Aktion des zivilen Ungehorsams am 15. Februar 2012

Ankettung im Mittleren Schlossgarten in den Morgenstunden
Zwei K21-Aktivisten, die seit eineinhalb Jahren immer präsent sind, wenn es darum geht, den Widerstand mit Wort und Tat zu beleben, haben sich in der Nacht vom 14. zum 15. Februar im Rahmen einer Aktion des Zivilen Ungehorsams aneinandergekettet und unter einen Baum gesetzt. Sie stellten für die Einsatzkräfte ein nicht unerhebliches Problem dar. Durch psychologischen Druck wurden die beiden dazu gebracht, die Schlösser selber zu öffnen, doch konnten sie zuvor bei Pressevertretern  und Polizei sehr bestimmt ihre politischen Anliegen vorbringen. Ihre Erklärungen, die sie BAA zur Verfügung stellen, zeigen deutlich die politische Dimension ihres Aktes des zivilen Ungehorsams. Im Folgenden ist der ungekürzte Bericht aus der Nacht der Parkräumung veröffentlicht.

Idee und Durchführung: Sylvia Heimsch und Uwe Mannke.
Symbolischer Protest gegen die illegale und übereilte Zerstörung lebenswichtiger, prächtiger und  kerngesunder, fast 200 Jahre alter Bäume und des gleichalten Kulturgutes Gesamtanlage Schlossgarten.

Aktion:
Schutz einer Kastanie mittels Blockade durch Aneinanderketten mit zwei hochwertigen Bügelschlössern jeweils um den Hals, so dass das Wegtragen ein zu hohes Verletzungsrisiko bedeutete. I.d.R. müsste dann wenigstens ein Schloss aufgeflext werden.

