Es war einmal… ein Kopfbahnhof in Stuttgart

Rede von Luigi Pantisano, Stadtrat FrAktion LINKE, SÖS, Pirat, Tierschutz, auf der 633. Montagsdemo am 24.10.2022

Liebe Freund:innen,

Es war einmal… so beginnen viele deutsche Märchen. So beginnt auch die Geschichte des Stuttgarter Hauptbahnhofs vor genau 100 Jahren.

Es war einmal… ein funktionierender Bahnhof. Ein Bahnhof mit 16 Gleisen. Eine Meisterleistung von Ingenieuren und Eisenbahnern. Ein großes Bauwerk, mit klaren Linien, Formen und ohne viel Dekor. Ein Bauwerk, wie es noch keines in dieser Weise vorher gab. Menschen kamen aus Nah und Fern, um diesen Bahnhof zu sehen und um einmal selbst mit einer Dampflokomotive in die schöne Stadt Stuttgart einzufahren.

Liebe Freundinnen und Freunde des Kopfbahnhofs, meine Tochter Leni ist 4 Jahre alt und sie hat vor kurzem Märchen für sich entdeckt. Beim Vorlesen habe ich ihr erklärt, dass Märchen meistens mit dem Satz „Es war einmal…“ beginnen. In Märchen gibt es oft gemeine und böse Zauberer und Hexen. Manchmal auch böse Tiere. Die sind so böse, dass Kinder aufgefressen werden und auch sterben müssen.

Meiner Tochter habe ich auch erzählt, dass Märchen immer gut enden. Die bösen Hexen und Zauberer werden meistens besiegt, getötet oder verjagt. Und was das beste an Märchen ist: die tot geglaubten Menschen, diejenigen, die leiden mussten, werden wach geküsst und stehen wieder auf. Märchen enden so: „und wenn Sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“.

Liebe Freundinnen und Freunde, in einem Märchen sind 100 Jahre keine lange Zeit. Wir befinden uns beim Märchen des Stuttgarter Hauptbahnhofs irgendwo in der Mitte der Geschichte. Die bösen Zauberer haben den großen Riesen, den Kopfbahnhof, eingeschläfert. Sie haben die Mehrheit der Menschen verzaubert mit dem Versprechen eines neuen, schöneren, pünktlicheren, günstigen und des bestgeplanten Bahnhofs Europas.

Der Zauber hat aber nicht bei allen Menschen gleich gewirkt. Eine kleine widerständige Gruppe hat sich nicht verzaubern lassen. Jeden Montag versammeln sie sich, beraten, demonstrieren laut und leise, wie sie die Geschichte des großen Riesen Kopfbahnhof weitertragen können an junge Generationen. Sie wollen den Kopfbahnhof wieder wach küssen und zu neuem Leben erwecken. Sie rufen immer laut: Oben bleiben!

Wenn Ihr am Wochenende bei den Feierlichkeiten zum 100-jährigen Jubiläum des Stuttgarter Hauptbahnhofs wart, dann habt Ihr ebenfalls eine Märchenstunde ganz anderer Qualität erlebt. Die Lügen und die Zauberei gingen schon bei der Anmeldung zu den Führungen los. Auf der Rechnung für die Führung „100 Jahre Bonatzbau“ stand als Preis 0 Euro. Am roten Infoturm angekommen – in Märchen gibt es übrigens auch immer irgendwelche Türme – wollten sie dann 20 Euro für den Einlass. Das ist wie beim gesamten Projekt S21. Beim Beschluss zum Projekt wurde ebenfalls vorgegaukelt, dass es fast nichts kostet und nun sollen wir bald auch 20 Milliarden bezahlen für alles drum und dran.

Unser Freund Peter hat mir einen Bericht von der Märchenstunde bei einer dieser Führungen zukommen lassen, den ich Euch hier in Stichworten wiedergeben möchte. Seid gewahr, Euch von diesen Versprechungen verzaubern zu lassen: „Der Tunnelvortrieb in und um Stuttgart ist abgeschlossen und das ohne besondere Vorkommnisse.“

Der Wassereinbruch in Obertürkheim und das Absacken des S-Bahngleises wurden nicht erwähnt. Lügen sind typisch für böse Zauberer.

„Stuttgart 21 kann mit nur der Hälfte der heutigen Gleise – also 8 statt 16 – zur Spitzenstunde 49 Züge abfertigen und das bei guter Betriebsqualität.“ Eine der größten Lügen bei diesem Projekt.

