Rede von Inge Hannemann bei der 211. Montagsdemo

Rede von Inge Hannemann, Jobcenter-Mitarbeiterin, auf der 211. Montagsdemo am 24.2.2014

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 211. Montagsdemo in Stuttgart!

Zunächst vielen Dank für die Einladung. Kurz zu meiner Person: Mein Name ist Inge Hannemann und aufgrund meiner öffentlichen Kritik als Jobcenter-Mitarbeiterin am Hartz-IV-System bin ich seit letztem Jahr April von der Arbeit als Arbeitsvermittlerin suspendiert. Meine öffentliche Kritik will man nicht hören und laut der Bundesagentur für Arbeit gefährde ich die Mitarbeiter in den Jobcentern. Es könnte ja sein, dass sie ebenso aufbegehren.

Die Montagsdemo zeichnet sich durch Kontinuität, aber auch durch Aktualität aus. Seit rund zehn Jahren stehen bundesweit Menschen auf, um gegen Ungerechtigkeiten, Absurditäten oder Skandale zu demonstrieren. Sie zeigen hiermit ihren Unmut als sogenannte Wutbürger.

Hier an diesem Platz müssen wir uns nicht groß umschauen. Der S21-Skandal ist direkt vor Ort. Milliarden Kosten für ein Projekt, welches durch Polizeiwillkür, Gewalt und der Verschwendung von Steuergeldern geprägt ist. Ein Projekt zur Schändung der Natur aber auch gegen Menschen. Ungereimtheiten, insbesondere die Verstrickung der Politik sind bis heute nicht aufgeklärt. Ignoranz gegenüber der Stuttgarter Bevölkerung ist an der Tagesordnung.
Schauen wir in den Norden, in meine Heimatstadt Hamburg, haben wir die Elbphilharmonie. Ein Projekt für die Besserverdienenden mit einer Kostensteigerung von derzeit über 700 Prozent. Kosten, die auf der anderen Seite z.B. in Sozialprojekten oder deren Personal eingespart werden müssen, weil Hamburg kein Geld mehr zur Verfügung hat. Die Leidtragenden sind die Betroffenen, so aktuell die Betreuung von Familien über die Jugendämter oder Projekte in der Jugendhilfe. Haben wir auf der einen Seite enorme Geldverschwendungen, subventioniert durch die Politik oder falsche Haushaltsbeschlüsse, so fehlen auf der anderen Seite Gelder, um vor allem auch die sozialkulturelle Teilhabe am Gesellschaftsleben zu ermöglichen.

Nein, es trifft nicht die Besserverdienenden oder gar die Politiker. Getroffen werden die Menschen, die sowieso schon am Rande ihrer physischen Existenz laufen. Menschen, welche tagtäglich mit ihrer Armut konfrontiert sind. Menschen, die oftmals jahrzehntelang in unserem Rechts- und Sozialstaat Abgaben in Form von Steuern geleistet haben. Es sind Menschen, deren Existenz vom Wohlwollen der Jobcenter, Grundsicherung, Rententräger oder Krankenkassen abhängig ist. Vergessen wird, dass auch diese Menschen ihren gesellschaftlichen Beitrag zuvor geleistet haben. Fallen sie aus diesem System z.B. durch den Verlust ihres Arbeitsplatzes heraus, werden sie in den Topf der Sozialschmarotzer geworfen. Eine Stigmatisierung ohnegleichen. Der Schritt in die Armut dauert oftmals nur zwölf Monate. Anschließend erfolgt die Beantragung von Hartz IV, sofern zuvor ein Teil des Vermögens oder Lebensversicherungen aufgebraucht sind.

Erspartes für die Rente wird so zur Existenzsicherung und das im derzeit fünfreichsten Land Europas. Mit der Umsetzung der Agenda 2010 wurde ein System der Angst geschaffen. Die Noch-Erwerbstätigen verstehen auch so langsam, dass es sie jederzeit treffen könnte.

Aktuelles Beispiel ist die Insolvenz von Praktiker, aber auch Opel usw. Kaum ein Arbeitsplatz ist sicher, sofern man nicht im öffentlichen Dienst sitzt und dort nicht kritisiert. Zwölf Monate sind schnell rum. Die Noch-Erwerbstätigen nehmen vor lauter Angst vor Hartz IV oftmals jeden noch so niedrigen Lohn an oder sie arbeiten in zwei bis drei Jobs. Die Erwerbslosen haben ihren Stempel Hartz IV und haben aufgrund dessen sehr wenig positive Resonanz auf ihre Bemühungen um einen neuen Arbeitsplatz. Ist man älter als 50 Jahre, sinken die Chancen gegen Null.

