Warum demonstrieren die denn immer noch? Oder: Wer reitet hier eigentlich ein totes Pferd?

Rede von Dr.med Dipl.-Psych. Angelika Linckh, Capella Rebella, auf der 673. Montagsdemo am 28.8.2023

Meine Damen und Herren, liebe Freund*innen,

zum 673. Mal kommen wir jetzt montags hier zusammen, und ich bin sicher nicht die einzige, die ständig gefragt wird: „Was? Ihr demonstriert immer noch?“ Erst letzte Woche war der Südwestrundfunk hier bei uns auf dem Schlossplatz, hat viele von uns interviewt und die erste Frage an mich war: „Warum demonstrieren Sie immer noch, wo der Bahnhof doch in zwei Jahren fertig und eröffnet sein wird?“

Dieses „Der-Käs-ist-gegessen“-, „der-Drop-ist-gelutscht“-, „die-Katz-ist-den-Baum-nuff“-Geschwätz kennen wir alle nur allzu gut. Und diese verbiesterten Fragen „Wieso hört ihr nicht endlich auf?“ kommen ja nicht nur von außen, sondern wir stellen sie uns selbst auch manchmal. Mit diesem inneren Widerstreit will ich mich in den nächsten 10 Minuten beschäftigen. Mit dieser inneren Stimme, die mich fragt: „Reiten wir hier inzwischen nicht ein totes Pferd?“

„Wenn Du merkst, dass Du ein totes Pferd reitest: steig ab!“ Dieser Spruch soll angeblich von den Dakota-Indianern stammen. Mir scheint schon die Zuschreibung fragwürdig, denn die Dakota wären als Ureinwohner Amerikas, als Volk, das mit der Natur lebte, nicht auf die Idee gekommen, ein Pferd so lange reitend zu schinden, bis es tot ist. Geschunden und getötet wurden vielmehr sie – 1890 beim Massaker der US-Armee am „Wounded Knee“, dem letzten großen Kampf der Indigenen gegen die Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen und ihrer Kultur, Schlusspunkt des Genozids an der indigenen Bevölkerung der Great Plains östlich der Rocky Mountains.

Die angebliche Dakota-Weisheit stammt doch wohl eher aus dem Labor von politischen PR-Agenturen oder Unternehmensberatungen. Denn sie soll eine Botschaft sein an alle, die sich nicht widerstandslos den herrschenden Vorstellungen von „Fortschritt“ beugen wollen, ob in einem Betrieb, wo McKinsey Personal weg rechnet, ob in einer Verwaltung, an die Ernst & Young den Rotstift ansetzt; und auch zivilgesellschaftlichen Oppositionsbewegungen wie uns Stuttgart-21-Gegner*innen wollen sie damit sagen: „Gebt auf! Es lohnt nicht! Fügt euch! Ihr reitet ein totes Pferd!“

Ich habe mich dann gefragt: Reiten tatsächlich wir ein totes Pferd? Hört das tote Pferd nicht in Wirklichkeit auf den Namen „Stuttgart 21“? Die Argumente seiner Reiter, warum sie dem Desaster nicht endlich ein Ende machen und Ab-, genauer: Umsteigen, entbehren jedenfalls nicht einer gewissen Ironie: Nein, wir steigen nicht ab, sagen sie, so haben wir das Pferd doch schon immer geritten, wir wechseln aber den Futter-Lieferanten und vergrößern die Futterration für das tote Pferd. Das passiert seit 15 Jahren ohne Unterlass – die Futterkosten für das tote Pferd werden vervielfacht. Von einst 2,3 Milliarden auf inzwischen 12 Milliarden.

Absteigen kommt nicht in Frage, sagen sie, wir verklagen das Pferd jetzt aber auf Beteiligung an den explodierenden Mehrkosten und fordern Schadensersatz wegen Nichterbringung einer zugesicherten Leistung!

Nein, Absteigen vom toten Pferd Stuttgart 21 wäre kontraproduktiv, sagen sie, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die darauf hinweisen, dass das Pferd tot ist, müssen als Bedenkenträger gemaßregelt werden!

