Die Bundesregierung braucht Druck von unten: ohne Verkehrswende keine Klimagerechtigkeit!

Rede von Bernd Riexinger, Mitglied des Deutschen Bundestags Die LINKE, auf der 640. Montagsdemo am 12.12.2022

Liebe Freudinnen und Freunde,

ich danke euch für die Einladung und freue mich, wieder auf einer Montagsdemo zu reden – schön, dass Ihr da seid.

Stuttgart 21 ist ein Paradebeispiel dafür, wie man Geld sinnlos zum Fenster hinauswerfen kann. Wo jedoch wirklich Geld benötigt wird, kleckert die Bundesregierung, statt zu klotzen.

Wir kämpfen mit vielen Verkehrs- und Umweltverbänden für den massiven Ausbau des ÖPNV, mit kostengünstigen Tickets bis hin zum Nulltarif. Dies ist dringend sozial und ökologisch geboten. Beim ÖPNV und Regionalverkehr wird seitens des Bundes geknausert und auf die Verantwortung der Länder und Kommunen verwiesen. Ohne den massiven Ausbau des ÖPNV – damit mehr Menschen vom PKW auf Busse und Bahnen umsteigen – wird der Verkehrssektor auch weiterhin die Klimaziele krachend verfehlen. Wir brauchen einen Ausbauturbo für den ÖPNV, damit jede und jeder von A nach B kommt, auch im ländlichen Raum, auch am Wochenende.

Deshalb müssen die Regionalisierungsmittel, mit denen sich der Bund an der Finanzierung des ÖPNV beteiligt, deutlich erhöht werden. Angesichts der Dramatik der Klimakrise ist zu wenig Geld für den ÖPNV die teuerste Variante.

Deutschland ist im Ranking beim Klimaschutzindex zurückgefallen. In den Punkten erneuerbare Energie, Energienutzung und Klimapolitik reicht es nur für ein „mäßig“. Hauptgründe für die insgesamt schlechtere Bewertung sind „der verlangsamte Ausbau von erneuerbaren Energien und der hohe Anstieg der Emissionen im Verkehrssektor“.

Das ist weder klimagerecht noch sozial. Wir wissen doch, dass es die Menschen mit geringen und mittleren Einkommen sein werden, die am meisten unter den Auswirkung des Klimawandels leiden.

Das scheint jedoch keinerlei Konsequenzen zu haben. Der jetzige Ansatz der Regionalisierungsmittel für 2023 ist viel zu gering. So wird die selbsternannte Fortschrittskoalition, die in ihrem Koalitionsvertrag gesetzten Verkehrsziele nie und nimmer erreichen, von den Klimazielen ganz zu schweigen.

Im Koalitionsvertrag steht: „Wir wollen Länder und Kommunen in die Lage versetzen, Attraktivität und Kapazitäten des ÖPNV zu verbessern. Ziel ist, die Fahrgastzahlen des öffentlichen Verkehrs deutlich zu steigern.“ Auf der Schiene soll der Personenverkehr verdoppelt werden.

Mal abgesehen davon, dass die Ziele klimapolitisch zu unkonkret und wenig ambitioniert sind, ist es ein Witz zu glauben, dass sie mit jahresdurchschnittlich nicht mal 1,8 Milliarden Euro zusätzlich erreicht werden können. Gebraucht würden mindestens 8,5 Milliarden Euro mehr, wie es die Linke gefordert hat und viele Verkehrsverbände anmahnen. Außerdem braucht es für eine Verkehrswende mehr Personal, bessere Bezahlung, bessere Arbeitsbedingungen. Sonst wird die Verkehrswende schon am latenten Personalmangel scheitern. Die DB hat zwar 25 000 Stellen ausgeschrieben. Genauso viele, wie den Konzern altershalber und durch Fluktuation verlassen. Es müsste eigentlich einleuchten, dass eine Verdoppelung des Verkehrsaufkommens nicht mit der gleichen Personalstärke zu erreichen ist.

