Digitalisierung und ETCS – viele Versprechungen, wenig eingehalten

Rede von Dr. Bernhard Knierim, Biophysiker, Politikwissenschaftler, Autor und Mitbegründer von ‚Bahn für Alle'; auf der 556. Montagsdemo[1] am 22.3.2021

Liebe Freundinnen und Freunde einer besseren Bahn!

Heute soll es um ein Thema gehen, das erstmal etwas sperrig-technisch daherkommt – und am Ende aber doch hochpolitisch ist und eine Menge mit Stuttgart 21 zu tun hat: Nämlich ETCS, das European-Train-Control-System. Davon haben Sie und habt Ihr sicher alle schon einmal gehört – aber es ist ein technisch ziemlich komplexes Thema. Daher möchte ich Euch und Sie einladen, mir auf die Reise zu folgen. Schließlich geht es ja bei den Reden auf den Montagsdemos immer auch darum, etwas über viele spannende Themen rund um die Bahn – und um Politik – zu lernen.

Heute also unser Thema: Zugsicherung. Ich begrüße Sie zu unserem heutigen Seminar: „Zugbeeinflussung und Sicherheit im Schienenverkehr“.

Als der Bahnverkehr Anfang des 20. Jahrhunderts immer dichter und auch schneller wurde, und es immer wieder zu schweren Unfällen kam, stellte man fest, dass man ein System bräuchte, das Züge notfalls von selbst zum Stehen bringt, wenn z.B. ein Lokführer ein Halte-Signal übersieht. Entwickelt wurde also die PZB – die punktförmige Zugbeeinflussung, die bereits seit mehr als 100 Jahren im deutschen Eisenbahnnetz zum Einsatz kommt. Dabei sind jeweils an einem Signal sogenannte Gleismagnete verbaut, die dem Zug den Zustand des Signals – Halt oder Fahrt – übermitteln. Und damit kann der Zug notfalls zum Stehen gebracht werden, selbst wenn der Lokführer nicht reagiert, eingeschlafen oder gar tot ist.

Diese Zugsicherung ist das zentrale Element der Sicherheit im Schienenverkehr – und ein wichtiger Grund dafür, dass das Risiko, auf einer Zugfahrt Opfer eines Unfalls zu werden, rund 137 mal niedriger ist als bei einer vergleichbar weiten Autofahrt[2] – trotz der höheren Geschwindigkeiten.

Wie wichtig das ist, wurde zuletzt mit dem schlimmen Zusammenstoß bei Hordorf in Sachsen-Anhalt am 29. Januar 2011 deutlich. Der Lokführer eines Güterzugs hatte – auf einer eingleisigen Strecke – zwei rote Signale überfahren, und beim frontalen Zusammenstoß mit einem Regionalexpress kamen zehn Menschen ums Leben. Das Tragische dabei: Es war eine der letzten Bahnstrecken in Deutschland, die noch nicht mit PZB ausgerüstet waren, und die Installation war sogar schon geplant. Mit PZB wäre der Zug wohl rechtzeitig gestoppt und der Unfall verhindert worden.

Mit der Zeit wurden die Züge aber immer schneller, und spätestens jenseits von 140 bis 160 km/h kann eine Lokführerin oder ein Lokführer die Signale an der Strecke – vor allem bei schlechtem Wetter – nicht mehr zuverlässig erkennen, und auch das Stoppen über die PZB würde wegen des langen Bremswegs nicht mehr ausreichen. Daher benötigte man ein besseres System, das die Information auch über weiter entfernt liegende Signale und die im nächsten Abschnitt zulässigen Höchstgeschwindigkeiten übermittelte. So wurde die LZB entwickelt – die linienförmige Zugbeeinflussung, die seit Ende der 1970er Jahre in Deutschland und auch einigen anderen Ländern zum Einsatz kommt.

Bei der LZB werden über einen Linienleiter, der in der Mitte des Gleises installiert ist, permanent Informationen zwischen dem Zug und dem Stellwerk ausgetauscht. Die Lokführerin oder der Lokführer kann dann im Zug bis zu 38 Kilometer im Voraus sehen, wie schnell der Zug jeweils fahren darf – oder wann er gegebenenfalls stoppen muss.