Wir zahlen vielmehr den Reitern eine Leistungsprämie, um die Motivation zu erhöhen – also wurde das Gehalt von Bahnchef Lutz nahezu verdoppelt. Und wir stellen linientreuen Reitern auch weiterhin Beförderungen in Aussicht: die Zustimmung zu Stuttgart 21 hat doch immer schon viele Karrieren und lukrative Pöstchen gesichert!

Liebe Freund*innen, diese Figur vom „toten Pferd“, von dem man absteigen soll, ermöglicht beliebig viele ironische Bezüge zum Verhalten der Projektbetreiber von Stuttgart 21 – die mich bei der Vorbereitung der Rede sehr zum Lachen gebracht haben.

Sie hat aber, ich betone es noch einmal, aus deren Mund eine ganz und gar ironiefreie Funktion: sie ist eine Art Täter-Opfer-Umkehr und soll uns den Mut und den Widerstandsgeist nehmen.

Deshalb habe ich mich weiter gefragt: Was kann ich, was können wir diesen Entmutigungsversuchen entgegen setzen, um uns davon nicht beeindrucken und schwächen zu lassen? Was macht den Wert unserer wöchentlichen Proteste aus?

Wir kommen Montags nicht zusammen in der Erwartung, dass unsere Kundgebungen die Verantwortlichen zu Baustopp und Umstieg zwingen könnten. Wir haben keine direkte und absolute Erfolgserwartung. Denn wir wissen, dass es Massen-Protestbewegungen ganz anderer Größenordnung braucht, um von unten wirkliche Richtungsänderungen zu erzwingen. Aber wären wir nicht auf der Straße, dann hätten die Klima- und Stadtzerstörenden, die Verkehrswende-Blockierenden völlig freie Bahn. Freie Bahn für Verschleierung und Greenwashing und keinerlei Rechtfertigungsdruck mehr. Kein SWR käme, um wenigstens Fragen zu stellen.

Wir sind als Teil der Recht-auf-Stadt-Bewegung, als Teil der Verkehrswendebewegung, als Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung ein wichtiger Faktor in dieser Stadt. Wer von unseren Bündnispartnern bringt schon jede Woche mehrere hundert Menschen bei jedem Wetter zu einer Protestkundgebung zusammen? Und dieses Durchhaltevermögen strahlt weit über Stuttgart aus, auch wenn wir das selbst gar nicht immer wahrnehmen.

Würden bekannte Persönlichkeiten wie die Verkehrsplaner Prof. Heiner Monheim oder Prof. Hermann Knoflacher Stunden im Zug verbringen, um bei uns zu sprechen – wenn sie uns nicht schätzten?

Würde die wichtigste Umweltschutzorganisation der Republik, die Deutsche Umwelthilfe (DUH) und ihr Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch mit uns kooperieren und bei uns sprechen, wenn sie uns für irrelevant hielten? Ich meine, das sollte uns bewusst sein und selbstbewusst gesagt werden!

Nein, wir geben Mut und sind Bezugspunkt für außerparlamentarische Initiativen von Hamburg bis Rosenheim. Und nicht zuletzt werden wir dafür geachtet, dass unser berechtigter Protest humanistische und soziale Grundsätze hat und wir den berechtigten Protest deshalb nicht den rechten Populisten überlassen!

Selbstverständlich kann ich nicht sagen, warum Ihr hier alle steht. Aber ich kann sagen, was mich bewegt, immer und immer wieder mit euch hier montags zu stehen. Es sind nicht nur die politischen Gründe, die auf der Hand liegen, sondern auch ein paar grundlegende persönliche Dinge: Ich bin von Kind an geprägt von der Ehrfurcht vor Bäumen – die brutale Zerstörung des Mittleren Schlossgartens kann und werde ich nie vergessen, nie verzeihen. Und ich liebe schon immer funktionierenden Bahnverkehr. Mein Großvater war Bahnhofsvorsteher in Hamm/Westfalen, meine Mutter ist im Bahnhofsgebäude aufgewachsen, und wir beide lieben Bahnfahren bis heute.