Und es geht weiter: Sichtbare Schäden am Mauerwerk des bestehenden Bahnhofs wurden damit erklärt, dass der Bau in die Jahre gekommen sei. Das Stahlgerüst an der Fassade zur Schillerstraße sei dazu da, die Fassade nicht zu beschädigen. Zum großen Loch in der Mitte der Fassade wurde nichts gesagt. Diese Zauberer…!

Bei der Führung wurden auch die vielen neuen Baumstandorte gezeigt, die entstehen sollen. Hieß es nicht bei einer früheren Version der Geschichte, dass ganze 5.000 Bäume neu gepflanzt würden. Jetzt sind es auf jeden Fall nicht mehr als 50, würde ich sagen.

Den größten Zauber gab es zum Brandschutz: In der Bahnhofshalle ist keine Sprinkleranlage vorgesehen. Stattdessen soll auf beiden Seiten des Bahnhofs bei einem Brand – haltet Euch fest – über große Turbinen Frischluft zugeführt werden, um den Rauch durch die Lichtaugen ins Freie zu drücken. Die Feuerwehr, die eine solche Zauberei genehmigt, muss erst noch erfunden werden. Die ersten Einsatzkräfte der Feuerwehr sollen im Brandfall zu Fuß in den Bahnhof einrücken.

Liebe Freundinnen und Freunde, genug der Märchenstunde von der Baustellenführung. An uns prallen diese Lügen ab. Stuttgart 21 ist und bleibt ein Immobilienprojekt für die Immobilienmafia. Mit Stuttgart 21 werden Schienen zurückgebaut. Es werden weniger Züge im Bahnhof verkehren als heute. Stuttgart 21 ist ein Milliardengrab. Stuttgart 21 wird mit dem aktuellen Brandschutzkonzept niemals eine Betriebserlaubnis bekommen. Der 100 Jahre alte Kopfbahnhof mit einem Teil seiner oberirdischen Gleise muss erhalten bleiben – und ich wage zu sagen, der Kopfbahnhof wird auch mit einem Teil der Gleise erhalten bleiben. Der Bahnhof bleibt auch oben!

Am Wochenende konnte ich selbst nicht bei den Feierlichkeiten dabei sein, denn ich war mit meinem Sohn in Mailand. Wir sind am Freitag von Stuttgart aus mit dem Zug über Zürich mit 10 Minuten Umstiegszeit nach Mailand gefahren und gestern wieder zurück.

Wie kann es anders sein: schon beim Losfahren wurde eine Signalstörung angezeigt. 30 Minuten Verspätung und wir waren noch nicht einmal losgefahren. Der Anschluss in Zürich verpasst. Die Reise hat statt 7 Stunden dann insgesamt 9 Stunden gedauert.

Der Kopfbahnhof in Mailand ist ein beeindruckendes Bauwerk. Eine große Glashalle umspannt die vielen Gleise. Das Gebäude – groß und mächtig, inmitten der Stadt. Der Bahnhof in Mailand ist zur selben Zeit entstanden wie unser Kopfbahnhof. Sie sind sich in vielem ähnlich, aber leider nicht mehr in allen Punkten.

Der Bahnhof in Mailand ist noch komplett erhalten, die Bauten und Gleise des Bahnhofs werden eher mehr und nicht weniger. Niemand würde auf die wahnwitzige Idee kommen, diesen historischen und beeindruckenden Bau in Teilen abzureißen, wie es in Stuttgart geschehen ist. Der Bahnhof funktioniert, wurde über die Jahre immer wieder erweitert, und die Züge sind pünktlich. Auf dem Rückweg gestern haben wir den Anschluss in Zürich erreicht. 10 Minuten Umstiegszeit haben ausgereicht.

Liebe Freundinnen und Freunde, seien wir ehrlich: Das Gebäude des Stuttgarter Kopfbahnhofs ist in seiner jetzigen Form nur noch eine Kulisse. Die Seitenflügel amputiert, die große Halle nur noch eine Kulisse. Teile davon zerstört. Nur der Turm steht noch als Symbol.

Die Stadt Stuttgart macht das, was sie am besten kann. Sie reißt sich selbst ab, um anstelle bedeutender Bauwerke gesichts- und seelenlose Gebäude zu erstellen, die schnell und teuer verkauft werden können. Alles nach dem Motto: Kommerz first, Kultur second.

