Guntrun Müller-Enßlin auf der 191. Montagsdemo am 30.9.2013

Guntrun Müller-Enßlin ©weibergLiebe Freundinnen und Freunde,

nein, ich werde ihn nicht vergessen, den 30.9.2010: Jenen schwarzen Tag, der damit begann, dass eine Schülerdemo für mehr Bildung und weniger Stuttgart 21 demonstrierte. Bis die Nachricht kam, dass starke Polizeieinheiten im Schlossgarten vorrückten. Die Jugendlichen eilten zum Park. Per Handy informiert, begab ich mich ebenfalls in den Schlossgarten und kam beim Versuch, meinen Sohn zu finden, wie viele andere in den Genuss einer Erlebnisdusche und der einschlägigen exotischen Duftsprays, Marke Mappus, Schlossgarten Extra.

Was sich im ZDF-Kommentar des damaligen Innenministers am gleichen Abend anhörte wie ein Wellnessprogramm, war in Wirklichkeit gar nicht lustig. Ins Gedächtnis unauslöschlich eingebrannt die Bilder: Kinder, die vor Wasserwerferstrahlen davonrennen, eine ältere Frau, die der Druck des Strahls buchstäblich durch die Luft schleudert, Polizeiketten, die eine Menschenmenge brutal zurückdrängen, so dass alle übereinander fallen, Bilder von Jungs und Mädels mit blutroten tränenden Augen, von in Gesichter gekippten Wasserflaschen, kaputten Regenschirmen, zerschossenen Brillen, blauen Flecken, triefenden Klamotten, Bilder von Kastanien, die, vom Wasserwerferstrahl von den Bäumen geschossen, wie Gewehrkugeln durch die Gegend rasen. Die Erinnerung an einen brachialen Wasserschwall, der mich umhaut, mir den Atem nimmt, eine Ozeanwelle – so muss es sein, wenn man ertrinkt. Abends im Fernsehen ein Minister, der von einer Art Sprühregen schwadroniert und von nicht angenommenen Deeskalationsteams und eine HEUTE-Moderatorin, die sagt: Das ist, als ob sie aus dem Krieg berichteten.

Auf immer eingebrannt die Gefühle: Erst Leere. Alle Gedanken und Empfindungen aus mir herausgepustet. Nichts spüren – auch nicht spüren wollen, es nicht glauben wollen. Das kann doch einfach nicht wahr sein. Ich träume – gleich wach ich auf. Kein Erwachen. Stattdessen Erstaunen. Das ist kein Film, auch kein falscher. Erst spät die Empörung, noch später die Wut. Und am Ende noch wochenlang dieser Kloß im Hals, der sich um nichts in der Welt hinunterschlucken lässt.

Der Schwarze Donnerstag war der dreisteste Vorstoß, eine mit redlichen Sachargumenten streitende Protestbewegung mundtot zu machen und zwar unter Inkaufnahme, dass Menschen in ihrer Gesundheit und Unversehrtheit irreparabel geschädigt wurden. Es war der unverfrorenste Versuch, eine intelligente, charismatische und friedliche Bürgerbewegung durch gezielte Provokation zu diskreditieren und zu Schmuddelkindern zu stempeln. Dass dies misslang, ist einzig den Bürgern und ihrem eisernen Willen zu verdanken, friedlich zu bleiben.

Dem allzu plumpen Ansinnen folgten verhohlenere Versuche mit der gleichen Absicht. Schon bei der sogenannten Schlichtung und danach bei der Stresstestshow wurden alle Register gezogen, um den Protest zum Erliegen zu bringen.

Die Sachebene, das war das Feld, auf dem die Betreiber von Anfang an verloren und rein gar nichts zu bieten hatten, deshalb musste die weg. Das gelang mit der Volksabstimmung: die nämlich beförderte die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 endgültig in die Gewässer der Formaljuristik, und damit waren die Klippen der kritischen Sachargumente, die die Mission Impossible des dümmsten Großprojekts seit dem Turmbau zu Babel hätten stoppen können, ein für alle Mal umschifft.

Wenn wir eines verstanden haben in den letzten drei Jahren, liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, dann das, dass Entscheidungen in unserem Land nicht nach den Prinzipien der Vernunft und nach Sachargumenten, sondern nach eigennützigen Interessen von Macht- und Finanzeliten gefällt werden und dass Inhalte und der gesunde Menschenverstand keine, aber auch gar keine Rolle dabei spielen. Die vergangenen drei Jahre waren ein einziger fortdauernder Versuch, die Auseinandersetzung mit Argumenten zur Strecke zu bringen und die Menschen, die sie vortrugen, kalt zu stellen.

