Warum es immer weitergeht

Rede von Joe Bauer, Journalist, Publizist und Stadtflaneur, auf der 515. Montagsdemo[1] am 8.6.2020

Liebes Protestpublikum an den Bildschirmen,

als ich die Zeilen, die ich Ihnen jetzt vortrage, am Sonntag notiert habe, stand ich noch unter dem Eindruck der Aktionen vom Samstag gegen den Rassismus. Das war wie ein Naturereignis, das man erst einmal verkraften und einordnen muss. Auch in Stuttgart waren Tausende auf der Straße und demonstrierten in den Bereichen des nicht abgeholzten Schlossgartens. Eine ähnliche Massendemonstration habe ich schon länger nicht mehr erlebt, ausgenommen die Aktionen der Fridays-for-Future-Bewegung, deren Größenordnung ich eher zufällig als Tourist auch in Berlin und Wien wahrgenommen habe.

Bei den Aufrufen, sowohl gegen den Rassismus als auch für den Klimaschutz, folgten massenhaft vor allem junge Leute. Beide Aufrufe waren eine Antwort auf die Angriffe auf Menschlichkeit und Zerstörung des Lebens. In beiden Fällen geht es um ein rücksichtsloses Wirtschaftssystem namens Kapitalismus. Es ist der Kapitalismus von Weißen, der mit seinen feudalistischen Auswüchsen in seiner neoliberalen Endphase weiterhin bedingungsloses Wachstum und maximalen Profit durchprügelt. Sie reden von Fortschritt und Zukunft, während sie jeden fortschrittlichen Einsatz für eine vernünftige Zukunft zu verhindern versuchen.

Die Begriffe Wachstum und Profit haben wir oft auch im Zusammenhang mit Stuttgart 21 gehört. Viele von uns haben begriffen, dass es bei diesem Milliardenspiel um die Gewinne aus Immobilienhai-Geschäften geht. Bei solchen Größenwahnprojekten gibt es keine Rücksicht auf die Menschen und humane Lebensbedingungen.

Ich erzähle Ihnen das, weil ich mich mit all diesen Dingen ohne die Bewegung gegen Stuttgart 21 vermutlich weit weniger beschäftigt hätte, als ich es heute tue, auch im praktischen Sinn.

Am Anfang des Protests gegen Stuttgart 21 konzentrierte sich der Blick, vor allem der mediale, sehr stark auf das Symbol der Bewegung, den Bahnhof. Ich selbst habe eine besondere Beziehung zum Bahnhof an sich. Eine Erfahrung, die mich davor bewahrt hat, eine Eisenbahnstation zu romantisieren und zu verklären.

Tatsächlich wurde ich 1954 bei Schwäbisch Gmünd in der Dienstwohnung eines Dorfbahnhofs geboren. Dieses Sandsteingebäude mit Platz für Weichenhebel, Wartesaal und Fahrkartenschalter gibt es längst nicht mehr, es wurde durch einen fortschrittlichen Fahrkartenautomaten ersetzt. Die Umgebung meiner Kindheit waren Gleise und Schotter, ein sehr belebter Güterbahnhof und in den Schränken unserer Wohnung das Geschirr, das bei jedem einfahrenden Zug schepperte. Diese Dinge haben mir beigebracht, dass die Eisenbahn sehr viel mit dem realen Leben zu tun hat. Mein späteres Interesse für Bücher, Filme und Songs hat diese Wahrnehmung bestätigt, und beim Blick auf einen Bahnhof sah ich dann bald mehr als nur eine Haltestelle für Züge.

Die Symbolik des Bahnhofs mit all den Geschichten vom Ankommen und Weggehen kann ich hier nur andeuten. Weiß der Teufel, warum mir zum Beispiel immer wieder einfällt, dass der große Revolutionär Albert Dulk im Jahr 1884 ausgerechnet im alten Stuttgarter Bahnhof einen tödlichen Herzinfarkt erlitt.

