Freispruch im Wagenburgtunnel-Prozess!

Prozessbeobachtung und Kommentar von Petra Brixel

Freispruch! Man glaubt ja nicht, dass es dieses Wort im Zusammenhang mit S21-Prozessen auch noch gibt. Aber am gestrigen Mittwoch, 7. November 2012, geschah das „Wunder“. Nein, es war keine Einstellung mit oder ohne Auflagen, es war schlicht ein Freispruch in einem Wagenburgtunnel-Prozess.
Zuvor hatten der Beschuldigte S., sein Rechtsbeistand Jänicke und Richter Dr. Stolle in einem über lange Strecken spannenden Verfahren die Vorkommnisse in der Nacht des 21. Januar 2012 vor dem Wagenburgtunnel detailliert nachvollzogen. Drei Zeugen wurden zur Wahrheitsfindung und Erhellung der formalen Vorgänge befragt: Der Polizist, der S. in jener Nacht von seinem Versammlungsort am Gebhard-Müller-Platz abgeführt hatte, jener andere Polizist, der für die Durchsagen aus dem Lautsprecherkraftwagen zuständig war und Herr C., der Vertreter des Amtes für öffentliche Ordnung, der in jener Nacht die Allgemeinverfügung verfasst und an die Polizei übermittelt hatte.
Dem Beschuldigten S. war ein Bußgeldbescheid zugegangen mit der Beschuldigung „Ihnen wird zur Last gelegt, am 21.01.2012 um 23:10 … als Fußgänger folgende Ordnungswidrigkeit begangen zu haben: Sie haben sich nicht unverzüglich aus einer öffentlichen Versammlung entfernt, obwohl diese … aufgelöst wurde.“ Dagegen hatte er Einspruch eingelegt, was die Grundlage zu dem heutigen Verfahren war.
Zu Beginn der Verhandlung, die sich von 9:00 bis 12:00 und dann von 13:30 bis 14:00 erstreckte, bat Richter Dr. Stolle den Beschuldigten, aus seiner Sicht die Vorkommnisse in jener Nacht zu schildern. S. gab zu, die Demonstration unterstützt zu haben und legte den Ablauf der Versammlung dar. Er fügte mit vielen  Gründen an, warum er in dieser Nacht an der für ihn richtigen Stelle stand. Er bestritt dabei das öffentliche Interesse am Bau von S21, er thematisierte die Volksabstimmung, die  in Wirklichkeit ein Referendum gewesen sei, er bezeichnete die 1,5 Mrd. Euro als Ausstiegslüge, bezog sich auf den manipulierten Stresstest und den Rückbau der Bahn-Infrastruktur,  den Verfassungsverstoß wegen der Mischfinanzierung und die verfassungswidrigen Finanzierungsverträge. Er zitierte den heutigen MP Kretschmann am 15.11.2010: „Finanzierungsverträge zu Stuttgart 21 sind nichtig. … Dadurch ist die Finanzierungsverpflichtung ungültig, das Land darf künftig keine Zahlungen leisten und kann die bereits gezahlten Mittel zurückfordern.“  Er erwähnte die fehlende Genehmigung von zwei Planfeststellungsabschnitten und noch nicht genehmigte Änderungen von Planfeststellungsabschnitten.
Rechtsbeistand Jänicke betonte u.a. in seinem Plädoyer, dass es bei diesem Prozess nicht um 100 Euro Bußgeld geht, sondern um das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit und die Frage, wie diesbezüglich der Staat, wie die Behörden mit den Grundrechten der Bürger umgehen. Die Behörden haben nach den rechtlichen Voraussetzungen zu arbeiten. Dies kann der Bürger verlangen.
In seinem Schlusswort bediente sich dann der Beschuldigte S. sehr anschaulich mehrerer Beispiele, die nicht unmittelbar mit S21 zusammenhingen, aber doch zeigten, dass es das Messen mit zwei verschiedenen Maßen zu allen Zeiten gab. So zitierte er Erasmus von Rotterdam (bedeutender niederländischer Gelehrter des Humanismus, 1466 bis 1536): „Stiehlt einer ein Goldstück, dann hängt man ihn. Wer öffentliche Gelder unterschlägt, wer durch Monopole, Wucher und tausenderlei Machenschaften und Betrügereien noch so viel zusammenstiehlt, der wird unter die vornehmen Leute gerechnet.“ Abschließend sagte S.: „Ich bin in der glücklichen Lage, unabhängig vom Ausgang des Verfahrens als Gewinner aus diesem zu gehen. Werde ich freigesprochen, haben auch Sie und unser Gemeinwesen gewonnen. Werde ich verurteilt, verliere ich vielleicht die letzte Illusion über unsere Rechtsprechung. Das wäre für mich ein Gewinn an Erkenntnis.“
Richter Dr. Stolle machte in seiner Urteilsbegründung klar, dass Fragen von Betrug, Untreue und Baurecht der Bahn vor anderen Gerichten ausgefochten werden müssen, hier gehe es um die Rechtsgrundlage für die Auflösung der Versammlung vor dem Wagenburgtunnel. Dass er die Demonstration für nicht vom Versammlungsrecht gedeckt halte, daran ließ er keinen Zweifel, denn für die rechtmäßigen Baumfällarbeiten habe der Platz aus Sicherheitsgründen geräumt werden müssen. Dass die Demonstranten an einem anderen Platz in der Nähe hätten demonstrieren können, war dem Versammlungsgesetz geschuldet. D.h. die Auflösung der Versammlung sei rechtmäßig gewesen, jedoch nicht die Vorgehensweise. Die Allgemeinverfügung der Stadt Stuttgart, die in dieser Nacht in zwei verschiedenen Ausfertigungen vorlag, war ein Verwaltungsakt, auf den sich die Auflösung der Demonstration hätte beziehen müssen. Dieser Verwaltungsakt wurde jedoch nicht ordnungsgemäß bekannt gegeben. Die Befragung von Polizisten und des Vertreters des Ordnungsamtes (der die Durchsetzung seiner Anweisung nicht kontrollierte), das Anhören eines vor Ort erstellten privaten Videos und vor allem die verschriftlichten Durchsagen  hatte ergeben, dass nicht ein einziges Mal der Wortlaut der Allgemeinverfügung durchgesagt wurde. Dass die Demonstranten nicht vom Wortlaut unterrichtet wurden, sei ein Verfahrensfehler gewesen. Die Gründe für die Auflösung hätten bekannt gegeben werden müssen, erst dann wäre die Auflösung rechtskräftig gewesen. So aber wurde formal gesehen die Versammlung nie aufgelöst und Herr S. hatte das Recht, dort zu stehen. „Wenn die Stadt das nicht hinkriegt, kann das nicht zu Ihrem Schaden sein“, sagte er dem Beschuldigten.
Was bedeutet uns dieses Urteil? Hoffnung! Bisher waren die Beschuldigten in den Wagenburgtunnel-Prozessen in ihre Verfahren gegangen mit dem Motto „Du hast keine Chance, aber nutze sie.“ Nur zwei Verfahren waren bislang mit Einstellung ausgegangen, die anderen mit der Verurteilung, 100 Euro Bußgeld plus Verfahrenskosten zu zahlen.
Wie beruhigend, dass das Gemeinwesen gestern einen Sieg errungen hat! Zwar verbat sich der Richter jeglichen Kommentar zu dem Urteil im Gerichtssaal, aber auf dem Gang fielen sich die Zuschauer doch um den Hals. Eine glückliche Stunde für K21!