Beim Abriss von Teilen des Kopfbahnhofs und für den Bau der kilometerlangen Tunnel wurden zudem Unmengen an CO2 und grauer Energie verbraucht. Obwohl schon vor der Idee zu Stuttgart 21 die ersten Internationalen Klimaschutzabkommen unterzeichnet waren. Niemand kann sagen, sie hätten es nicht gewusst, dass sie mit S21 das Klima zerstören. Das Motto hierbei: Idiotie first, Vernunft second.

Stuttgart reißt sich seit Jahren ab. Schlimmster Sündenfall ist der Abriss des ehemaligen Kaufhaus Schocken. Eine Gebäude, welches in keinem Buch über Architekturgeschichte fehlt. Schwerwiegend sind aber auch die vielen Abrisse von Alltagsgebäuden in unserer Stadt. Hier ein, zwei oder drei Wohnhäuser, dort ein Büro, ein Einkaufshaus oder eine alte Schule. Im Gemeinderat rufen sie oft: „Weg mit dem alten G‘lump!“

Wider besseren Wissens wird abgerissen und neu gebaut. Klima tagtäglich zerstört. Das ist ein Wahnsinn. Ein Drittel der heutigen CO2-Emissionen werden verursacht durch den Bausektor. Die Stadt Stuttgart hat im Juli den Beschluss gefasst und sogar feierlichst mit Unterzeichnung besiegelt, bis zum Jahr 2035 klimaneutral zu werden. Dieses Papier ist schon heute nichts, aber auch gar nichts mehr wert. Munter wie eh und je wird abgerissen, was das Zeug hält. Würde dieser Beschluss ernst genommen, dann dürften so gut wie kein Gebäude mehr abgerissen werden! Als Architekt möchte ich das betonen: so gut wie jedes Gebäude kann erhalten werden und muss auch erhalten werden!

Ich bin sehr froh, dass vor ein paar Wochen hunderte renommierte Architekt:innen und Stadtplaner:nnen in einem offenen Brief an die Bundesbauministerin ein Abrissmoratorium einfordern. Dort heißt es: „In Deutschland entstehen jedes Jahr 230 Millionen Tonnen Bau- und Abbruchabfälle, was 55 Prozent des gesamten deutschen Abfalls ausmacht. Zudem sagt der aktuelle Emissionsbericht des Umweltbundesamtes: Deutschland ist nicht auf Kurs, seine Klimaschutzziele zu erreichen. Der Gebäudesektor hat zum zweiten Mal in Folge sein Emissionsminderungsziel verfehlt. Um das Sektorziel 2030 zu erreichen, ist eine jährliche Minderung von Treibhausgasemissionen um 5,5 Millionen Tonnen nötig – mehr als das Doppelte als der derzeit erreichte Wert.

Heute, wo die Klimaerwärmung spürbar, die Energieversorgung unsicher und die planetaren Grenzen erreicht sind, ist nicht der Erhalt von Gebäudestrukturen erklärungsbedürftig, sondern ihr Abriss. Die Erhaltung darf sich nicht auf einen kleinen Teil von repräsentativen Denkmälern beschränken, sondern muss den gesamten Baubestand umfassen. Die Zerstörung und der Abtransport von brauchbarem Baumaterial auf die Deponie ist nicht mehr zeitgemäß. Wir fordern ein Abriss-Moratorium: Statt Abriss und Neubau stehen wir für Erhalt, Sanierung, Umbau und Weiterbauen im Bestand.

Jeder Abriss bedarf einer Genehmigung unter der Maßgabe des Gemeinwohls, also der Prüfung der sozialen und ökologischen Umweltwirkungen.“

Wir veranstalten als Fraktion im Gemeinderat zum Thema Abriss und Neubau eine Veranstaltung am Montag 21. November um 19 Uhr im Rathaus. Zugesagt haben schon Vertreter:innen der Stadtklimatologen, der Initiative Abrissmoratorium, von Architects für Future und der Initiative Schoettlerareal.

Wie endet nun das Märchen um den Stuttgarter Kopfbahnhof? Der große Kopfbahnhof wird wieder zum Leben erweckt, mit einigen Blessuren, aber weiterhin als oberirdischer Kopfbahnhof, mit vielen Gleisen, wieder pünktlichen Zügen, mit viel mehr Zügen als heute, selbstverständlich klimaneutral, für eine klimagerechte Mobilitätswende. „…und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“

Liebe Freundinnen und Freunde, lasst uns weiter kämpfen für den Erhalt des Kopfbahnhofs. Lasst uns weiter Oben Bleiben!

Rede von Luigi Pantisano als pdf-Datei

 

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