Gerade recht gekommen sein mag den einschlägigen Kräften dabei der aus dem Mund unseres Ministerpräsidenten stammende Satz: In der Demokratie geht es um Mehrheit, nicht um Wahrheit. Ich halte diesen Satz für einen der verheerendsten Sätze der neueren deutschen Politikgeschichte. Warum? Wer die Ebenen von Mehrheit und Wahrheit gegeneinander ausspielt, wer das Mehrheitsprinzip absolut setzt, selbst wenn nach dessen Regeln der größte Mist beschlossen wird, der liefert stichhaltige Sachargumente, Inhalte und Parteiprogramme jedweder Partei, einschließlich seiner eigenen aus an diejenigen, die mit Geld und Werbemitteln jegliche Mehrheitsverhältnisse herbeimanipulieren können.

Anders gesagt: Wenn Demokratie versucht, ohne den Code Wahrheit auszukommen und diesen zum Ausverkauf freigibt, überlässt sie das Feld den Lobbyisten des Geldes und ihren Interessen, denn mit deren Webestrategen lässt sich, völlig unabhängig von irgendwelchen Argumenten, jede beliebige Mehrheit herstellen. Wie vollumfänglich ihr Sieg ist, sieht man in Stuttgart, wo ein Großprojekt durchgedrückt wird gegen alle Vernunft, trotz aller unberechenbarer Risiken, trotz ins Astronomische hochschnellende Kosten und obwohl sich mittlerweile von Helsinki bis Palermo herumgesprochen hat, dass es für Stuttgart etwa so viel bringt wie eine Sonnenbrille für einen Tiefseetaucher. Das alles spielt keine Rolle, Hauptsache basisdemokratisch legitimiert, Mehrheit statt Wahrheit. Ich frage mich und ich frage Ministerpräsident Kretschmann: Herr Ministerpräsident, glauben Sie diesen Satz wirklich? Um Antwort wird gebeten!

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, ich kann nicht verhehlen, dass mich die Erfahrung, wie Parteien Kreide fressen und auf Samtpfoten daherschleichen, sobald sie Regierungsverantwortung übernehmen, in den vergangenen drei Jahren des Widerstands gegen Stadtzerstörung und Demokratiesimulation hat äußerst pessimistisch werden lassen. Die hautnahen Erfahrungen von unbehelligt geschehenden Tricksereien, von Lug und Trug und Schein und die Schamlosigkeit, mit der sich dies ganz ungeniert und offensichtlich vor unser aller Augen abspielt, haben einem die Illusion genommen, dass das Instrumentarium unserer derzeitigen Demokratie taugen könnte, um Schaden vom Volk abzuwenden.

Wenn ich meinen Glauben noch nicht ganz verloren habe, dass sich in unserer Gesellschaft irgendetwas zum Besseren wenden könnte, dann deshalb, weil es diese Protestbewegung gibt! Wenn ich angesichts des derzeitigen politischen Marionettentheaters vor zappendusteren Kulissen für Stuttgarts Zukunft nicht völlig schwarz sehe, dann liegt das an Euch! Drei Jahre nach dem Schwarzen Donnerstag sind wir immer noch da. All die Bagatellisierungen, Kriminalisierungen, Provokationen, all die von Betreiberseite verordneten und angezettelten Bauchlandungen unserer Bewegung haben diesen Widerstand nicht stoppen, Wasserwerfer haben ihn nicht wegpusten können. Der Protest gegen den Wahnsinn, Unsinn, Starrsinn von Stuttgart 21 und das dahinterstehende Prinzip ist nicht totzukriegen und das ist gut so!

Denn, Freundinnen und Freunde, wenn es diese Bürgerbewegung, wenn es Euch nicht gäbe, dann müsste man euch erfinden. Man müsste Euch erfinden, weil diesem Land mit seiner Demokratie etwas fehlen würde, jene Facette nämlich, die dafür steht, dass es in dieser Demokratie eben nicht, völlig ungeachtet von Inhalten, nur um Mehrheiten geht. Wenn die Politik versagt, ist es im wortwörtlichen Sinn notwendig, dass es mit der Institution der Demonstration ein Instrument gibt, das in Bezug auf umwelt- und gesellschaftsschädigende Unternehmungen Kritik ungeschönt zu Gehör bringt; das muss sein, wenn wir unseren Planeten nicht über kurz oder lang vor die Wand fahren wollen. Indem wir demonstrieren, bleibt in der Welt präsent, dass Stuttgart 21 nach wie vor ist, was es immer war: ein kropfunnötiges Projekt von lausiger Qualität, ein Schildbürgerstreich zum Totlachen, wenn die Folgen nicht derart todernst wären.