Und dazu kommt mein starkes Bedürfnis nach Wohlbefinden, nach Gerechtigkeit, nach Wahrhaftigkeit und: ja, nach Glück. Und es ist meine große Empörung, wenn all diese Bedürfnisse verletzt werden oder mir all das genommen werden soll, was ich wertvoll finde. Dann wehre ich mich, dann empöre ich mich. Zorn fühlt sich für mich allemal besser an als einfach erduldeter Schmerz angesichts der Sabotage an der Verkehrswende, angesichts der Klimaschädigung, der Stadtzerstörung durch Stuttgart 21!

Stuttgart 21 ist in jeder Hinsicht eine einzige Verletzung all dieser urmenschlichen Bedürfnisse. Die politisch Verantwortlichen trampeln seit 15 Jahren darauf herum und lamentieren heute darüber, dass das Vertrauen in Politik und Staat auf einen historischen Tiefpunkt gesunken ist.

Mein Fazit heute heißt: Das Tote Pferd heißt Stuttgart 21! Nicht wir reiten ein totes Pferd, sondern die Anhänger*innen des fossilen, toxischen „Weiter So!“, das Stuttgart 21 so deutlich verkörpert wie kaum ein anderes Bauprojekt.

Ob ETCS, Digitaler Knoten Stuttgart oder Pfaffensteig- und andere Zusatztunnel: sie sind alle gleichzeitig das Eingeständnis, dass der Tunnelbahnhof von Anfang an nichts als ein zerstörerisches Projekt war, um Konzernen öffentliches Geld in die Taschen zu spülen. Und sie werden heute als „Optimierungen“ eines Murks-Projekts verkauft, als letzte große Anstrengungen auf der Zielgeraden, um das blinde Weitermachen zu rechtfertigen.

Doch tatsächlich sind sie nichts anderes als der Weg in die nächste Runde der zerstörerischen Endlosschleife. Denn das Klima lässt nicht mit sich verhandeln! Und was teilen die Reiter des toten Pferdes der staunenden Öffentlichkeit mit: Wir ändern die Kriterien, die besagen, ob ein Pferd tot ist! Und wir haben doch eine Task-Force, mit der das tote Pferd wiederbelebt werden wird: den Lenkungskreis!

Liebe Freund*innen, dass wir uns dem in den Weg stellen und nicht aufhören mit unseren Versuchen, die passive Ablehnung des Projekts durch breite Teile der Stadtgesellschaft in aktiven Protest zu verwandeln, das zeichnet uns aus. Und das beantwortet die Frage „Warum demonstrieren die denn immer noch?“:

Weil es sein muss!

Weil Stuttgart 21 beendet werden muss und weil es Alternativen gibt!

Weil das Klima nicht mit sich verhandeln lässt!

Weil es UNSERE Stadt ist!

So schwierig es scheint, so einfach ist das! Deshalb bleiben wir oben, beieinander, und auf der Straße! Ich danke euch!

Rede von Angelika Linckh als pdf-Datei

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2 Antworten zu Warum demonstrieren die denn immer noch? Oder: Wer reitet hier eigentlich ein totes Pferd?

  1. Alexander Abel sagt:

    Das Pferd ist mitnichten tot, es lebt, wächst + wird immer bedrohlicher.
    Das Problem mit den Demos dagegen ist nur, dass gerade die gleichgültigen, ignoranten Mitbürger*innen, die es am nötigsten hätten,
    sich einen Dreck um das Pferd scheren.
    Wenn die dann eines Tages in dem U-Haltepunkt auf das Pferd warten, und es fährt brennend ein, werden die in den letzten Minuten ihres Lebens die Gefährlichkeit des höchst lebendigen Pferdes erkennen.
    Auf den Kommentar des SWF bin ich dann gespannt.

  2. Liebe Angelika,
    es war eine wunderbare ehrliche und engagierte Rede von dir. Und ich werde nach meinem Auftritt am 21.08.23 mit Spannung alle weiteren Ereignisse bei euch verfolgen. Auch mache ich mir ständig – neben meinem Job und anderen Aktivitäten wie Windräder bauen – was kann ich noch beitragen um S 21 zu stoppen.
    Weiter so und oben bleiben.
    Herzliche Grüße Ulrich

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