Die Geschichte der Aufdeckung des unzureichenden Brandschutzes: die Bahn baut mit Stuttgart 21 Todestunnel

Rede von Dipl.-Phys. Wolfgang Kuebart, Ingenieure22, auf der 512. Montagsdemo[1] am 11.5.2020

Die Geschichte der Auseinandersetzung mit der Deutschen Bahn als Vorhabenträgerin von Stuttgart 21 um den Brandschutz ist fast so alt wie die Geschichte des Projektes selber. Schon in der Erörterung 2003 zu den Planfeststellungsabschnitten PFA 1.1/1.2 gab es darum heftige Auseinandersetzungen (zu lesen z.B. in dem Dokument „Diskurs Stuttgart 21“). Selbstredend sind in der Schlichtung 2010/2011 diese Auseinandersetzungen weitergeführt worden, sowie bei allen weiteren Planfeststellungs- und Änderungsverfahren, seit ihrer Gründung 2010 fast immer unter Beteiligung der Ingenieure22. Zunächst war es praktisch unmöglich, Einsicht in Unterlagen zu bekommen, die über die Planauslagen für die öffentlichen Verfahren hinausgingen. Durch Dr. Gert Meisel sind wir schon sehr bald in das für uns ehrenamtliche Fachleute wichtige Instrument des Umweltinformationsgesetzes (UIG) eingeführt worden.

2016/2017 hat Dipl.-Ing. Wolfgang Jakubeit stellvertretend für die Ingenieure22 auf der Basis des UIG eine Klage am Verwaltungsgericht Stuttgart angestrengt, Einsicht in die Simulationsunterlagen zum Brandschutzkonzept von Stuttgart 21 zu bekommen. Die Bahn wehrte sich z.B. gegen unsere Einsicht mit der Begründung, die Unterlagen wären geheim, wenn sie an die Öffentlichkeit kämen, könnten sie von Terroristen benutzt werden. Damit wäre die öffentliche Sicherheit in Gefahr. In der zweiten Instanz verfing diese Begründung nicht mehr, uns wurde beim Verwaltungsgerichtshof Mannheim im Dezember 2019 das Recht zugesprochen, die Unterlagen einsehen zu dürfen.

Zusammen mit unseren eigenen Simulationen und einer genauen Analyse der uns bisher vorenthaltenen Informationen konnten wir nun zeigen, dass über die ganzen Jahre keine widerspruchsfreie Darstellung der Entfluchtung im Bahnhofs-Tunnelsystem – von der Bahn und den Gutachtern selbst „Tunnelspinne“ genannten Gebilde – von Stuttgart 21 entstanden war. Daher schrieb Dipl.-Ing. Hans Heydemann unsere Analyseergebnisse in einem offenen Brief an den Brandschutzvertreter des Projekts Stuttgart-Ulm (PSU) Dr. Florian Bitzer zusammen, und wir übermittelten diese Erkenntnisse an die für das Projekt verantwortlichen Stellen (1).

Mehr oder weniger zufällig fiel dieser Brief zusammen mit dem letzten Tunneldurchbruch im PFA 1.2, dem Fildertunnel, und so wurde nach der Veröffentlichung der Presseerklärung des Aktionsbündnisses und der Ingenieure22 über dpa beim SWR in diesem Zusammenhang davon berichtet. Die Antwort der Bahn kam prompt. Sie weist, wie üblich, die Kritik pauschal zurück – ohne auch nur einen Kritikpunkt zu entkräften: „Man plane und arbeite grundsätzlich auf Basis der anerkannten Regeln der Technik. Hierzu zählen gesetzliche europäische und nationale Grundlagen, sämtliche Regelwerke und eingeführte Vorgaben der Behörden, so ein Bahnsprecher…“.

Was sind denn nun die Kritikpunkte, die wir so vehement vorbringen? Am besten liest man dazu unseren offenen Brief, der auf ingenieure22.de zum Herunterladen bereitsteht (1). Wer es etwas zusammengefasst lesen möchte, findet es ausgezeichnet in der gemeinsamen Presseerklärung des Aktionsbündnisses und der Ingenieure22 (2).

Hier sollen nur ein paar besonders eklatante Punkte aufgezeigt werden: Für das erste Brandschutzkonzept, das bereits zur Planfeststellung 2005 genehmigt wurde, wurden Randbedingungen so gewählt, dass es für das Simulationsziel „Selbstrettung aus dem Zug innerhalb von 15 Minuten“ reicht. Dazu wird angenommen, dass der havarierte Zug genau zwischen zwei Querschlägen, deren Abstand 500 m beträgt, zum Stehen kommt. So sind die Fluchtwege maximal 250 m lang, weil man annimmt, dass die Passagiere zum jeweils nächsten Querschlag fliehen können, was maximal 3 Minuten dauern soll. Das Aussteigen aus dem Zug soll in 2 Minuten erledigt sein. Um in die sogenannte „sichere Röhre“ zu gelangen, also die benachbarte Tunnelröhre, zu der die Querschläge führen, müssen zwei Schleusentüren und im Mittel etwa 20 m passiert werden, was 6 Minuten für 600 Menschen brauchen soll. Somit kommt man insgesamt zu 11 Minuten Evakuierungszeit.

