Rede von Dr. Christoph Engelhardt, wikireal.org, auf der 344. Montagsdemo am 31.10.2016 ; Sondersitzung des S21-Ausschusses des Stuttgarter Gemeinderats: Maulkorb-Erlass und Wahrnehmungsverweigerung im Rathaus

Liebe Mitstreiter!
Vergangenen Mittwoch informierte sich der S21-Ausschuss des Stuttgarter Gemeinderats zur Leistungsfähigkeit und den Ausbaumöglichkeiten des Tiefbahnhofs. Viele rieten uns von der Teilnahme ab. Wir haben uns anders entschieden. Bei der Leistungsfähigkeit, wo der Tiefbahnhof nur verlieren kann, muss die andere Seite foul spielen und das in aller Öffentlichkeit.

Unser erster moralischer Punktgewinn sind die unfairen Regeln, die für die Veranstaltung gewählt wurden. Man holte außer Bahn und Kritikern noch das Land hinzu. So wurde eine 2/3-Mehrheit schon in den Redeanteilen für die Projektumsetzer sichergestellt. Außerdem wurde ein neues Thema, das „Zukunftskonzept Infrastruktur“ in die Veranstaltung aufgenommen, zu dem kein Kritiker zu Wort kommen sollte. Von 5 Stunden sollten so für unsere Leistungskritik gerade mal 15 Minuten bleiben. Punkt für uns – man hat offenbar Angst vor der Wahrheit.

Wir hatten außerdem als Referentin die gerichtlich vereidigte Brandschutzsachverständige Frau Dr. Grewolls gewonnen und für den zweiten Termin zu den Kosten Dr. Martin Vieregg von Vieregg-Rössler, die im Unterschied zur Bahn zu den Kosten immer Recht behalten hatten.

Aber nein, renommierte Experten waren unerwünscht, es hieß, sonst müsste auch die Bahn Experten sprechen lassen und das war nicht gewünscht. Wieder ein moralischer Punkt für uns, man fürchtet unsere Kompetenz. – Und – das ist doch bemerkenswert: Die Stadt unterstellt der Bahn, mit Projektvorstand Peter Sturm und Dr. Florian Bitzer keine Experten zu schicken!

OB Kuhn hatte noch im Juli als Motto ausgegeben, es solle in der Veranstaltung deutlich werden, „welche Fragestellungen“ von wem „geklärt“ werden müssten. Im September im Ältestenrat war davon schon keine Rede mehr. Die Vertreter der Bürgerbegehren und ihre Experten sollten nun nur noch „gewürdigt“ werden. Aber die festgelegten Bedingungen waren die einer unwürdigen Inszenierung.

Das ganze wurde getoppt, als in der Veranstaltung klar wurde, dass der Ältestenrat im Unterschied zu allen anderen Anhörungen verfügt hatte, dass die Experten keine Fragen beantworten dürfen. Ich hatte daraufhin als Bayer meine Verwunderung über diesen Maulkorb-Erlass geäußert – dass offenbar in der Region Stuttgart ein bemerkenswertes Demokratieverständnis herrsche. Das führte zu einem echten Eklat und wüsten Retourkutschen der Stadträte Kotz und Körner in Richtung Bayern. Das ganze wurde dann aber schamvoll verschwiegen von den Stuttgarter Medien.

Uns war im Vorfeld schon klar, dass allein mit dem bekannten Konzept keine Fragenklärung möglich war. Dementsprechend hatten wir unseren Protest zum Verfahren und die wichtigsten zu klärenden Fragen zu Papier gebracht und am Ende verteilt und zu Protokoll gegeben (goo.gl/UxSv0y). Auch das verschwiegen die Medien. Die brisantesten Fragen zum Projekt hat der Gemeinderat nun aber trotz aller Behinderungsversuche auf dem Tisch, insbesondere auch zu den Kosten, die am 15. November behandelt werden.

