaftlichen und politischen Gründen auch die große Mehrzahl der Medien unterwirft), dass sie es z.B. beim Volksentscheid geschafft haben, die Mehrheit der Bevölkerung von unglaublichen Lügen zu überzeugen.
  • Die Stadträte – selbst wenn sie gegenüber S21 kritisch eingestellt sind – unterliegen durchweg den Zwängen ihrer Parteien und Wählerbündnisse.
  • Die Interessen der Parteien und Bündnisse wiederum unterliegen großem Druck von außen: Vor allem die IHK und die in ihr organisierten Wirtschaftsinteressen haben (durch personelle Verfilzung und durch platte Erpressung) massiven Einfluss auf die „bürgerlichen“ Parteien.
  • Der gesellschaftliche Diskurs, in dem Meinungen gebildet und Entscheidungen ermöglicht oder verunmöglicht werden, ist einer, der im Wesentlichen außerhalb des Gemeinderats stattfindet. In einem gesellschaftlichen Gesamtdiskurs außerhalb der Parlamente wird die politische Stimmung von den gesellschaftlich Mächtigen so differenziert vorbereitet, dass sowohl die große Mehrheit der Bevölkerung sich daran orientiert als auch die so entstandene große Mehrheit des Gemeinderats kaum die Kraft hat, anderes zu tun, als diese außerparlamentarisch entstandenen Festlegungen im Grunde nur noch nachzuvollziehen.

Ich glaube, wer sich diese Begrenztheit des Gemeinderats nicht klar macht, wählt ihn mit Illusionen und wird zwangsläufig enttäuscht sein von dem, was anschließend im Gemeinderat passiert.

Die Gemeinderatswahlen werden unterschätzt

Wenn wir uns aber die besonderen Bedingungen einer Minderheit im Gemeinderat klar machen, entdecken wir, dass diese Minderheit – trotz aller Begrenztheit – eine erstaunlich große Macht hat:

  • Die Aufgabe der Minderheit besteht ja nicht darin, Anträge durchzubekommen. Dazu müsste sie ihre Anträge bis zur Unkenntlichkeit verdünnen. Aufgabe und Möglichkeit einer Gemeinderatsminderheit ist es nicht, Mehrheiten zu organisieren, sondern politischen Druck aufzubauen und die Vernetzung mit der außerparlamentarischen Bewegung zu gestalten. Und das kann bereits ein einzelner Stadtrat.
  • Aufgabe der Stadträte im Gemeinderat ist es, Informationen weiterzuleiten, die im Gemeinderat bekannt werden – das braucht die Bewegung unbedingt.
  • Auch an die Medien müssen Stadträte Informationen weitergeben – ein wesentlicher Teil ihrer politischen Arbeit.
  • Auch wenn die Minderheit keine Chance hat, Anträge durchzubekommen, ist es dennoch eine ihrer Aufgaben, immer wieder Anträge zu stellen, weil ja auch mit abgelehnten Anträgen Politik gemacht werden kann.
  • Auch das Abstimmungsverhalten ist wichtig: Für eine Minderheit geht es nicht darum, sich durch kluge Kompromissbereitschaft Bündnispartner zu erhalten, sondern durch ihre Gegenstimmen (z.B. gegen den Haushalt) ihre konkrete und grundsätzliche Kritik deutlich und öffentlich zu machen.
  • Und schließlich: Bei jeder Wortmeldung im Gemeinderat geht es im Kern um einen Beitrag zum gesellschaftlichen Gesamtdiskurs: Es geht darum, Dinge denk-möglich zu machen. Denn Gedanken, Deutungen, Forderungen, die einmal öffentlich geäußert worden sind, sind damit in der Welt und verschieben das Gesamtdiskursgefüge.
  • Das ist eben deshalb so wichtig, weil die politischen Entscheidungen ja im Kern gar nicht im Gemeinderat fallen (dort werden sie, wie gesagt, mehr oder weniger nur nachvollzogen), sondern im gesellschaftlichen Diskurs. Alles, was diesen Diskurs befeuert, irritiert, erweitert, das verändert die politische Gesamtsituation und ist zugleich Material für weitere politische Arbeit.

Ohne diese Arbeit im Gemeinderat würde ein wesentlicher Teil fehlen, durch den der politische Druck auf S21 aufgebaut und erhalten wird – je mehr Schultern diese Arbeit tragen, desto wirkungsvoller. Deshalb stelle ich mich zur Wahl, und deshalb finde ich, müssen wir alle zusammen unbedingt zur Wahl gehen: weil wir damit ein wichtiges Element des Gesamtdiskurses stärken und erhalten.

Auch begrenzter Einfluss ist Einfluss

Kinder und Psychopathen haben Omnipotenz-Phantasien – wir aber müssen ernst nehmen, dass wir alle nur ein Teil des Ganzen sind, der nur sehr begrenzten Einfluss auf das Ganze nehmen kann. Auch als WählerInnen haben wir nur sehr begrenzten Einfluss.

Wir dürfen deshalb nicht dem Irrtum verfallen zu denken: Wenn eine Aktivität nicht den ganzen Erfolg gebracht hat, war sie ganz umsonst. Wollten wir nur solche Aktivitäten mitmachen, von denen zu hoffen ist, dass durch sie allein S21 zu Fall gebracht wird, müssten wir m.E. nach und nach alle unsere Aktivitäten einstellen – weil keine einzelne Aktion es war und sein wird, die den erwünschten Erfolg allein herbeigeführt haben wird.

Die Wirklichkeit (und das politische Geschehen) sind zu komplex, als dass man grundsätzliche Veränderungen gezielt durch einzelne Aktionen erreichen könnte (nur durch Wahlen, nur durch Blockaden, nur durch Petitionen etc.). Wir müssen erkennen, dass es eine riesige Vielzahl von Einzelaktionen ist, die jede für sich ihre – oft gar nicht erkennbare – Wirkung haben. Unsere Vielfalt ist unsere Stärke!

Wählen ist nötig, aber nicht genug

Unverzichtbar ist darum, was Klaus Arnoldi vom VCD gesagt hat: „Die besten Argumente aus der Facharbeit werden ignoriert, wenn es den öffentlichen Resonanzboden der Bewegung und ihrer Demos nicht gibt.“ In Abwandlung eines Worts von Martin Luther bitte ich deshalb die Bewegung:

Wählt, als ob alles Demonstrieren nichts hülfe!

Und demonstriert, als ob alles Wählen nichts hülfe!

Oben bleiben!

Martin Poguntke (Theologe gegen S21)
Stuttgart, 17. Mai 2014

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