Eigentlich eine traurige Anekdote, für mich aber im zeitlichen Abstand eher lustig: Kein Wunder, Herr Dulk, sage ich, ein Stuttgarter Bahnhof kann dir immer leicht den Rest geben. Der Trauerzug für den Sozialisten Albrecht Dulk wurde übrigens zur größten Massendemonstration während der Sozialistengesetze.

Im früheren Bahnhof an der heutigen Bolzstraße sind die Metropol-Kinos untergebracht, nebenan stehen die alten Mauern des ehemaligen Hotels Marquardt. Dort nächtigten Abgeordnete der Regierung Friedrich Ebert, nachdem sie im März 1920 beim Kapp-Putsch vor Freikorps mit Hakenkreuz am Helm aus Berlin nach Stuttgart geflüchtet waren.

Und heute, im Hier und Jetzt unserer Stadt, erzählt mir eine schwarze Sängerin, dass sie beim Warten auf ihren Zug im Bahnhof immer ganz automatisch einige Meter Abstand vom Bahnsteig hält. Die Furcht vor rassistischen Angriffen ist permanent präsent, wie ich es mir als privilegierter Weißer nicht vorstellen kann.

Solche Geschichten erinnern mich daran, was ein Bahnhof alles bedeutet. Welche Signale er sendet. Ich sage es etwas präziser und persönlicher: Ohne den jahrelangen Kampf gegen die Zerstörung des Stuttgarter Paul-Bonatz-Baus wären mir einige Lichter nicht aufgegangen. Dazu gehört meine heutige Sicht, dass bei einer politischen Aktion nicht allein der Erfolg zählt, sondern vor allem die Bereitschaft, immer aufs Neue etwas gegen politische Schweinereien zu tun. Sich zusammen mit anderen zu organisieren und zu wehren gegen die zerstörerischen Machenschaften und Ungerechtigkeiten eines Systems.

Deshalb ignoriere ich den ständigen Vorwurf, es sei doch sinnlos, weiterhin gegen Stuttgart 21 zu protestieren, weil das Schwachsinnsprojekt ja so oder so gebaut werde. Protest, liebe Freundinnen und Freunde, ist mehr als ein Zeichen des Dagegen-Seins. Protest bedeutet immer auch Aufklärung über die herrschenden Verhältnisse. Protest heißt, sichtbar Position zu beziehen. Und gerade jetzt in der Pandemie-Krise ist Aufklärung bitter nötig. Etwa darüber, wie die zu erwartende Wirtschaftskrise – wie andere Krisen zuvor – auf dem Rücken der ohnehin Benachteiligten und Verletzlichen unserer Gesellschaft abgeladen werden soll.

Gut und wichtig ist es in diesem Corona-Zusammenhang, dass das Organisationsteam der Montagsdemos sich eindeutig von allen Querdenkfront-Aufmärschen distanziert hat – von diesen absurden, faschistisch unterwanderten Inszenierungen und verschwörerischen Behauptungen.

Nebenbei bemerkt: Es ist absolut zu wenig, nur anderthalb Meter Abstand zu Nazis zu halten. Faschisten und Rassisten darf man allenfalls näher kommen, wenn es gilt, sie zurückzudrängen und zu bekämpfen. Diese Anstandsregel muss für jede demokratische Bewegung gelten. Auch für die gegen Stuttgart 21.

Liebe Freundinnen und Freunde, kaum ein Ort zeigt uns das Nebeneinander und Beieinander unterschiedlichster Menschen so anschaulich wie ein Bahnhof. Er zeigt die Welt im Kleinen. Schon deshalb führt der Protest gegen Stuttgart inhaltlich und emotional weit aus einem Bahnhofsgebäude hinaus. Und voraussichtlich schon bald gibt es auch einen Weg aus dem Internet heraus zurück auf die Straße.

Durchhalten und mutig bleiben! Vielen Dank!

[1] ab 16.3.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, online: https://www.parkschuetzer.de/videos/

Rede von Joe Bauer als pdf-Datei

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