Die LZB bewährt sich seit vier Jahrzehnten als Ergänzung zur PZB für höhere Geschwindigkeiten – unter anderem auf den klassischen Hochgeschwindigkeitsstrecken wie z.B. Mannheim – Stuttgart. Und mit Erweiterungen ist sogar ein teilweise automatischer Betrieb von Zügen möglich.

Das Problem dabei ist jedoch: In den europäischen Ländern gibt es unterschiedliche Zugsicherungssysteme; über die Jahre haben die Bahnen jeweils eigene Systeme entwickelt. Seit Ende der 1990 Jahre gibt es daher Bestrebungen für ein einheitliches europäisches Zugsicherungssystem. Und das soll das ETCS werden – das European Train Control System.

Das ETCS arbeitet nun nicht mit Streckenmagneten und auch nicht mit Linienleitern, sondern alle wichtigen Informationen werden per Funk in den Zug übertragen – über das sogenannte GSM-R-Netz, über das auch der Sprechfunk zwischen Stellwerk und Führerstand abgewickelt wird. Da der Zug durch Funk alleine noch keine Information über seine jeweilige Position hat, benötigt er noch eine Art Kilometerstein im Gleis, das sind die sogenannten Eurobalisen. An diesen erkennt man also auch als Laie gleich, dass eine Bahnstrecke mit ETCS ausgerüstet ist.

Um die Sache noch komplizierter zu machen, kommt das ETCS in unterschiedlichen Levels daher:

  • Level 1 kann letztlich ungefähr so viel wie die PZB – also den Zug an einem roten Signal zum Stehen bringen. Das geht übrigens auch ohne Funk über die reine Informationsweitergabe durch die Eurobalisen, die dafür verkabelt sein müssen.
  • Level 2 kann ungefähr so viel wie die LZB – also auch zulässige Geschwindigkeiten übermitteln und der Triebfahrzeugführerin oder dem Triebfahrzeugführer eine Vorausschau über mehrere Kilometer ermöglichen.
  • Und Level 3 ist momentan zwar noch weitgehend Zukunftsmusik; hiermit soll es später aber möglich werden, die Kapazität von Strecken zu erhöhen, indem die Züge nicht mehr an festen Signalen zum Halten kommen müssen, sondern im jeweiligen Bremsweg-Abstand hintereinander herfahren können, so dass sie also im Notfall immer noch genau so gebremst werden können, dass sie zum Stehen kommen, bevor sie in den davorliegenden Zug krachen.

Verehrte Zuhörerinnen und Zuhörer, ich danke bis hierher für Ihre Aufmerksamkeit zu dieser kurzen Einführung zum Thema Zugbeeinflussung!

Und hier wird es nun wieder richtig politisch, also zurück aus unserem Seminar in die Politik: Schauen wir uns einmal an, was aus den Versprechungen um das ETCS geworden ist.

  1. Das erste zentrale Versprechen von ETCS ist die europäische Vereinheitlichung. Und da muss man sagen: Das ist zumindest bisher grandios gescheitert. Tatsächlich waren nämlich die Festlegungen für das ETCS zumindest bis zu den frühen Versionen von Level 1 und 2 so ungenau, dass sie wieder überall etwas anders ausgelegt wurden. In jedem Land hat sich dadurch ein eigener „Dialekt“ entwickelt, und die Dialekte waren untereinander wiederum inkompatibel – fast wie die bisherigen nationalen Zugsicherungssysteme. Über die Entwicklung ist eine Vielzahl von ETCS-Versionen entstanden, die schlichtweg nicht zusammenpassen.

Ein Beispiel: Lokomotiven, die bereits für ETCS in Deutschland ausgerüstet waren, konnten nach der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels – mit ETCS – trotzdem nicht dort fahren, sondern sie mussten erst mit hohem Aufwand zusätzlich mit dem Schweizer ETCS ausgerüstet werden.

Und es gibt unterschiedliche Versionen der ICE-1-Züge: Einige verstehen das Schweizer ETCS und andere das in Deutschland auf der Neubaustrecke Halle/Leipzig – Nürnberg verbaute. Und alleine in der Schweiz sind inzwischen 5 verschiedene Versionen von ETCS Level 2 verbaut![3]

Das Versprechen für die Zukunft von ETCS ist, dass das alles besser werden soll – und das möchte ich den Ingenieur*innen auch gerne glauben. Aber man muss sagen, dass ETCS zumindest in den ersten 20 Jahren bei seinem zentralen Versprechen – der sogenannten Interoperabilität – gescheitert ist.

