Rede von Dr. Gregor Gysi, Autor, Moderator und Mitglied des Deutschen Bundestages, auf der 555. Montagsdemo[1] am 15.3.2021

Liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer,

555 Montagsdemos sind ein großartiges Zeichen für eure Beharrlichkeit, eure Widerstandskraft, euren Kenntnisreichtum, eure Konsequenz, und ihr habt meinen absoluten Respekt!

Ich denke, es ist nicht zu viel gesagt, wenn man eurer Bewegung gegen das unsinnige Bahnprojekt Stuttgart 21 attestiert, den momentan längsten Atem in unserem Land zu haben. Ihr seid damit auch Vorbild für das Engagement in anderen Städten und Regionen: in Berlin läuft gerade die zweite Stufe eines Volksbegehrens, um am Ende mit einem Volksentscheid etwa 240.000 Wohnungen von Immobilienkonzernen vergesellschaften zu können und damit dem Mietenwahnsinn ein Ende zu setzen.

Es geht in Berlin wie bei euch in Stuttgart und an vielen anderen Orten darum, dass die Bürgerinnen und Bürger sich in die Politik einbringen und diese aktiv verändern wollen. Das ist eine Erfolgsgeschichte des bürgerlichen Engagements – auch wenn nicht immer und überall die Ziele bis jetzt erreicht werden konnten.

Aber ein Projekt wie Stuttgart 21, das nicht eines der vielen Versprechen hält, die dazu gemacht wurden, wird ja nicht dadurch sinnvoller, wenn man es einfach immer weiter baut und den schon versenkten Milliarden Euro noch weitere hinterherwirft.

Ich hatte gedacht, wir in Berlin haben mit dem Flughafen BER in Deutschland das Projekt der größten Verschwendung und der größten Fehlleistungen der öffentlichen Hand verzapft, aber ich muss gestehen, nach Stuttgart 21 liegt der BER nur auf Platz 2. Allein wenn ich lese, dass nun noch einmal 5,5 Milliarden Euro extra ausgegeben werden sollen, um die Fehlplanungen zu Stuttgart 21 zu kompensieren, kosten diese so genannten Ergänzungsprojekte fast so viel wie der gesamte BER.

Und das einzige Argument, das vielleicht für dieses Projekt hätte sprechen können, der Stadt Flächen für den Bau von Wohnungen zu ermöglichen, wird nun bis 2037 verschoben, wenn die Bahn diese Flächen an die Stadt übergeben will.

Nein, bei Stuttgart 21 ist ein Ende mit Schrecken für nahezu alle Beteiligten besser als ein Schrecken ohne Ende!

Es ist sicher ein Problem, dass inzwischen schon so viel Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler verbaut worden ist; das war letztlich auch ein Argument, warum der BER an seinem falschen Standort zu Ende gebaut wurde. Aber zumindest wurden dort die Brandschutzprobleme gelöst, was bei Stuttgart 21 wohl eher ein Wunder wäre. Und bei vielen anderen Projekten ähnlicher Größe, um nicht Großmannssucht zu sagen, ist nicht einmal das gelungen – sie gingen nie in Betrieb.

Und bei Stuttgart 21 zieht das Argument auch deshalb nicht, weil auch durch eure Initiative die Alternativen auf dem Tisch liegen: Ich finde die Idee, die schon fertigen Tunnel für ein Versorgungssystem der Stuttgarter City zu nutzen, sehr intelligent.

Es käme jetzt also darauf an, die Entscheider bei der Bahn und in der Politik zu etwas zu bewegen, was eben den meisten Menschen nicht leicht fällt: eine Fehlentscheidung zu korrigieren. Vielleicht bietet uns alle die nervende Corona-Pandemie eine Möglichkeit dazu.

Das für Stuttgart 21 immer weiter geplante Geld sollte doch für andere Nutzungen eingesetzt werden.

Zudem ist in der Bildung deutlich geworden, wie sehr unser Land in der Digitalisierung hinterherhinkt und wie nötig dort große Investitionen sind, im Unterschied zu ein paar unterirdische Gleisen, die sich nicht einmal in den Deutschland-Takt einbinden lassen.