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5 Antworten zu Freispruch im Wagenburgtunnel-Prozess!

  1. Uwe Mannke sagt:

    Hier stehen sich zwei völlig verschiedene Argumentationen gegenüber; und doch gehören sie für uns alle Betroffenen zusammen. Wie es scheint, hat der Richter den Freispruch nur gegeben, weil die Exekutive die Versammlungsauflösung nicht ordnungsgemäß hinbekommen hat. Das hätten allerdings andere Richter_innen vor ihm auch schon schaffen können.

    Hat sich der Wind gedreht? Ist der Blick jetzt frei geworden, sodass die Waage des Rechtsstaates den schweren Klumpen Unrecht bei S21 endlich richtig zu wiegen bereit ist?

    Dieses Urteil setzt Maßstäbe, man kann auf weitere gespannt sein. Wir werden das Unrecht bei S21 weiter zu verfolgen haben und sei es mit zivilem Ungehorsam, mit oder ohne Freispruchsgarantie.

  2. Steffen sagt:

    Gratulation! Darf man wieder an den Rechtsstaat glauben?

  3. richter marliese sagt:

    Eine Ehrung für das Engangement eine Stadt
    und Natur zu vernichten! Pfui,wer geht auf
    solch eine Uni?

  4. Elisabeth B. sagt:

    Das Urteil soll weite Verbreitung finden. Vielen Dank fürs Durchhalten und Argumentieren. Wir sehen uns ;-))

  5. Peter Illert sagt:

    Das Amtsgericht Stuttgart bewertet die Umsetzung der Allgemeinverfügungen der Stadt Stuttgart zunehmend kritisch.
    Das hängt damit zusammen, dass die von Schlossgarten- und Wagenburgtunnelverfahren Betroffenen zahlreiche Verfahrensmängel und Widersprüchlichkeiten herausarbeiten konnten. So tauchte , als Zweifel über die Wirksamkeit der Auflösung der Versammlung „Lange Nacht der Bürgerbeteiligung“ am 14/15.2 mittels der Allgemeinverfügung vom 22.12.2011 aufkamen, plötzlich eine neue Allgemeinverfügung in den Akten auf. Diese trug das Datum 15.2. und hatte die unmittelbare Auflösung der Demonstration im Park zum Gegenstand. Sie wurde dann auch ab Oktober zur Grundlage von Verurteilungen nach § 29 Versammlungsgesetz gemacht. Nur: Auf Befragung konnte in den von mir verfolgten Prozessen keiner der vor Gericht zum 15.2. aussagenden Polizeibeamten -und natürlich auch kein Demonstrant- bestätigen, damals eine solche Verfügung gekannt zu haben. Deshalb hat sie die Bezeichnung „Phantomverfügung“ durchaus verdient.

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