A)   Begründung der Ungesetzlichkeit von Stuttgart 21
Warum haben wir uns entschlossen, uns dem Tatverdacht des Widerstandes gegen die Staatsgewalt auszusetzen?
1. Es wurde durch technische Analyse von Dr. Engelhardt bewiesen, dass der geplante Tiefbahnhof faktisch eine Leistungsverringerung des Bahnhofs Stuttgart sein wird. Dafür liegt keine Genehmigung des Eisenbahnbundesamtes vor. Ein Verleumdungsvorwurf von Seiten der DB AG wurde nicht durch (die öffentlich) angedrohte Strafanzeige bekräftigt. Beim angeblichen Nachweis der DB AG durch den sogenannten Stresstest wurde gegen gültige Berechnungsregeln für Planverfahren verstoßen; insbesondere wurde das Simulationsverfahren nicht vergleichend auf den bestehenden Kopfbahnhof angewandt.
2. Die rechtlichen Genehmigungen (Planfeststellungen) für das Gesamtsystem Stuttgart 21 stehen in wichtigen Teilen noch aus. Es kann mit Recht bezweifelt werden, dass eine Gesamtgenehmigung erreicht werden kann.
3. Die theoretische Möglichkeit, dass Stuttgart 21 plus doch noch ein genügend leistungsfähiges, sicheres, kunden- und insbesondere behindertengerechtes Bahnknotensystem werden kann, ist durch das Vorgehen der Bahn seit der sogenannten Schlichtung auszuschließen. Wichtige Bestandteile des aus unserer Sicht rechtsgültigen Abkommens zwischen den Vertretern der Bürgerbewegung und den Projektbetreibern wurden nachweislich durch die Projektbetreiber verworfen. Es kann erwartet werden, dass die Einhaltung aller Schlichtungsforderungen nicht finanzierbar, geschweige denn wirtschaftlich wäre.
4. Stuttgart 21 wurde bereits vor wenigstens zwei Jahren vom Bundesrechnungshof als unwirtschaftlich beurteilt. Es sind einige Dokumente aufgetaucht, die den Verdacht nahelegen, dass sowohl den Verantwortlichen der DB AG als auch der Landesregierung Fakten vorlagen und auch vorliegen, dass die Kosten in untragbarer Weise höher liegen als die 4,1 Milliarden, die immer durch alle Medien verbreitet werden. Von allen öffentlichen Projektträgern wird indes beteuert, nicht für eine Nachfinanzierung zur Verfügung zu stehen. Zwei Strafanzeigen gegen Verantwortliche der DB AG wegen schweren (Kosten)Betrugs wurden indes von der zuständigen Staatsanwaltschaft abgewiesen.
5. Der schleppende Baufortschritt lässt deutlich erkennen, dass Stuttgart 21 nicht in der geplanten Weise realisiert werden kann. Die intern ermittelten, viel zu hohen Kosten, wurden durch Phantomsparmaßnahmen künstlich heruntergerechnet, um die Genehmigung  durch den Landtag zu bekommen. Mehrere geplatzte Ausschreibungen und Rückgaben von Aufträgen durch Firmen deuten darauf hin, dass diese Kosten nicht auskömmlich sind und die Firmen zudem das hohe Baugrundrisiko scheuen, welches ihnen allein zugeschoben wurde. Zudem müssen etliche Planungen und Genehmigungen neu erfolgen, z.B. für das unterdimensionierte Grundwassermanagement.
6. Die rechtlich verbindliche Vereinbarung bei der Schlichtung, die auch durch die Landesregierung sowie durch Landtagsbeschlüsse bekräftigt wurde, dass im Schlosspark für Stuttgart 21 keine gesunden Bäume gefällt werden dürfen, wurde aus finanziellen Gründen gebrochen. Das vereinbarte Mediationsverfahren fand ohne die Gegnerseite statt. Die Rechtsverbindlichkeit der Schlichtung hat ausdrücklich auch schriftlich Dr. Heiner Geissler bestätigt. Leider ist das Verwaltungsgericht Stuttgart dieser Einschätzung nicht gefolgt; aber hierzu wurde Beschwerde beim Verwaltungsgericht Mannheim eingelegt.
7. Das Baurecht für den Bauabschnitt, das die Fällung der Bäume im Schlosspark erzwingt, besteht zwar für sich genommen unzweifelhaft; durch die vorgenannten Punkte entsteht allerdings eine erdrückende Argumentationslast, welche die Realisierung dieses Baurechts nach den Gesetzen der Vernunft ausschließen muss. Einer so zu erwartenden Beurteilung des Sachstandes verweigert sich sowohl das Stadtoberhaupt Stuttgarts als auch die Landesregierung. Die Landesregierung und leider auch die Sprecherin des Aktionsbündnisses haben die Volksabstimmung öffentlich als eine Entscheidung über Pro und Contra zu Stuttgart 21 erhoben. Frau Dr. Dahlbender ging sogar so weit, ohne dass es hierzu einen Konsens mit der Leitung der DB AG gab, ein Mehrheitsvotum gegen das Finanzierungs-Ausstiegsgesetz zu akzeptieren. Das berechtigt die Landesregierung aber nicht, die faktischen Rechtsverstöße, die in Punkt 1-6 genannt sind, einfach zu ignorieren oder als vom Volk so gewollt einzustufen. Im Gegenteil: Besonders die fehlende Leistungsverbesserung durch Stuttgart 21 wurde durch die Landesregierung, obwohl sie rechtzeitig vor der Volksabstimmung nachgewiesen war, nicht in der erforderlichen Weise publik gemacht, sondern verschwiegen.

Unser Fazit:
Wir mussten durch die genannten sieben Punkte zu dem Schluss kommen, dass die am 15. Februar 2012 durchgeführte sogenannte Baumaßnahme illegal oder zumindest grob sittenwidrig ist und nachweislich die Stuttgarter Bevölkerung schädigt und schikaniert, sowie den Baden-Württembergischen Steuerzahler und Bahnreisenden unverhältnismäßig stark belastet bzw. schädigt. Wir empfinden daher das Vorgehen der DB AG und der Landesregierung, die völlig unzulässig die Polizei zum Schutz dieses Zerstörungswerks einsetzt und dabei auch noch Millionen an Steuergeldern verschwendet, als grobes Unrecht. Es geht hier längst nicht mehr alleine um den Schutz der Bäume oder den denkmalgeschützten Bahnhof, sondern um die Verteidigung der Grundwerte des demokratischen Rechtsstaates.