Nun aber zu den Leistungsthemen:

Ich hatte letzten Mittwoch vorgetragen, wie laut den Gutachtern der Bahn der Rückbau durch Stuttgart 21 belegt ist und dass die Bahn die Diskussion mit dem MVI abgebrochen hatte, nach unserem Nachweis, dass sie die die Regelverstöße im Stresstest schon faktisch eingestanden hatte. Dazu hörten wir von Sturm und Bitzer kein Dementi. Punkt für uns. Dass laut den Bahngutachtern Prof. Heimerl und Prof. Schwanhäußer sich der Stresstest weit im unfahrbaren Regime befindet, Stichwort Belegungsgrad, auch dazu gab es keine Entkräftung, kein Dementi. Punkt für uns.

Gerd Hickmann vom Land verwies zum Stresstest auf die Auditierung. Dabei war die SMA von der Bahn über den Tisch gezogen worden, genauso wie schon die Landesregierung etwa zu den Haltezeiten, wie wir in der Anhörung zu PFA 1.3 nachweisen konnten. Punkt für uns.

Die Bahn musste sich nun auf ein paar letzte armselige qualitative Argumente zurückziehen, die ich später alle abräumen konnte:
· Den Ringverkehr, der nirgendwo sonst eine Leistungssteigerung bringt,
· die Fahrstraßenausschlüsse, die es im Tiefbahnhof genauso gibt,
· die höheren Einfahrgeschwindigkeiten, die allenfalls einzelne Prozente zur Leistungsfähigkeit beitragen. All diese Punkte gehen an uns.
· Das Argument, der Tiefbahnhof hätte 8 Zulaufgleise und der Kopfbahnhof nur 5 konnte ich ebenfalls entkräften. Im Tiefbahnhof werden auch Bereitstellungs- und Abstellfahrten über die regulären Streckengleise abgewickelt, wo der Kopfbahnhof dafür 5 zusätzliche Gleise zur Abstellanlage hat. Tatsächlich gewinnt also der Kopfbahnhof mit insgesamt 11 Zuführungsgleisen gegenüber nur 8 im Tiefbahnhof! Punkt für den Kopfbahnhof!
· Und bei der Wunderwaffe der neuen Signaltechnik ETCS hatte schon Stopper von den Grünen richtig angemerkt: Wenn das was bringt, dann tut es das auch im Kopfbahnhof, ist also kein Argument für einen Leistungsvorteil.

Ein vermeintlich starkes Argument brachte Hickmann: Die Wissenschaft würde unsere Kritik nicht stützen. Und es ist tatsächlich ein Jammerbild, wie die deutsche Bahnwissenschaft vor dem Quasi-Monopolisten Bahn kuscht. Aber das Argument verkehrt sich gegen seinen Verwender. Denn in gleicher Weise fehlt auch die unabhängige Bestätigung der Planung durch internationale Wissenschaftler. Das Konzept für einen Hochleistungsbahnhof, anderthalb mal besser als der beste vergleichbare Durchgangsbahnhof müsste doch auf allen Konferenzen diskutiert werden. Das fehlt bis heute, Punkt für uns!

MVI und Oberbürgermeister sprangen auf den Zug vom Herrn Arnold von der SSB auf: Es genüge, sich die Betriebsweise von der S- oder Stadtbahn abzugucken. Als wäre in der ganzen Welt noch keiner darauf gekommen! Vielmehr ist ein großer Umsteige- und Knotenbahnhof einem Haltepunkt der Stadtbahn überhaupt nicht vergleichbar, schon wegen der Haltezeiten. Punkt für uns!

Erneut argumentierte Hickmann auch mit einem Plus im Taktverkehr. Abgesehen davon, dass das so nicht im Finanzierungsvertrag steht, wäre es auch unzulässig. Zur Kapazität müssen alle Züge gezählt werden und es kann kein Rückbau zum Ausbau erklärt werden, indem eine kleine Untermenge des Verkehrs zum Maßstab gemacht wird. Ein Stockwerk, das auf deutlich weniger gleich starken Säulen ruht, wird auch nicht anderthalb mal so tragfähig, weil sich dabei die Zahl der lila angestrichenen Säulen um 50 % erhöht hat.
Am Ende hatten sich Sturm und Bitzer sogar zu einem erneuten Bekenntnis der Leistungsverdopplung durch Stuttgart 21 hinreißen lassen. – Das möchten wir doch sehen, wie die Bahn das vor der internationalen wissenschaftlichen Gemeinde belastbar nachweist. Und wenn das ausbleibt, hat der Gemeinderat einen weiteren Kündigungsgrund.