Es ist sehr wichtig, dass sich immer mehr Menschen, viel viel mehr Menschen auf der Straße versammeln, um ihren Unmut über die derzeitigen Zustände wie die unsägliche Agenda 2010 oder aktuell Hartz IV oder S21 aussprechen. Die Agenda 2010, ein Machtinstrument, das in die gewollte Armut führt und durch den Ausbau des Niedriglohnsektors die Altersarmut vorantreibt.

Existenzängste, Scham, Mutlosigkeit, Kinderarmut, Flaschensammler, Willkür und die Bedrohungen durch die Sanktionen prägen das heutige Bild der Arbeitsmarktreform aus dem Jahr 2003. Zehn Jahre, die den Neoliberalismus förderten, in denen Lobbyisten immer stärker wurden und Hartz IV-Empfänger bis heute stigmatisiert werden. Ist es noch normal, dass Hartz IV-Empfänger kaum bis gar nicht die Möglichkeit haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen? Nein, das stellt für mich eine bewusste und gewollte Ausgrenzung dieser Menschen dar! Die Würde des Menschen ist unantastbar! Und doch passiert genau dieses tagtäglich. Zehn Jahre Agenda 2010 – zehn Jahre zu viel.
Fakt ist, dass wir bei weitem nicht genügend Arbeitsplätze haben und uns das doch immer wieder vorgelogen wird. Fakt ist, dass wir auch genügend Fachkräfte haben. Die Jobcenter formen jedoch aus den Fachkräften ungelernte Kräfte. Einzig allein mit dem Ziel, diese scheinbar ungelernten Kräfte in den prekären Arbeitsmarkt zu verfrachten oder – anders ausgedrückt – zu versklaven. Deutschland produziert so billige Arbeitskräfte wie auch billige Produkte. Die Leidtragenden sind die Erwerbslosen aber auch unsere europäischen Nachbarländer. Unsere Exportgewinne sind deren Verluste.

Menschen sollen mit der Agenda 2010 gefügig gemacht werden. Seien es die Erwerbslosen unter Androhung von Sanktionen in den Jobcentern oder die Noch-Erwerbstätigen mit dem Ziel, dass jede Arbeit besser ist als Hartz IV – auch wenn sie nicht zum Überleben reicht. Schließlich will man ja nicht im Jobcenter landen oder „Hartzer“ sein. Eine Gesellschaftsspaltung par excellence oder auch eine Spaltung zwischen Erwerbslosen und Noch-Erwerbstätigen. Aber auch eine Spaltung zwischen arm und reich, Erwerbslose gegen Erwerbslose, Kinder gegen Rentner, Gesunde gegen Kranke.

Deutschland nennt sich einen Sozialstaat. Ein Sozialstaat, in dem mindestens zehn Millionen Menschen ausgegrenzt werden. Die CDU, die SPD, die Grünen, und die ehemalige FDP feiern sich dafür. Nein, sie sollten sich nicht feiern, sondern sich in Grund und Boden schämen!

Mit der Großen Koalition wird auch die Agenda 2020 kommen. Hier heißt es nun, sich dagegen zu stemmen und die Straßen zu füllen! Leute, marschiert auf die Straße, zeigt euren Unmut, werdet friedlich laut, beteiligt euch an den Montagsdemos und zeigt Widerstand! Nur in der Masse können wir was erreichen. Erinnert euch an 1989. Erinnert euch an die Friedensbewegung und bringt zum Ausdruck, dass wir nicht überhört werden dürfen und auch nicht wollen. Nur so kann sich etwas bewegen. Werdet und bleibt aktiv. Auch ich bleibe in Bewegung und aktiv.

Redetext als PDF-Datei

Dieser Beitrag wurde unter Allgemein abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

4 Antworten zu Rede von Inge Hannemann bei der 211. Montagsdemo

  1. demoschlampe sagt:

    ja wenn man von hartziv lebt da muss man sparen das man durch den monat kommt kann ein lied davon singen.
    aber die politiker erhöhen die diäten ich bin wütend und fassungslos wie korupt die sind. hauptsache denen ihre bäuche spannen noch mehr.
    viele leute die hartziv bekommen trauen sich nicht auf die strasse es ist so.
    demoschlampe

  2. Pingback: Inge Hannemann ./. Jobcenter team.arbeit.hamburg | Wir sind Boes. Hamburg.

Kommentare sind geschlossen.