Ich kann als Bundestagsabgeordneter Fragen an die Bundesregierung stellen. Ich will euch eine Frage mal vorlesen, die ich gestellt habe:

„Wie bewertet die Bundesregierung die Einschätzung des Umweltbundesamtes, dass für den ÖPNV die Regionalisierungsmittel erhöht und mehr Gelder für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz (GVFG) zur Verfügung gestellt werden müssen und der zusätzliche Finanzbedarf dafür bei 11 bis 15 Mrd. Euro pro Jahr liegt (bitte mit Begründung)?“

Gern lese euch auch die Antwort der Bundesregierung vor: „Die Bundesregierung hat die Aussage zur Kenntnis genommen.“ Das war's. Eine Unverschämtheit! Die Bundesregierung lässt sehenden Auges die nötige Mobilitätswende gegen die Wand fahren.

Es ist weiter mehr als seltsam am Haushalt 2023, dass die schon versprochenen Gelder für das 49-Euro-Ticket nicht drinstehen. Dazu kommt, dass die 1,5 Milliarden Euro seitens des Bundes völlig unzureichend sind und der Bund sich der Finanzierung etwaigen höheren Mindereinnahmen verweigert. Ein einziges Trauerspiel.

Wir sind unbedingt für kostengünstigeren ÖPNV bis hin zum Nulltarif. Deshalb haben wir die Initiative für ein 9-Euro-Ticket begrüßt. Schon zu Anfang kritisierten wir jedoch, dass es mutlos war, den Zeitraum für das 9-Euro-Ticket auf 3 Monate zu begrenzen.

Wir schlugen vor: Verlängerung des 9-Euro-Tickets zumindest bis Ende des Jahres. Um die Zeit zu nutzen, mit den Ländern, Verkehrsverbünden und auch mit Gewerkschaften und Umweltverbänden ein dauerhaftes vernünftiges Finanzierungskonzept für kostengünstige ÖPNV zu verstetigten. Wir warnten davor, dass ab September die Preise für Busse und Bahnen über das Niveau vor dem 9-Euro-Ticket steigen würden. Und es kam, wie es kommen musste.

Die Regierung hat zugelassen, dass diese wichtige Entlastung des 9-Euro-Tickets einfach ausläuft ohne eine direkte Anschlussregelung anzubieten.

Nebenbei bemerkt: AfD und Union waren gegen das 9-Euro-Ticket. Sie wollten nicht nur den Menschen, die auf den ÖPNV angewiesen sind, die dringend nötige Entlastung verweigern – das ist nicht sozial. Sie wollten auch die Chance verbauen, dass mehr Menschen umsteigen – das ist nicht klimagerecht.

Was wir erleben durften, war ein unwürdiges Schauspiel über den Sommer hinweg. Erst wurden alle unsere Vorschläge im Parlament zur Verlängerung des 9-Euro-Tickets und für ein Nachfolgeticket abgelehnt. Das hinderte SPD und Grüne nicht daran, den Sommer über immer wieder gut klingende Vorschläge in den Medien zu verbreiten. Selbst Verkehrsminister Wissing sprach sich für eine Nachfolge aus. Der Kanzler bezeichnet das 9-Euro-Ticket gar als eine der besten Ideen, um es dann im September auslaufen zu lassen. Besonders taten sich die Grünen hervor, die teils den Eindruck hinterließen, dass Sie noch in der Opposition sind.

Wir freuen uns ja, wenn andere plötzlich unsere Ideen für einen kostengünstigen öffentlichen Nahverkehr übernehmen. Doch man musste sich schon fragen, wer regiert hier eigentlich im Bund? Warum setzt die Bundesregierung die vielen wohlklingenden Vorschläge aus den eigenen Reihen nicht einfach um? Das wäre ihre Aufgabe gewesen.

Das 9-Euro-Ticket war ein voller Erfolg. Die Menschen sind bereit, den öffentlichen Nahverkehr zu nutzen. Davon zeugen 52 Millionen verkaufte Tickets. Mit 10% verlagerten Fahrten vom Auto auf den ÖPNV ist es auch ein wichtiger Beitrag zum Klimaschutz. Schätzungsweise 1,8 Millionen Tonnen CO2 wurden durch das 9-Euro-Ticket eingespart. 88% der Nutzerinnen und Nutzer sind mindestens zufrieden.