Diese Veranstaltung hat die schwache Argumentation der Projektbetreiber zur Leistungsfähigkeit überdeutlich gemacht. Aber das überzeugendste Argument für unsere Position ist, dass die andere Seite sich zu derart unfairen Bedingungen gezwungen sah, um unsere Kritik klein zu halten. So viel Unfug zur Leistungsfähigkeit und wir bekommen ganze 15 Minuten eingeräumt! Glücklicherweise hatte Hannes Rockenbauch im Ältestenrat durchgesetzt, dass wir doch auch zum Zukunftsthema sprechen durften, so dass ich noch 10 Minuten hinzubekam, Umstieg21 vorstellen konnte und den wichtigsten Unsinn der anderen Seite entkräften konnte.

Aber das Tollste ist ja, dass jetzt schon im Bau über die Reparatur der S21-Fehlplanung diskutiert wird. Einerseits führt man den Stresstest als Beleg einer Leistungsfähigkeit an, die weit über den absehbaren Bedarf hinausginge. Andererseits werden nun alle Optionen, die der Stresstest vermeintlich als unnötig bewiesen hat: P-Option, große Wendlinger und große Rohrer Kurve sowie der Erhalt der Gäubahn nun als notwendiger Ausbau gesehen. Die Projektbetreiber gestehen damit ausdrücklich ein, dass der Stresstest fehlerhaft war!

Zuletzt noch kurz zum Rechtlichen:

OB Kuhn führte wiederholt den VGH-Entscheid von 2014 als Bestätigung des Projekts an, dabei hatte ich klar ausgeführt, dass in diesem Urteil ausdrücklich der Rückbau auf 32 Züge/h bestätigt wurde. Genauso einäugig ist Kuhns Argumentation, Verträge müssten eingehalten werden. Im Rechtsstaat ist es genau so geboten, Verträge zu kündigen, wenn die Geschäftsgrundlage entfallen ist. Und die Berufung auf die Volksabstimmung trägt auch nicht. Überall werden Referenden wiederholt, auch in Deutschland wie etwa zu Lindau21. Und bei Stuttgart 21 wäre die Wiederholung demokratisch geboten, weil die Abstimmung auf unrichtigen Tatsachenaussagen beruhte – nicht nur zur Leistungsfähigkeit, sondern auch zu den Gesamtkosten, den Ausstiegskosten sowie zu den Abhängigkeiten der Südbahn, Gäubahn und der Rheintaltrasse von Stuttgart 21.

Zusammengefasst:

Wir haben reiche Ernte eingefahren. Die Betreiberseite bestätigte ihre argumentative Schwäche mit dem extrem unfairen Verfahren inklusive Maulkorb-Erlass und mit umfassender Wahrnehmungsverweigerung.Es ist noch deutlicher geworden, dass dem Tiefbahnhof die Rechtfertigung durch eine Leistungserhöhung fehlt. Lasst uns nun umso nachdrücklicher Antworten auf die offenen Fragen einfordern, wie wir sie in unserem am Mittwoch verteilten Fragenkatalog (goo.gl/UxSv0y) formuliert haben!

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Eine Antwort zu Rede von Dr. Christoph Engelhardt, wikireal.org, auf der 344. Montagsdemo am 31.10.2016 ; Sondersitzung des S21-Ausschusses des Stuttgarter Gemeinderats: Maulkorb-Erlass und Wahrnehmungsverweigerung im Rathaus

  1. Wolf gegen S21 sagt:

    sehr gut- immer dranbleiben. Oben bleiben – jetzt erst recht. Vielen Dank für den Super-Einsatz

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