Prof. Dr. Wolfgang Däubler auf der 191. Montagsdemo am 30.9.2013

Prof. Dr. Wolfgang Däubler ©weibergLiebe Kolleginnen und Kollegen,

ich finde es gut, dass man den Schwarzen Donnerstag nicht vergisst und dass so viele Leute zu dieser Demonstration gekommen sind. Herzlichen Dank an die Organisatoren. Die Kundgebung macht deutlich, dass es Leute gibt, die sich nicht alles gefallen lassen, die Widerstand leisten in einer Gesellschaft, wo Anpassung und Stromlinienförmigkeit dominieren.

Wir haben vor kurzem eine Bundestagswahl erlebt, die eine rot-rot-grüne Mehrheit erbracht hat. Aber die Mehrheit ist klein, und viele wollen sie nicht wahr haben. Deshalb wird vermutlich im Grundsatz alles beim Alten bleiben – aus „Gelb“ wird „Rot“, und vielleicht bekommen wir ein paar kleine sozialpolitische Verbesserungen.

Warum hat die größte Oppositionspartei nicht besser abgeschnitten? Ich sehe drei Gründe:
1. Durch die Hartz-Reformen hat sie langfristig ihre Glaubwürdigkeit verloren. „Links blinken und rechts abbiegen“ so wird ihre Politik gesehen.
2. Niemand konnte vor den Wahlen mehr glauben, dass es wirklich für eine rot-grüne Mehrheit reichen würde. Warum ein Projekt wählen, das von vorne herein zum Scheitern verurteilt ist?
3. Der Spitzenkandidat gehörte ersichtlich zu „denen da oben“. Wer keinen Wein trinkt, der billiger als 10 Euro ist, wird kaum Verständnis haben für die unteren zwei Drittel unserer Gesellschaft. Und Vortragshonorare über 20.000 Euro – da kann man nur von wahrhaft goldenen Worten sprechen. Warum soll ein Straßenbahner oder eine Krankenschwester so einen wählen?

Nun muss man sehen, dass auch die anderen Oppositionsparteien Stimmen verloren haben. Ihre Mehrheit kommt nur zustande, weil die FDP aus dem Parlament hinaus gewählt wurde. Insbesondere der Linkspartei kann man die Vorwürfe nicht machen, die an die große alte Partei gehen. Doch da kommen andere Faktoren dazu.

Presse, Rundfunk und Fernsehen sind frei. Das ist sogar vom Grundgesetz gewährleistet. Irgendwie wissen die meisten Journalisten aber trotzdem, was sie zu schreiben haben. Nehmen wir das Beispiel der Piraten. Interessant seien sie, was ganz Neues und Undogmatisches, konnte man vor zwei Jahren allüberall lesen. Der „neue Stern“ kam in Landesparlamente – erst in Berlin, dann auch anderswo. Doch plötzlich drehte der Wind. Sie haben ja gar kein Programm, die Piraten – hieß es da. Also nichts Seriöses. Dann machten sie ein Programm – aber darüber schrieb dann keiner. Streiten würden sie sich wie die Kesselflicker – so hörte man. Und was wichtiger war: Man hörte nur noch Negatives, nichts anderes mehr. Klar, dass es dann abwärts ging in den Umfragen und schließlich auch bei den Stimmen. Die Linkspartei ist mittlerweile daran gewöhnt, dass über sie nur Negatives berichtet wird. Wenn sie eine gute Idee hat, wird das höchstens in der „Jungen Welt“ erwähnt, sonst wird sie mit Schweigen übergangen. Aber wenn auf dem Parteitag nach der Wahl eines Vorsitzenden viele Delegierte die Internationale singen – das wird berichtet. Einen Bürgerschreck aufzubauen ist immer gut.

Die Sachprobleme spielten in den Berichten über den Wahlkampf eine geringe Rolle. Wie Boris Becker oder Dieter Bohlen leben – das ist wichtig, da erfährt man jedes Detail. Aber wie das untere Drittel dieser Gesellschaft lebt, das immer größer wird – das erfährt man nicht. Es fehlt der Sensationswert. „Jeder kann reich und glücklich werden“ – so wird verkündet. Aber das ist wie im Lotto: Jeder kann einen Millionengewinn machen, aber eben nicht alle. Vielleicht einer von 10 Millionen zieht das Glückslos – und die andern hecheln weiter hinterher. So werden die Menschen für dumm verkauft. Doch nicht jeder lässt sich auf diese Weise einfangen. Politik findet nicht nur alle vier Jahre bei Wahlen statt. Wenn sich in der Gesellschaft Widerstand regt, ändern die Herrschenden auch mal ihre Politik.

