Die Bahn in der Krise und wie sie stattdessen zum Rückgrat der Verkehrswende werden kann

Rede von Dr. Bernhard Knierim, Bahn für Alle, auf der 492. Montagsdemo am 2.12.2019

Liebe Freundinnen und Freunde einer besseren Bahn und einer Stadt, die vernünftig an diese angebunden ist!

Es ist unbestreitbar: Die Deutsche Bahn befindet sich in einer tiefen Krise. Nicht einmal mehr der Verkehrsminister und der Bahnchef – beide gewöhnlich zweckoptimistisch– bestreiten das mehr:

  • Am augenscheinlichsten sind die Unmengen an Verspätungen und Zugausfällen. Es ist weiterhin deutlich mehr als ein Viertel aller Züge verspätet – und das heißt bei der DB: Mindestens 6 Minuten zu spät, was oft eine effektive Verspätung von einer oder zwei Stunden bedeutet, weil Anschlusszüge verpasst werden. Was aber auch in dieser Verspätungsstatistik noch komplett fehlt, sind die etwa 140.000 Züge pro Jahr (Zahl für 2018), die überhaupt nicht fahren. Hier arbeitet die Bahn nach der Logik: Was nicht fährt, kann auch nicht verspätet sein.

Gerade heute auf der Reise hierher habe ich es wieder am eigenen Leib gespürt: Der Zug von Berlin nach Stuttgart war bis kurz vor der Abfahrtszeit pünktlich angekündigt, fuhr tatsächlich aber 1½ Stunden später als angekündigt. Der Grund: „Verspätete Bereitstellung“ – am Abfahrtsbahnhof! Sprich: Der Zug ist im Betriebsbahnhof wieder einmal nicht fertig repariert worden und durfte nicht auf die Strecke. Aber abgesehen davon, dass so etwas eigentlich nicht passieren sollte: Das muss doch weit vorher klar sein, stattdessen teilt man den Fahrgästen die Verspätung in Viertelstunden-Scheibchen mit. Und außerdem: Gibt es denn nicht einen Ersatzzug, der statt des defekten ICE auf die Strecke gehen kann? Diese Erlebnisse kennen alle Bahnfahrerinnen und -fahrer zuhauf, und sie frustrieren Fahrgäste und schrecken von der Bahn ab. Man merkt überall, wie das ganze System Bahn inzwischen auf Kante genäht ist, wie jahrzehntelange Sparmaßnahmen auf allen Ebenen der Bahn geschadet haben.

  • Was wir alle aber viel weniger sehen sind die noch wesentlich schlimmeren Verhältnisse im Güterverkehr, bei DB Schenker Rail: Dort geht es nicht um Verspätungsstunden, sondern oft um Tage. Viele Frachtaufträge können erst gar nicht angenommen werden, weil es an Kapazitäten fehlt. Auch im Güterverkehr sind der Grund die jahrelangen „Optimierungsprogramme“, die dazu geführt haben, dass es überall an allem fehlt: an Lokführerinnen und Lokführern, Rangierern, an passenden Wagen und vielerorts sogar an Verladestellen, weil sie im Zuge der jahrelangen Sparmaßnahmen geschlossen worden sind. So kann die Verlagerung auf die Schiene nicht funktionieren!
  • Aber auch das Schienennetz hat einen gigantischen Instandhaltungsrückstau, weil jahrelang viel zu wenig in die Wartung investiert worden ist. Inzwischen ist von mindestens 60 Milliarden Euro Nachholbedarf die Rede! Und das ist nur das Geld, um die Gleise, Weichen, Brücken und Tunnels wieder instand zu setzen, dazu kommt aber noch ein gewaltiger Bedarf an Neu- und Ausbau. Jahrelang sind zwar immer mal wieder Prestige-Hochgeschwindigkeitsstrecken für viel Geld gebaut worden – wie gleich südlich hier von Stuttgart die absurde neue Trasse über die Schwäbische Alb nach Ulm. Aber der Ausbau dort, wo tatsächlich Engpässe sind, ist sträflich vernachlässigt worden. Vor allem an den wichtigen Knotenbahnhöfen müssen neue Kapazitäten geschaffen werden, damit zukünftig alle Personen- und Güterzüge hindurchpassen.