Im Laufe der Zeit wurden diese ersten Abschätzungen durch Gutachten namhafter Gutachterbüros überprüft. Ein Büro, die Gruner A.G., kommt 2014 zu dem Ergebnis, dass diese Entfluchtungszeiten erreichbar sein sollen, allerdings eben unter den obigen günstigen Randbedingungen, unter Annahme weiterer unrealistischer Fluchtgeschwindigkeiten und unter Vernachlässigung weiterer, den Fluchtprozess behindernder Tatsachen.

Nicht der günstigste Fall darf Basis einer Fluchtzeitberechnung sein, sondern der ungünstigste:

  • Der Fluchtweg muss mit der maximalen Länge 500 m angesetzt werden.
  • Die Ausstiegshöhe beträgt immerhin 70 bis 90 cm, das ist für viele Personen nicht ohne Hilfe möglich. Die Simulation benutzt an allen Türen Leitern, während in Wirklichkeit nur wenige Türen sehr umständlich mit Leitern ausgerüstet werden können.
  • Die Gehgeschwindigkeit ist mit 100 m/min viel zu schnell, das Regelwerk „NFPA130“ geht z.B. von 38 m/min aus, dann dauert der Fluchtweg nicht mehr nur 3 sondern fast 13 Minuten.
  • Beim Durchgang zur „sicheren Röhre“ werden in den Unterlagen lediglich 6 Minuten angenommen, weil man sich ohnehin nur auf 600 Personen beschränkt, für 1757 Personen benötigt man jedoch mehr als 17 Minuten.

Auf diese Weise kommt man schon auf mehr als 30 Minuten, den Ausstieg aus dem Zug noch nicht berücksichtigt. Dieses Aussteigen finden wir besonders eklatant fehleingeschätzt, wie auch auf dem Fluchtweg keinerlei Hindernisse berücksichtigt werden.

Bei all diesen Vereinfachungen lässt man zuletzt auch die Rauchausbreitung bei einem Brand weg. Bei einer Brandleistung von 53 MW breitet sich der Rauch in diesen besonders engen Tunneln von Stuttgart 21 mit bis zu 3 m/s aus – der Rauch ist also schneller als die Fliehenden mit ca. 1 m/s. Wenn die Lok im Vollbrand erst zum Stehen kommt, haben die Fliehenden keine Chance mehr.

Ganz abgesehen davon, dass bei allen Betriebskonzepten mit mehr als einem Zug im Tunnel die parallele Röhre keine „sichere Röhre“ ist, solange noch Züge ausfahren müssen. Dies raubt vor allem Betriebskonzepten mit S-Bahn-ähnlichem Hochleistungsbetrieb jegliche Perspektive. Der Knoten Stuttgart wird bei diesem Rettungskonzept weniger als 32 Züge pro Stunde leisten können.

Neben diesen Feinheiten der Berechnung steht ganz grundsätzlich die Frage im Raum, ob eine Entfluchtung in dieser kurzen Zeit überhaupt zu schaffen ist. Bisher haben alle halbherzigen Entfluchtungsübungen mit gerade einmal 300 Fahrgästen und bis zu 300 (!) Helfern zu Entfluchtungszeiten im Stundenbereich geführt. (Beispiele von Tunnelübungen: Eurotunnel 17.10.2010, Katzenbergtunnel 17.11.2012, VDE8 11.3.2017). Den Ingenieuren22 ist es bisher nicht gelungen, Unterlagen über eine derartige Übung zu erlangen, um sie in Beziehung zu den Simulationen zu setzen (3).

Das Fazit der Ingenieure22: So, wie sich EBA und DB die Entfluchtung eines brennenden Zuges im Tunnelsystem von Stuttgart 21 vorstellen, wird es nicht funktionieren. Ein Skandal, dass man meint, die Probleme erst zur Inbetriebnahme lösen zu wollen. Wir haben daher der Bahn vehement widersprochen (4). Überspitzt könnte man sagen, die Bahn wehrt sich gegen die Veröffentlichung der Brandschutzdaten nicht, weil die öffentliche Sicherheit gefährdet wäre, sondern, weil öffentlich würde, dass die Sicherheit der Menschen in den Tunneln gefährdet ist.

Eine umfassende Darstellung der Brandschutzproblematik findet man in „Risiken und Auswirkungen eines Brandes bei Stuttgart 21 und Bewertung des aktuellen Brandschutzkonzepts der DB AG“; Dipl. Ing. Hans Heydemann, Stuttgart; Dr. Christoph Engelhardt, München; 2. überarbeitete Auflage, November 2018; http://wikireal.org/w/images/8/8a/
S21-Brandschutzgutachten%2C_Online-Version.pdf

[1] ab 16.3.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, online: https://www.parkschuetzer.de/videos/

Rede von Wolfgang Kuebart als pdf-Datei

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