Dass die Bundesregierung den Weg dann freimachte für eine Nachfolgelösung ist in Ordnung, wenn auch reichlich spät. Zum 1.1.23 wird es nichts. Vielleicht zum 1.4.

Übrigens, das 9-Euro-Ticket wurde innerhalb von etwas mehr als 2 Monaten an den Start gebracht. Es ist einfach unverständlich, dass die Umsetzung einer verspäteten Nachfolgeregelung solange auf sich warten lässt. Das 49-Euro-Ticket ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung, aber leider wieder nur ein halbherziger. Es ist eine Verbesserung für viele, die jetzt schon regelmäßig den ÖPNV nutzen. Es ist aber zu weit vom 9-Euro-Ticket weg, um viele Autofahrer*innen zum Umstieg in den ÖPNV zu bewegen. Genau das müsste aber das Ziel sein. Enttäuschend ist, dass keinerlei soziale Komponente eingebaut wurde. Es hätte doch nicht die Welt gekostet, Menschen ohne oder mit geringem Einkommen ein 29-Euro-Ticket anzubieten oder gar einen Einstieg in einen kostenfreien Nahverkehr. Das wäre klimapolitisch richtig und zugleich sozial. Außerdem wird es Millionen Menschen ausschließen, wenn es das Ticket nur in digitaler Form und im Abo gibt.

Um das Versagen zu kaschieren, eine nachhaltige Verkehrswende auf den Weg zu bringen, werden andere Verkehrsprojekte gefeiert. Meistens damit, dass durch Hochgeschwindigkeitsstrecken Zeit eingespart wird. Das trifft jedoch nur auf die Direktverbindungen zu. Häufig geht die eingesparte Zeit dann beim Umsteigen wieder verloren. Die Betrachtung der Reisekette relativiert den Nutzen von Schnellfahrstrecken erheblich, wenn kein schlüssiges Taktknotenkonzept zugrunde liegt.

Am Stuttgarter Flughafen protzt die DB z.B. mit einer Fahrtzeit von 8 Minuten ab Hauptbahnhof, vergisst aber einzurechnen, dass man für das Verlassen der Station und den Fußweg zum Flughafenterminal nochmals 10 Minuten veranschlagen darf. Mit einer Expresslinie der S-Bahn wären 18 Minuten schon heute fahrbar, man würde am Terminal direkt ankommen, ohne den weiten Fußweg vom Messebahnhof. Das will man aber nicht, denn sonst könnte man den Schein-Nutzen nicht groß in der Öffentlichkeit verbreiten.

Bespiel zwei: Bis zum 10. Dezember fahren noch die durchgehenden RE-Züge Stuttgart – Lindau (Reutin) in 2 Stunden 54 Minuten. Ab nächsten Sonntag geht’s nicht mehr durchgehend von Stuttgart nach Lindau; dafür bis Friedrichshafen Stadt, wo man dann in einen Nahverkehrstriebwagen (vermutlich 650?) umsteigen muss. Die Fahrt mit ihren acht Zwischenhalten dauert dann 3 Stunden 3 Minuten. Faustregel: Wenn die Bahn kommuniziert, muss man immer fragen, was sie nicht sagt. Da liegt in der Regel der Hase im Pfeffer.

Lasst mich noch eine letzte Anmerkung machen: Zur Zeit wird die Letzte Generation nicht nur heftig kritisiert, sondern auch kriminalisiert, weil sie sich auf Autobahnen oder Flughäfen ankleben und damit für einzelne Verzögerungen sorgen. Die CDU warnt sogar vor einer neuen Klima-RAF.