Immerhin hat der Bund mit der neuen „Leistungs- und Finanzierungsvereinbarung“ viel Geld für die Instandhaltung zur Verfügung gestellt. Für die nächsten Jahre heißt das vor allem: Es wird fast überall gebaut; viele Strecken müssen gesperrt werden. Das wird die Probleme im Bahnverkehr noch weiter verschärfen, auch wenn die Baumaßnahmen grundsätzlich in die richtige Richtung gehen.

Was dabei aber besonders schwer wiegt ist der Ausbau in die falsche Richtung, und das ist nirgendwo so offensichtlich wie hier in Stuttgart: Der Stuttgarter Knoten – der wichtigste im Südwesten des Landes – ist der einzige, der nicht ausgebaut wird, sondern mit dem viel zu kleinen Tiefbahnhof effektiv zurückgebaut wird! Und mit den vielen Kilometern an neuen Tunnels, die mit einem besseren Konzept zum größten Teil verzichtbar gewesen wären, schafft man sich schon heute die Instandhaltungskrise für die nächsten Jahrzehnte mit weiteren Milliarden an Kosten. Wenn Tunnels gesperrt werden müssen – sei es wegen sich hebendem Anhydrit oder aufgrund der ganz normalen Routineinstandhaltung – dann kann der Tiefbahnhof schlichtweg nicht mehr angefahren werden! So ein Bahnhof ist alles andere als nachhaltig und eine komplette Katastrophe für einen zukünftig wachsenden Bahnverkehr!

  • Und der letzte, aber ebenfalls wichtige Teil der Bahnkrise ist die Krise des Managements und der Finanzen. Der Vorstand ist völlig zerstritten; zuletzt wurde das mit dem Abgang des gerade erst vor 1½ Jahren berufenen Finanzvorstands Alexander Doll deutlich. Insgesamt 5 Vorstände sind in den letzten 4 Jahren abgegangen – jeweils mit einem millionenschweren goldenen Handschlag, versteht sich.

Derweil sehen die Finanzen des bundeseigenen Unternehmens katastrophal aus. Wäre die Bahn ein normales Unternehmen, würde sie schon heute als überschuldeter Sanierungsfall gelten. Nur weil sie zu 100% dem Bund gehört und allgemein davon ausgegangen wird, dass der Bund notfalls – wieder einmal – für die Schulden einstehen würde, bekommt sie überhaupt noch Kredite. Dabei ist es Interessant sich vor Augen zu führen, dass diese Schulden vor allem deswegen entstanden sind, weil die Bahn jahrelang Dinge getan hat, die sie besser nicht hätte tun sollen. Vor allem hat sie viele internationale Logistikunternehmen aufgekauft, betreibt seitdem Luft- und Seefracht und viele Lkw, ohne dass das dem Bahnverkehr irgendetwas nützen würde. Das waren massive Fehlinvestitionen! Und jetzt will man diese Unternehmen – wie zuletzt Arriva – wieder hastig verkaufen, wird sie nun aber nicht wieder los.

Kam diese Krise der Bahn überraschend? Das können allenfalls die behaupten, die bewusst nicht hingeschaut haben!

Wir von Bahn für Alle haben schon ab 2005 eine Kampagne gegen den Börsengang der Deutschen Bahn AG geführt. Dieser Börsengang hätte die Profitorientierung der Bahn noch einmal auf eine neue Stufe gehoben, und wir hätten heute eine noch viel schlimmere Krise als ohnehin schon.

Aber schon damals haben wir auf alle diese Probleme hingewiesen und sind dafür wahlweise belächelt oder als ewiggestrige, linke Spinner beschimpft worden – genau wie Ihr hier alle in Stuttgart mit dem völlig berechtigen Kampf gegen den schlechtesten Bahnhof aller Zeiten!

Als wir damals auf die Probleme der reinen Profitorientierung der Bahn hingewiesen haben, hieß es noch: Nein, die Bahn müsse als Privatunternehmen geführt werden, nur dann werde sie besser; der Wettbewerb verschiedener Unternehmen werde dafür sorgen, dass gleichzeitig alles besser und billiger wird.