Am wichtigsten aber könnte es sein, dass wir beinahe täglich in der Politik erleben, wie sehr man sich auch irren kann, und dass die Korrektur von irrtümlichen Entscheidungen nicht schlimm oder ehrenrührig ist, sondern schlicht und einfach rettet!

Um Tod oder Leben geht es bei Stuttgart 21 nicht, aber es wäre doch wirklich wünschenswert, wenn die Verantwortungsträgerinnen und -träger in diesem Land – umso mehr, da sie gestern frisch gewählt wurden, und nun also nicht mehr wahlkämpfen müssen – sich ein Beispiel an Bodo Ramelow, dem linken Ministerpräsidenten von Thüringen nehmen, der offen gesagt hat, wann er bei seinen Einschätzungen und Entscheidungen falsch lag.

Ich finde es wirklich bedenklich, wenn gerade die Grünen in Baden-Württemberg bei einem Projekt, dass auch umweltpolitisch so gravierende Schwächen hat, bisher nicht dazu in der Lage und willens waren, die Reißleine zu ziehen.

Bei Stuttgart 21 ist es höchste Zeit, das sagt ja eigentlich schon der Name des Projektes: das Jahr 2021 muss das Jahr sein, in dem aus Stuttgart 21 ein Symbol wird, dass die Politik zur Fehlerkorrektur bereit und in der Lage ist. Dazu gehört zweifellos Mut und diesen Mut müsst ihr den Verantwortlichen machen, dass sie sich von den falschen Voraussetzungen, unter denen dieses Projekt ihnen und allen anderen verkauft wurde, endlich lösen, denn letztlich ist Stuttgart 21 schon heute aus der Zeit gefallen.

Man kann das gut am BER sehen, was das heißt und wie das aussieht, wenn ein solches Projekt zumindest teilweise von der Zeit überholt wird, deshalb ist es wichtig, dass ihr nicht nachlasst und weiter darum ringt, dass die Vernunft sich durchsetzt.

Dafür drücke ich euch die Daumen, und vielleicht könnte ja auch eine andere politische Mehrheit im Bund dann den Mut haben, in den Koalitionsverhandlungen ein Stoppzeichen für Stuttgart 21 zu setzen, denn schließlich ist der Bund 100prozentiger Eigentümer der Bahn, es ist wirklich an der Zeit, dass wir alle als Eigentümerinnen und Eigentümer den Konzernverantwortlichen mal sagen, was geht und eben auch, was nicht geht – Stuttgart 21!

[1] ab 21.12.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, wieder online:
https://www.parkschuetzer.de/videos/

Rede von Gregor Gysi als pdf-Datei

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2 Antworten zu Rede von Dr. Gregor Gysi, Autor, Moderator und Mitglied des Deutschen Bundestages, auf der 555. Montagsdemo[1] am 15.3.2021

  1. Jea sagt:

    Es ist wahrscheinlich, dass Stuttgart 21 auch aus anderen Gründen nicht zu Ende gebaut wird..
    .
    Zur Bedrohungssituation und Lage der Welt
    [https://docs.google.com/document/d/1s6zrp4f8cpFw_CnkHv48oJfn6KogmeoxXzVfJbfFTtg/edit?usp=sharing]
    .
    Ja, dem ‚Zeitalter der Dummheit‘ (‚The Age of Stupid‘, sehenswerter Dokumentarfilm von Franny Armstrong), dieser unglaublichen, Geld-geleiteten Idiotie, wird wohl ein verdientes Ende gesetzt….

  2. Nies, Horst - Rainer sagt:

    Gisy hat recht! Noch was:
    Für SPD und FDP die würde sich die Chance zur Regierungsbeteiligung deutlich erhöhen, so man denn einen Baustopp für S 21 zur Erstellung einer Zwischenbilanz forderte.
    Den Grünen, die das Projekt anfangs ablehnten, ja bekämpften, böte sich so die Chance,sich des in der Koalition mit der CDU angeheirateten Problems elegant zu entledigen.

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