B)   Innerer Zwang (Antrieb) gegen äußeren unmittelbaren Zwang (Polizei)
Die unrechtmäßigen Vorgänge im Zusammenhang mit dem Projekt Stuttgart 21 können von uns nicht einfach als Ergebnis eines demokratischen Prozesses hingenommen werden. Hier liegt die größte Schwierigkeit, weil unser Gemeinwesen sehr stark auf die Errungenschaften des demokratischen Rechtsstaates gründet, für die frühere Generationen gekämpft und gelitten haben. Es kann aber einem gut informierten Bürger nicht verborgen bleiben, dass unter dem vorgeblichen Bekenntnis, Demokratie und Rechtsstaat zu fördern, bei diesem Projekt vor allem die Interessen von Industrie und Arbeitgeber-Verbänden und in ihrem Gefolge der Arbeitnehmerschaft der Metall- und Bauindustrie bedient werden. Es hat sich in diesem Land ein sehr starker Zusammenhalt zwischen diesen Verbänden, der 58 Jahre lang regierenden CDU (mit FDP) und allen staatlichen Organen (Gesetzgebung, Regierung und Justiz) entwickelt, der dieses Projekt als einen existenziellen Besitzstand ansieht und parallel zum demokratisch gewählten Landtag eine Medienmacht installiert hat. Diese Medienmacht hat bisher erfolgreich verhindert, dass die Schwächen des Projekts und die Rechtsverstöße ausreichend bekannt wurden.
Vor diesem Hintergrund sind normale Demonstrationen, deren Beteiligungszahlen regelmäßig von den Medien halbiert werden und bei denen geringfügige Anlässe sofort benutzt werden, um alle Teilnehmer zu kriminalisieren, als völlig unzureichendes politisches Mittel anzusehen. Über diese Demonstrationen hinaus muss der verantwortlich agierende Bürger nach weiteren öffentlich wirksamen Äußerungsmitteln suchen, die zwar die Rechtsstaatlichkeit zum Ziel haben, sich aber nicht mehr in ein Ordnungsschema pressen lassen, das das Weiterfunktionieren dieser Unrechtspraxis garantiert. Auch das Demonstrationsrecht musste von unseren Müttern und Vätern erst erstritten, ja, erkämpft werden und wird vom Verfassungsgericht und Bundesgerichtshof zwar einerseits weiterhin differenziert und erweitert (z.B. Brokdorf-Urteil), auf der anderen Seite aber durch Landesgesetze und Verwaltungsbehörden der Städte durch Ordnungserlasse eingeschränkt.
Die Blockade einer Baustellenräumung durch ein gezieltes, aber friedliches Sich-Widersetzen sehen wir daher als eine folgerichtige und notwendige Erweiterung unseres Rechtes auf freie Meinungsäußerung sowie politischer Mitgestaltung im Rahmen des Versammlungsrechtes an. Wir nehmen eine mögliche Bestrafung unter den gegebenen gesetzlichen Bestimmungen einerseits in Kauf, müssen aber gleichzeitig darauf hinweisen, dass unser Verhalten ausschließlich dem Ziel dient, eine von allen gewollte Rechtsstaatlichkeit in unserer freiheitlichen Demokratie wieder herzustellen. Da es hierfür keine gesetzliche Regelung gibt, bewegen wir uns auf einem gesellschaftlich umstrittenen und rechtlich schwankenden Boden. Halt gibt uns nur die Kontinuität des friedlichen und vernünftigen Widerstandes seit nunmehr zwei Jahren; mit weit über hundert öffentlichen Kundgebungen von tausendenden friedlichen Demonstranten, die in der Geschichte dieses Landes einmalig sind. Diese Demonstrationen wären auch nicht möglich gewesen, wenn nicht viele denkende Akteure aus Wissenschaft, Geistes- und Rechtsleben, Ingenieurswesen, Bildung und Kultur kontinuierlich entscheidende Beiträge geliefert hätten. Letztlich ist die Entscheidung für eine sich staatlicher Gewalt widersetzenden Blockade immer eine Gewissensentscheidung. Die Erkenntnisse über die Unrechtmäßigkeit von Stuttgart 21 sind allerdings nur ein Papiertiger, wenn der politisch denkende Mensch seine Bequemlichkeit nicht überwinden kann. Den extremen Auswirkungen einer dem korrupten Denken wie der Schnäppchenjagd erlegenen Gesellschaft muss mit der Fähigkeit der Selbstüberwindung begegnet werden. Hier gilt es nicht nur Wind und Wetter sowie der Müdigkeit zu trotzen, sondern auch der Androhung von polizeilicher Gewalt (unmittelbarer Zwang) und gerichtlicher Strafe zu widerstehen; es gibt zunächst einmal kein billiges Davonkommen.