Liebe Freundinnen und Freunde, nein, ich werde ihn nicht vergessen, den Schwarzen Donnerstag, an dem Tausende Bürger, Alte und Junge, sich den Wasserwerfern in den Weg stellten. Sie standen dort nicht nur, weil sie hofften, die Baumfälltrupps aufzuhalten, die sich anschickten zu zerstören, woran ihr Herz hing. Sondern sie standen dort auch als Platzhalter für die Unbestechlichkeit von Argumenten, für die unwiderstehliche Kraft des Wahrheitscodes, für Werte, die sich anders messen als in Euro und Cent. Sie stellten sich Kräften in den Weg, die uns Bürger, ohne dass wir es merken, zu Sklaven im Dienst des allmächtigen Kapitals und seiner Profiteure und Handlanger degradieren wollten. Das wollen und dürfen wir nicht zulassen. Solange wir weiter aufstehen und standhaft bleiben auf Stuttgarts Straßen und Plätzen, so lange sind UNSERE Werte noch da, so lange haben die anderen nicht gewonnen.

Damals im heißen Stuttgarter Herbst 2010 und mit dem Schwarzen Donnerstag wurde unsere Bewegung zu einem großen Feuer. Dieses Feuer gilt es zu hüten und wir werden es hüten, wir werden es anblasen mit dem langen Atem unserer Überzeugung und der Solidarität, die in den vergangenen drei Jahren zwischen uns Mitstreitern gewachsen ist und die uns immer noch aus dem Vollen schöpfen lässt. Unser Widerstand ist kein zartes Pflänzchen, sondern unverwüstlich und unausrottbar wie der Löwenzahn, der jedes Jahr im Frühling erneut in unsere Gärten dringt, ob wir wollen oder nicht.

Unsere Demokratie braucht uns und deshalb heißt das Motto auch am 30.09.2013: Oben bleiben – mit dem Bahnhof, mit dem Kopf und mit dem Herzen.

Guntrun Müller-Enßlin, Theologin, auf der 191. Montagsdemo am 30.9.2013 

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Eine Antwort zu Guntrun Müller-Enßlin auf der 191. Montagsdemo am 30.9.2013

  1. Karl Martell sagt:

    Früher gute, treffende Beiträge gegen S21, diesmal kräftig daneben. Wollte Guntrun Müller-Enßlin dem Affen Zucker geben?
    Ohne jede Kretschmann-Apologie, an dieser nicht ganz unwichtigen Stelle sollte richtig zitiert werden. Auch damit nicht völlig abwegige Folgerungen wuchern.
    „In der Demokratie geht es um Mehrheit, nicht um Wahrheit“, unterstellt Guntrun Müller-Enßlin. Hat Kretschmann sowas Dummes gesagt?
    Gesagt hat er nach den mir bekannten Quellen bei verschiedenen Gelegenheiten: „In der Demokratie wird nicht über Wahrheiten entschieden, sondern Mehrheiten entscheiden.“ Und damit weder „die Ebenen von Mehrheit und Wahrheit gegeneinander ausgespielt“ noch „das Mehrheitsprinzip absolut gesetzt“. Vielmehr hat er die Ebenen von Wahrheit und Mehrheit deutlich differenziert.
    An der Debatte über Wahrheit (was ist richtig, was falsch) nehmen in einer pluralistischen Gesellschaft selbstverständlich auch die S21-Gegner teil.
    Eine Mehrheit (von Stimmberechtigen) hat bei der VA, an der auch die Gegner teilgenommen haben, nicht über richtig oder falsch abgestimmt, sondern lediglich darüber, was von der Landesregierung getan werden soll. Mit einem Ergebnis, das – so schmerzlich es ist – zur Kenntnis zu nehmen ist. Und nicht mit manipulierten Zitaten und komischem, populistischem Geschwurbel, also in Realitätsverweigerung umgebogen werden kann. Was – nebenbei bemerkt – der Glaubwürdigkeit der Kritiker/innen abträglich ist.
    Dass die VA zu S21 mit etlichen Fragezeichen zu versehen ist, steht auf einem anderen Blatt. Aber diese Fragezeichen haben mit Kretschmanns Aussagen nichts zu tun. Im Gegenteil: Was er tatsächlich gesagt hat, ist ein im Ansatz sinnvoller Beitrag zur Debatte über Sinn und Form von (künftigen) Volksabstimmungen. Und zu der Frage, ob es ratsam ist, sich daran zu beteiligen.

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