Dass das ein großer Unfug ist, muss man hier in und um Stuttgart wohl niemandem erklären. Seit einem halben Jahr betreiben nun Privatunternehmen wie National Express und Go Ahead und Tochterunternehmen anderer Staatsbahnen wie Abellio den Nahverkehr. Und seitdem ist vieles noch mehr durcheinander als vorher schon. Es fehlt an Zügen, obwohl das Land diese schon für die Unternehmen kauft, und es fehlt an Lokführern, obwohl das Land diese schon ausbildet und einen eigenen Lokführerpool aufbaut. Zugausfälle und Verspätungen sind jetzt auch hier an der Tagesordnung. Und in zwei Wochen zum Fahrplanwechsel übernehmen die anderen Bahnunternehmen noch weitere Linien – und auch hier sieht es nicht gut aus. Die Folge sind viele frustrierte Bahnreisende und besonders Pendlerinnen und Pendler. So wird man nicht mehr Fahrgäste für die Bahn gewinnen können!

Aber bei der Bahn kann man auch sehen, wie sich – ganz schleichend – manchmal die Meinungen wandeln:

  • Heute spricht niemand mehr von einem Börsengang und Gewinnorientierung der Bahn, sondern selbst die Große Koalition will die DB AG an anderen Zielen wie einem guten Bahnverkehr ausrichten. Allerdings sind das bisher reine Lippenbekenntnisse, ein konkretes neues Steuerungskonzept steht noch aus.
  • Unbegrenzt auf den reinen Wettbewerb bei der Bahn setzten nur noch die Grünen und die FDP; alle anderen verstehen zunehmend, dass die Bahn mit einer immer stärkeren Zersplitterung nicht besser, sondern immer schlechter wird.
  • Inzwischen gibt es auch fast niemanden mehr, die oder der Stuttgart 21 wirklich befürwortet. Die damaligen Treiber sind inzwischen fast alle abgesetzt oder wagen sich zumindest nichts mehr zu sagen. Selbst Bahnchef Richard Lutz sagt: Heute würde man das Projekt nicht mehr beginnen. Was nur fehlt sind die Mutigen, die jetzt vortreten und sich trauen, das Projekt endlich zu beenden, bevor hier noch mehr unnötige Milliarden im Stuttgarter Untergrund versenkt werden!

Trotz der Krise der Bahn heißt es überall, dass die Bahn der Verkehrsträger der Zukunft ist. Und das ist auch völlig richtig, denn wenn wir auch in Zukunft noch irgendwie weitere Strecken Reisen wollen, dann brauchen wir eine gute, sichere und zuverlässige Bahn.

Was also muss geschehen, um die Bahn endlich wieder aus der Krise zu führen?

  1. Der verzerrte Verkehrsmarkt muss verändert werden: Die Benachteiligung der Schiene gegenüber Flugzeug, Pkw und Lkw muss beendet werden. Subventionen sind nur sinnvoll für die Verkehrsarten mit optimaler Klimabilanz, die zugleich allen Menschen zur Verfügung stehen. Das sind Fußverkehr, Fahrrad, öffentlicher Nahverkehr und die Bahn. Wir brauchen endlich ein Tempolimit auf der Autobahn; der weitere Bau von Straßen und Autobahnen muss beendet werden, und Kerosin gehört endlich besteuert!
  2. Die Bahn benötigt 25 Jahre nach der Bahnreform von 1994 eine zweite grundlegende Bahnreform. Die Erfahrungen mit bisher erfolgten Privatisierungen und Aufspaltungen sind negativ; eine profitorientierte Aktiengesellschaft ist offensichtlich keine sinnvolle Struktur. Wir brauchen eine Bahn in einer Hand und in öffentlichem Eigentum. Ziele einer zukünftigen Bahn müssen sein: mehr Schienenverkehr, maximale Sicherheit, optimaler Komfort. Es gilt Gemeinwohlorientierung anstelle Gewinnmaximierung!
  3. Das Betätigungsfeld der DB muss wieder Deutschland und Bahnverkehr Risikoreiche Auslandsgeschäfte mit Luft- und Seefracht sind keine Aufgabe der Bahn! Daher muss die DB sich vom Auslandsgeschäft und von Unternehmensteilen, die nichts mit der Schiene zu tun haben, so schnell wie möglich trennen!
  4. Die Konzentration auf Großprojekte muss beendet werden – zumal auf solche, die der Bahn schaden und nicht nützen. Sofort beendet werden müssen:
  • die Zweite S-Bahn-Stammstrecke in München
  • die geplante Verlagerung des Bahnhofs Hamburg-Altona
  • Stuttgart 21