  1. Ein weiteres Versprechen von ETCS ist die Erhöhung der Sicherheit – was im Bahnverkehr immer ein wichtiges Thema bleibt. Allerdings scheint die hohe Komplexität des ETCS-Systems auch hier Probleme zu machen. Am 27.6.2019 kam es in der Schweiz fast zu einem Unfall, weil ein Zug vom System – ETCS Level 2 – freie Fahrt erhalten hatte, der eigentlich keine Fahrt hätte erhalten dürfen.[4] Ein Unfall ist nur durch aufmerksames Bahnpersonal verhindert worden. Und in den Schweizer Stellwerken muss bei Unregelmäßigkeiten des Systems immer wieder von Hand eingegriffen werden, wodurch die Sicherheit dann stark reduziert wird – dann hängt alles von der Aufmerksamkeit des Stellwerks-Personals ab.[5] Auch das sind vielleicht „Kinderkrankheiten“ der frühen Versionen, aber bei einem solchen sicherheitsrelevanten System sind aus meiner Sicht allenfalls solche Kinderkrankheiten akzeptabel, die Züge einmal mehr bremsen als nötig – was auch schon ärgerlich ist. Aber es darf niemals solche Fehler geben, die zu einer Kollision führen können.
  2. Das dritte große Versprechen von ETCS sind die Kapazitätsgewinne im Netz. Und auch das ist ganz besonders in Deutschland ein riesiges Thema, denn es gibt im ganzen Land überlastete Strecken, die durch Neubauten oder zumindest neue Gleise entlastet werden müssen, wenn wir den Bahnverkehr weiter steigern wollen – was ja erklärtes politisches Ziel ist. Wie schön wäre es, wenn man das gar nicht müsste, weil man mit einem smarten neuen System einfach mehr Züge über die bestehende Strecke leiten kann – das könnte Milliarden einsparen. Genau mit dieser Idee geht DB-Technikvorstand Ronald Pofalla seit Jahren im Land hausieren, um Milliarden bei der Politik für die sogenannte „Digitale Schiene“ locker zu machen. Sein Versprechen ist die Digitalisierung mit Hilfe von ETCS und digitalen Stellwerken – die zu 20 bis 30 Prozent höheren Kapazitäten im Schienennetz führe.

Was er aber nicht dazu sagt: Auf den überlasteten Strecken sind schon heute in der Regel Systeme wie die weiterentwickelte LZB mit sehr kurzen Blockabständen verbaut, die ebenfalls schon eine sehr dichte Zugfolge möglich machen. Hier lässt sich also auch mit ETCS nicht mehr viel herausholen.

Und dann kommt auch noch das Problem der Empirie: Ausgerechnet das Nicht-EU-Land Schweiz hat sein Netz nämlich schon weitgehend mit ETCS ausgerüstet. Und die Erfahrungen dabei sind alles andere als berauschend: Die Schweizer merken nämlich nichts von den versprochenen Kapazitätserhöhungen, die sie in dem extrem dicht befahrenen Schweizer Netz dringend gebrauchen könnten. Stattdessen benötigen die Züge mit ETCS sogar teilweise größere Abstände zueinander, das heißt, es geht Kapazität verloren.[6] (Für die Technik-Interessierten: Der Grund dafür sind die im System hinterlegten Bremskurven, die wohl so viele Sicherheitszuschläge enthalten, dass das System einen höheren Abstand verlangt als eigentlich notwendig wäre.) Zitat des Schweizer Bahnchefs Vincent Ducrot: „Seit einigen Jahren wissen wir, dass die Führerraumsignalisierung ETCS Level 2 keinen nennenswerten Sicherheitsgewinn bringt und dass sich die heutige betriebliche Kapazität auf stark belasteten Schweizer Strecken mit diesem System gar nicht aufrechterhalten lässt.“[7] Das klingt ziemlich resigniert.