Nehmen wir die Kernenergie. Rot-grün hat als Ergebnis eines langen Kampfes den allmählichen Ausstieg beschlossen. Schwarz-gelb hatte das Gefühl, dass der Widerstand nicht mehr so stark sei und beschloss den Wiedereinstieg, oder wie man sagte: Den Ausstieg aus dem Ausstieg. Dann kam Fukushima. Das würde zu einer deutlichen Stärkung des Widerstands führen, erkannte die Kanzlerin. Am Ende könnte sie sogar den Kampf verlieren. Also entschied sie sich für die sog. Energiewende. Das heißt als ersten Schritt Schließung einiger Kernkraftwerke, und man sieht, es geht auch ohne sie.
Oder nehmen wir ein weiteres Beispiel. Die bayerische Landesregierung wollte eigentlich die Studiengebühren beibehalten. Dann kam es in Bayern zu einem Volksbegehren; die Volksabstimmung wäre wahrscheinlich für die CSU schlecht ausgegangen. Also hat man lieber gleich nachgegeben und die Studiengebühren abgeschafft. Man kann also durchaus etwas ausrichten, wenn man sich nur richtig wehrt. Man hat nicht immer Erfolg, klar. Es gilt weiter der alte Satz: Wer kämpft, kann verlieren, wer nicht kämpft hat schon verloren.

Der Widerstand richtet sich immer gegen einzelne Projekte, ist gewissermaßen eine Ein-Punkt-Bewegung. Was vielen fehlt, ist eine Sicht auf die ganze Gesellschaft. Wir haben es bisher nicht geschafft, die Marx´sche Gesellschaftsanalyse auf die heutige Lebenswelt zu übertragen. Einzelne Elemente existieren. Etwa bei der Analyse des Finanzkapitals. Aber auch da gibt es Defizite. „Die Banken dürfen nicht zusammenbrechen“ ist ein allgemeines Glaubensbekenntnis. Warum eigentlich nicht? Was würde passieren, wenn es doch geschehen würde? Darauf findet man keine Antwort. Mag sein, dass die Situation noch schlimmer wäre – das will ich gar nicht ausschließen, aber ich hätte gerne gewusst warum. Das tatsächliche Verhalten der Banken spielt in der Diskussion eine viel zu geringe Rolle. Bei manchen Geldinstituten bekommt man wichtige Informationen erst, wenn man mindestens zwei oder drei Millionen besitzt. Die Kleinen werden mit anderen Dingen abgespeist, wo man bestenfalls so viel Zinsen bekommt, dass die Inflationsrate ausgeglichen wird.

Wie funktioniert diese Gesellschaft genau? Warum können Leute wie Altenpfleger, Krankenschwestern oder Ärzte arbeiten bis sie umfallen, ohne dass sie wirtschaftlich auf einen grünen Zweig kommen – während sich ein Investmentbanker oder Unternehmensberater mit 40 in der Karibik niederlassen und von seinem Geld leben kann?

Aber gibt es nicht eine allerhöchste Instanz, die jeder Form von Widerstand Grenzen zieht? Sie wird derzeit nicht mehr von einem Kleinbürger aus Texas repräsentiert, sondern von einem Harvard-Absolventen und Friedensnobelpreisträger. Habt Ihr einen Unterschied bemerkt? Guantánamo gibt es immer noch, die Feinde haben keine Rechte im sog. Rechtsstaat USA, das hat man auch an der Hinrichtung von Bin Laden gesehen. Und wenn man mal auf eine Militäraktion verzichtet, dann nicht aus Friedensliebe oder Achtung vor den Menschen, sondern weil dem Staat so langsam das Geld ausgeht. Und im Übrigen weiß man genau, was im letzten Winkel der Welt passiert. NSA macht´s möglich. Big Brother is watching you, überall auf der Welt. Ich soll keinen oberflächlichen Antiamerikanismus predigen, sagte man mir. Aber meiner ist gar nicht oberflächlich, ich finde Land und Leute in Ordnung, das Problem sind die Regierenden.

Aber man sollte vor diesen Regierenden nicht zu viel Angst haben. In Lateinamerika haben wir heute fast nur noch Staaten, die sich dem Herrschaftsanspruch der USA widersetzen. Kuba, Venezuela, Bolivien, Ecuador, Uruguay, aber auch Argentinien und Brasilien. Dort protestiert man übrigens sehr viel nachhaltiger gegen NSA als bei uns. Allerdings erfährt man das nur, wenn man bestimmte Zeitungen liest. Auch die Chinesen lassen sich nicht vorschreiben, wie sie sich zu verhalten haben, und selbst die Russen haben trotz ihrer schlechten Regierung außenpolitisch wieder Selbstbewusstsein entwickelt. Die Zeit der US-Allmacht ist vorbei. Wir können unsere Gesellschaft selbst gestalten. Wir müssen nur bereit sein, unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen.

Prof. Dr. Wolfgang Däubler, Jurist

Redetext als PDF-Datei

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.