Allein mit den hier freigesetzten Mitteln kann ein großer Teil des Bahnnetzes instandgesetzt und die Kapazität durch viele Einzelmaßnahmen erweitert werden.

  1. Die Infrastruktur muss zusammengeführt, instandgesetzt und sinnvoll ausgebaut werden. Alle Einnahmen der Bahn müssen für einen besseren und zuverlässigen Bahnverkehr reinvestiert werden! Außerdem müssen viele stillgelegte Strecken reaktiviert werden, um wieder mehr Menschen an die Bahn anzubinden.
  2. Wir brauchen ein vereinfachtes und attraktives Tarifsystem mit einer deutlichen Senkung der regulären Preise. Statt des heutigen Tarifwirrwarrs muss es ein einfaches und nachvollziehbares Preissystem geben, das allen Menschen bezahlbares Bahnreisen ermöglicht. Perspektivisch sollte ein einheitliches Tarifsystem für den gesamten öffentlichen Verkehr im Land auch über die Bahn hinaus eingeführt werden.
  3. Notwendig ist der Wiederaufbau eines europaweiten Tages- und Nachtzugnetzes in Kooperation zwischen den Bahnunternehmen der Länder. Nachtzüge ermöglichen ein komfortables Reisen auch auf längeren Strecken. Damit kann der größte Teil des europaweiten Luftverkehrs auf die Schiene verlagert werden, was für den Klimaschutz absolut notwendig ist.
  4. Es ist ein großer Schritt in die richtige Richtung, dass der Deutschlandtakt nun allgemein als Ziel anerkannt wird. Dieser erfordert aber im ganzen Land die Ertüchtigung von Bahnknoten, den Netzausbau, die Erweiterung vieler eingleisiger Strecken zu Zweigleisigkeit, deutlich mehr Elektrifizierung und die Wiedereinführung eines InterRegio im Fernverkehr, der die Fläche erschließt. Nur so kann es eine Verlagerung von Pkw-, Lkw- und Flugverkehr auf die Schiene geben.
  5. Die Bahn braucht wieder mehr Beschäftigte statt Personalmangel und vor allem mit neuer Motivation. Das geht nur mit funktionierenden Strukturen, damit man sie nicht ständig frustriert werden. Und vor allem die unteren Lohngruppen müssen besser entlohnt und die Arbeitsbedingungen und Schichtsysteme überarbeitet werden. Ziel muss sein, dass sich die Beschäftigten wieder mit der Bahn identifizieren können.
  6. Statt des ständigen Rückzugs in allen Bereichen benötigt die Bahn wieder eine Offensivstrategie. Die Einflussnahme bahnfremder Lobbygruppen und der Einfluss bahnfremder Unternehmensberater muss beendet werden. Alle Gremien müssen aus wirklichen Fachleuten bestehen, die Bahn verstehen und unabhängig und leidenschaftlich engagiert sind für eine nachhaltige und soziale Bahn-Mobilität.

Das Ziel muss eine sichere und zuverlässige Flächenbahn im ganzen Land sein, die allen Menschen ein bezahlbares und komfortables Reisen mit der Bahn ermöglicht und gleichzeitig auch mehr Güter auf die Schiene verlagert. Nur so kann die Bahn – neben einer dringend notwendigen Reduktion von Verkehr – ihren Beitrag zur Lösung der Klimakrise leisten.

Und hier in Stuttgart heißt das vor allem, dass das Projekt Stuttgart 21 sofort beendet werden muss, das schon im Bau eine massive negative Klimawirkung hat und durch die Kapazitätsprobleme auf lange Sicht verhindert, dass die Bahn den notwendigen zusätzlichen Verkehr auch fahren kann.

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