Ein weiteres Thema übrigens ist die Rückfallebene: Die Schweizer waren in den letzten Jahren immer wieder froh, dass sie auf den meisten Strecken noch nicht ihre Signale abgebaut und sich ganz auf das ETCS verlassen haben, denn auch das kann – wie jegliche Technik – ausfallen. In Deutschland setzt man dagegen auf ETCS ohne Rückfallebene. Das führte z.B. zum verpatzten Start der Prestige-Neubaustrecke Erfurt – Nürnberg im Dezember 2017: Dort funktionierten die Züge in den ersten Tagen noch nicht gut mit dem neuen System zusammen – aber es gab eben auch kein anderes System, das man stattdessen hätte verwenden können. In der Folge mussten Züge statt der neuen Hochgeschwindigkeitsstrecke riesige Umwege fahren und hatten stundenlange Verspätungen. Inzwischen funktioniert das neue System allerdings richtig gut – aber eine Rückfallebene bleibt für einen zuverlässigen Bahnbetrieb ein wichtiges Thema. Nochmal der Schweizer Bahnchef Vincent Ducrot: „Wenn man 20 Jahre an einer Technik arbeitet und sie nicht zuverlässig hinkriegt, dann stimmt etwas nicht. In anderen Branchen wäre sie schon lange abgeschrieben und ersetzt.“[8]

Was heißt all das nun für Stuttgart 21? Stuttgart soll ja den Versprechungen der Deutschen Bahn zufolge der erste voll digitale Knoten Deutschlands werden – mit ETCS, digitalem Stellwerk und einer noch nie dagewesenen Zugdichte im Netz. Den Versprechen der DB zufolge sollen die Züge alle zwei Minuten durch die Tunnels fahren, an jedem Bahnsteig sollen die Züge im 5-Minuten-Abstand halten.[9] Das wäre eine Leistungsfähigkeit, die noch an keinem anderen Bahnhof erreicht wird – und schon gar nicht in einer vernünftigen Qualität. Notwendig wird all das bekanntlich dadurch, dass der neue Bahnhof viel zu klein geplant ist. Aber wenn man sich den technischen Stand von ETCS anschaut, sieht man: Diese Versprechungen fußen auf einer Technologie, die es so noch gar nicht gibt.
Das ist also so, als würde man einen Bahnhof mit einem Brandschutzkonzept bauen, das auf Techniken beruht, die noch gar nicht entwickelt sind. Und so etwas würde ja niemand machen, oder?

Und tatsächlich braucht eigentlich auch niemand Züge, die im 5-Minuten-Takt am Bahnhof halten, sondern für den Deutschlandtakt müssen sich die Züge alle genau zu den Knotenzeiten treffen, um einen optimalen Umstieg zu ermöglichen. Dafür bräuchte man einen Bahnhof, der mindestens 16 Gleise hätte.

Und da sind wir bei dem bestehenden Kopfbahnhof in Stuttgart, einem kompletten, bestens funktionstüchtigen Bahnhof mitten in der Stadt, mit 16 ½ Gleisen und mit einer funktionierenden, jahrzehntelang erprobten Zugsicherung. Auch diesen Bahnhof kann man sicherlich langfristig mit einem besseren, dann erprobten Sicherungssystem ausrüsten und die ohnehin schon hohe Kapazität für den zukünftigen Deutschlandtakt sogar noch weiter erhöhen. Also: Alles, was man braucht.

Und deswegen gilt auch weiterhin:

Oben bleiben!

[1] ab 21.12.2020 wegen Corona-Pandemie jeweils Montags, 18 Uhr, wieder online:
https://www.parkschuetzer.de/videos/

[2] https://www.allianz-pro-schiene.de/themen/sicherheit/unfallrisiko-im-vergleich/

[3] Analyse des Verbands der Schweizer Lokführer und Anwärter: https://www.vslf.com/news/2020/detailansicht-2020?tx_news_pi1%5Bnews%5D=204&cHash=bb3d78efa2f5dcbcaa75a732e230406f

[4] Eine Ausführliche Darstellung des Zwischenfalls findet sich bei den Ingenieuren 22: http://ingenieure22.de/cms/index.php/projekte-studien/bahntechnik/238-ing22-etcs-schweiz

[5] Analyse des Verbands der Schweizer Lokführer und Anwärter, A.a.O.

[6] Analyse des Verbands der Schweizer Lokführer und Anwärter, A.a.O.

[7] Vincent Ducrot: Neue Ausrichtung und neue Unternehmenskultur - Gespräch mit dem neuen CEO der SBB. In: Eisenbahn-Revue 8-9/2020, S. 390–393.

[8] Vincent Ducrot, a.a.O.

[9] Digitaler Knoten Stuttgart, Erklärung der DB Netz AG zu Inhalt und Zielen (Zielvereinbarung vom 21.04.2020)

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