C)   Rechtsstaatlichkeit und die Rolle der Polizei
Seit dem 30. September 2010 wissen alle Bürger, dass auch friedlicher Widerstand gegen die Staatsgewalt gefährlich ist. Der Untersuchungsausschuss des Landtages hat keine Schuldigen gefunden, dafür aber versucht, den Demonstranten die Schuld zuzuweisen. Dennoch versuchen die Politik und die Polizeiführung zur zeitgemäßen (früheren) „Stuttgarter Linie“ zurückzufinden. Dieser Wille ist begrüßenswert, weil er ungeachtet der schwierigen Praxis ein Klima erzeugt, in dem sich der politisch denkende Bürger zutrauen kann, an Aktionen des zivilen Ungehorsams überhaupt teilzunehmen. Bei Glatteis von Polizisten weggetragen zu werden, setzt verantwortlich agierende Polizisten voraus. Wenn sich Menschen selbst durch Anketten oder Ähnliches bewegungs- d.h. fluchtunfähig machen, ist darüber hinaus ein hohes Maß an Umsicht und Verantwortungsgefühl bei der Polizei vorausgesetzt. Dieses Vertrauen hatten wir bei unserer Blockadeaktion; und es wurde nicht enttäuscht. Für den positiven Einsatzverlauf wollen wir uns beim Innenminister, der Polizeiführung, den beiden Abschnittsleitern des Polizeieinsatzes und den vielen anderen Polizisten, die mit uns zu tun hatten, ausdrücklich bedanken! Wir haben keinen Überblick, was in der Nacht vom 14. auf den 15. Februar alles geschah; aber in unserem Bereich spielte sich alles besonnen, zeitlupenartig und würdig ab. Mit uns Blockierenden wurde vernünftig und im großen und ganzen ruhig gesprochen. Nachdem wir ausreichend Gelegenheit bekommen hatten, unsere Blockadeaktion durch die Medienvertreter wahrnehmen zu lassen, einigten wir uns mit dem Einsatzleiter darauf, dass wir unsere Bügelschlösser durch Herbei-Telefonieren eines „Schlüsselbeauftragten“ freiwillig öffneten. Das war nicht einfach, weil alle Nichtblockierer und auch sonstige Polizei-Kontakt-Leute unserer Bewegung inzwischen längst abgedrängt worden waren; aber es gelang mit etwas Geduld dann doch. Am Schluss stellte sich heraus, dass einer der Abschnittsführer der Polizei mit seiner Ankündigung, dass wir beim freiwilligen Aufschließen nur mit einem Verdacht auf Widerstand gegen die Staatsgewalt zu rechnen hätten, nicht Recht behielt, denn die anschließende polizeiliche Behandlung ergab, dass wir eine Anzeige wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt bekommen werden. So hätte es die befragte Staatsanwaltschaft angeordnet.

D)  Die Rolle der Medien
Das Foto unserer Aktion ist zwar ziemlich oft in den Medien zu finden, allerdings sieht man darauf kaum, welcher Blockadetechnik wir uns bedient haben; das Beispiel soll wohl nicht Schule machen. Es gab etwa sechs Interviews, veröffentlicht wurde nur eines, das ca. 15 Sekunden dauerte. Dennoch wurde wenigstens die Friedfertigkeit und Vernunft unserer Aktion transportiert und dass es sich nicht um die Absicht  handelte, Stuttgart 21 physisch zu verhindern, sondern um eine symbolische Aktion, die sich an die verantwortlich politisch denkende Bürgerschaft wendet.

E)   Würdigung unserer Tat durch deutsche Gerichte
Der zivile Ungehorsam folgt in Stuttgart noch keiner Gesetzmäßigkeit, aber er fasst zunehmend Fuß. Das wird eigenartiger Weise durch das Vorgehen der Deutsche Bahn AG und der Repräsentanten unserer Demokratie gefördert und kann durch Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte zum Glück nicht verhindert werden. Ziviler Ungehorsam liegt immer dann vor, wenn geltende Gesetze bewusst aber verantwortungsvoll übertreten werden. Man folgt allein seinem Gewissen: Ohne die Verfolgung der von der  Polizei festgestellten „Straftat“ durch die Gerichte wäre die innere Freiheit nicht herausgefordert. Diese innere Freiheit ist das Kampfmittel gegen Korruption und politische Dekadenz. Wir sind darauf gespannt, welchen politisch denkenden Richtern wir gegenüber treten werden. Vielleicht findet sich innerhalb der durch 58 Jahre CDU gefilterten Richterschaft doch der ein oder andere selbstständig denkende und urteilende Kopf. Leider kann man durch das hohe Aufkommen von Stuttgart 21-Prozessen nicht mit einer zeitnahen Würdigung unserer Tat rechnen. Wir hoffen dennoch, dass wir beizeiten interessierte Zuhörer der Verhandlung haben werden und ebensolche Medienvertreter.
V.i.s.d.P.  Uwe Mannnke, Oberboihingen; Sylvia Heimsch, Stuttgart

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