Der Stuttgarter Hauptbahnhof und die Barrierefreiheit

Rede von Sigrid Angermann, Mitglied im Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf e.V. (DVBS) - spricht hier für sich selbst, auf der 622. Montagsdemo am 1.8.2022

Zunächst möchte ich mich vorstellen:

Mein Name ist Sigrid Angermann und ich arbeite seit vielen Jahren ehrenamtlich für den Deutschen Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS), der Hauptsitz ist Marburg. Ich bin blind, ein kleines Restsehvermögen ist noch vorhanden. Ich habe viele Jahre mit blinden und sehbehinderten Jugendlichen gearbeitet. Seit ich vor 32 Jahren nach Stuttgart kam, war ich bei geistig behinderten Menschen tätig. Inzwischen bin ich Ruheständlerin.

In der Landesbauordnung (LBO) von Baden-Württemberg steht seit 2014: „Bauwerke oder Anlagen sind barrierefrei, wenn sie zweckentsprechend und ohne fremde Hilfe genutzt werden können“. Unter dieser Maßgabe möchte ich folgende Anmerkungen machen:

Zunächst ein Rückblick auf den Hauptbahnhof, wie er bis 2010 bestand:

  • Es gab fünf Eingänge, der Nordeingang war ebenerdig. Im Haupteingang befand sich eine Rolltreppe, und vom Bahnhof zur S-Bahn gab es eine Fahrstuhlverbindung. Das Reisezentrum befand sich gleich im Eingangsbereich. Der Weg von den Eingängen durch die Bahnhofshalle dauerte ca. drei bis vier Minuten zu den Gleisen.
  • In der Halle befanden sich unterschiedlichste Geschäfte, eine Bank, die Post und mehrere Restaurants, in denen Wartezeiten bequem überbrückt werden konnten. Reservierungen für Besprechungen waren möglich. Die Lufthansa checkte Gepäck am Vorabend des Flugs ein, so dass man entspannt nur mit Handgepäck am nächsten Morgen die Reise antreten konnte.

Ich möchte also sagen: Seit 1927 war dieser Bahnhof nicht nur sehr pünktlich, er war barrierefrei.

Die Situation jetzt:

  • Es gibt zwei Möglichkeiten, um die Baustelle herum in den Bahnhof zu gelangen. Im Süden führt ein Tunnel in ca. 10 Minuten bis zu Gleis 16. Bei starkem Reiseaufkommen sind die Geräusche von Koffern und Baumaschinen sehr laut. Die Orientierung mit Hilfe des Gehörs ist deshalb erschwert. Der Zugang, der um den Nordteil des Bahnhofs führt, ist für sehende Menschen vielfarbig gekennzeichnet. Für blinde Menschen ist dieser Weg – meiner Meinung nach – ohne fremde Hilfe nicht zu bewältigen. Starker Verkehrslärm und Baumaschinengeräusche sowie auch hier die Koffergeräusche machen das Gehen dieses Weges ohne Hilfe unmöglich. Man braucht ca. 10 Minuten bis Gleis 1.
  • Die Schalterhalle ist nur schwer zu finden und die abgespannten Seile, in denen man sich anstellen muss, sind allein nicht zu finden.
  • Der breite Gang, von dem die Gleise 1-16 abgehen, lässt sich bei normalem Betrieb gut gehen. Bei erhöhtem Reiseaufkommen stehen die Warteschlangen vor den Imbissbuden und erschweren das Abbiegen zu den Bahnsteigen.
  • Bis jetzt sind die Bahnsteige breit, es halten maximal zwei Züge, einer links, einer rechts. Aber auch jetzt ist bei hohem Reiseverkehr Vorsicht geboten. Das Laufen mit dem Blindenstock benötigt Platz (eine Körperbreite und je nach Größe 70-80 cm nach vorn). Wenn dieser Platz nicht vorhanden ist, ist die Gefahr, andere zu stören oder gar zum Stolpern zu bringen, groß. Auch sind die Leitstreifen bei vollen Bahnsteigen nicht mehr zu verfolgen.
  • Das Reiseaufkommen während des Neun-Euro-Tickets ist so hoch, dass der Aufenthalt im Bahnhof abenteuerlich wird. Es fehlt einfach die Infrastruktur, die solche Menschenmengen bewältigen kann. Auch die Bahnmitarbeiter, die sehr hilfreich sind, können diesem Ansturm nicht mehr gerecht werden.

Was kommt auf uns zu, wenn Stuttgart 21 fertig gebaut ist?

Die Bahn rechnet mit einer Verdoppelung des Fahrgastaufkommens bis 2030. Die Bahnsteige werden schmaler sein. Zudem sollen häufig auf einem Gleis zwei Züge hintereinander stehen. Es können also vier Züge, zwei links und zwei rechts von einem Bahnsteig stehen und Fahrgäste ein- und aussteigen lassen. Ich erlebe mit meinem Mann eine solche Situation manchmal in Mainz. Da sind die Laufspuren an der Seite so schmal, dass spätestens das Ausweichen entgegenkommender Menschen Mühe macht.

In Stuttgart wird die Gleisneigung im neuen Bahnhof bei 15 Promille liegen, sechsmal so hoch wie normalerweise und nur durch eine Sondergenehmigung erlaubt. Da kann alles, was Räder hat, ins Rollen geraten und zu Schreckmomenten führen. Die Fluchttreppen am Ende der Bahnsteige sind zu schmal und zu steil, was in brenzlichen Situationen zu Unfällen führen kann. Zudem steigt bei einem Brand der Rauch genau dorthin, wo die Menschen nach draußen streben.

Zum Thema Brandschutz ist schon häufig sehr kompetent berichtet worden. Die Deutsche Bahn hat nach langem Nachfragen und Druckmachen zugeben müssen, dass es keinen Rettungsplan für behinderte Menschen gibt. Das ist eine äußerst beunruhigende Situation, die auch Rollstuhlfahrern Sorge bereitet.

Rede von Sigrid Angermann als pdf-Datei

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