Einmal davon abgesehen, dass es einzelne Grüne und SPD-Politiker gibt, die mit der Friedensbewegung in Mutlangen Militärtransporte blockiert hatten und heute im Bundestag sitzen, müssen wir doch über den Begriff kriminell diskutieren. Ich habe im Verkehrsausschuss gesagt, dass ich es für kriminell halte, wenn die Regierenden nicht die von ihnen selbst beschlossenen und vom Bundesverfassungsgericht verschärften Klimaziele einlösen und die Zukunft der jungen Generation aufs Spiel setzen. Was ist dagegen die Blockade einer Autobahn, bei der dann einige Autofahrer verspätet zum Ziel kommen. Staus gibt es haufenweise, auch ohne Blockade.

Eines ist doch klar: Diese Bundesregierung braucht Druck. Von allein wird Sie keine vernünftige Mobilitätswende umsetzen. Machen wir gemeinsam Druck!

Vielen Dank für Eure Aufmerksamkeit.

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Eine Antwort zu Die Bundesregierung braucht Druck von unten: ohne Verkehrswende keine Klimagerechtigkeit!

  1. Alexander Abel sagt:

    Wasserversorgung ist Öffentliche Daseinsfürsorge (ÖD)!
    Überall, wo Gegenstände der ÖD privatisiert, d.h. dem Profitstreben von Kapitalisten ausgesetzt wurden, funktionieren sie nicht mehr reibungslos + sind kaum noch bezahlbar.
    Versucht mal, in S-Ostheim auch nur an eine Briefmarke zu kommen. Das kann – ohne die Wegzeiten – schnell mal eine Stunde in Anspruch nehmen.
    Was für Wasser, elektrische Energie, Postdienstleistungen gilt, gilt – gell Herr Riexinger – auch für die Eisenbahn bzw. für den
    gesamten Öffentlichen Verkehr.
    85 Minuten habe ich kürzlich für die 16km von S-Ostheim nach WN-Neustadt gebraucht.
    Mit dem Auto brauche ich dafür 20 Minuten.
    Arno Luik hält die Eisenbahn auf ganzer Front
    für irreparabel verrottet, und ich sehe das ebenso.
    Mit einer handvoll „kleiner Münzen“ – damit meine ich Herrn Riexingers Forderung nach Erhöhung der Regionalisierungsmittel – ist die Schieneninfrastruktur jedenfalls nicht wieder-
    herzustellen.
    Dazu bedürfte es eines Militär- + S21- + Strassenbau-Etats, + Jahrzehnte braucht das auch, bis noch in Betrieb befindliche Strecken saniert + stillgelegte rekonstruiert + reaktiviert sind.
    Und ein 49- oder sogar 9-€-Ticket nutzt nichts,
    wenn die Kapazitäten fehlen.
    Ich wiederhole meine Forderung, dass sämtliche Gegenstände der ÖD zu sozialisieren und nach den Grundsätzen der Gemeinnützigkeit zu bewirtschaften sind! –
    Herr Riexinger, es ist für mich nicht nachvollziehbar, wie man von „Klimagerechtigkeit“ + im selben Atemzug von der Bahnbedienung des Flughafens reden kann.
    Der Flugverkehr ist das zweitschmutzigste Klimaschwein nach der Bundeswehr&NATO.
    Wenn wir Klimaschutz wollen, müssen wir als erste die schmutzigsten Klimaschweine schlachten.-
    Noch ein Nachtrag zu der NBS Wendlingen-Ulm:
    Mir fehlten in allen Reden darüber Ideen / Vorschläge für alternative Streckenführungen.
    Auf 2 Gleisen Plochingen-UL kann man keine „Verkehrswende“ (Definition?) verwirklichen.
    Ich sehe das Problem auch nicht in der Strecke
    sondern in den „hochentzündlichen“ Siemens-Fahrzeugen.
    Von den frz. Alstom-TGV ist noch keiner in Brand geraten, und die immer als Vorbild hingestellten Schweizer vertrauen auf den „Giruno“ von Stadler.
    Auch von den S-Bahn-Baureihen 420,423,430, die
    nach Vaihingen hinauf +40o/oo überwinden müssen, ist noch keiner in Brand geraten.
    aabel-s@gmx.de

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