Rede von Michael Becker, Kernen 21, auf der 679. Montagsdemo am 9.10.2023
Guten Abend,
schön, dass Sie sich heute hier in Stuttgart so zahlreich versammelt haben, um sich für den Erhalt des bestens funktionierenden Bahnknoten Stuttgart einzusetzen.
Vor zwei Wochen hat eine Delegation von S21-GegnerInnen anlässlich der DB-Aufsichtsratssitzung vor dem Berliner Bahntower demonstriert. Halt – da war doch was – nein, nicht direkt vor dem Bahntower, sondern vor einem Nebengebäude, das als Interimsquartier dient, denn das erst im Jahr 2000 eröffnete Areal muss wegen massiver Bauschäden kernsaniert werden und wird ausgebeint. Holzbretter statt klarem Durchblick, ein Sinnbild für den Zustand der Deutschen Bahn.
Auf der Sitzung wurde dann unter anderem beschlossen, die bisherigen Bahntöchter DB Netze und DB Station&Service zu einer gemeinwohlorientierten Infrastrukturgesellschaft unter dem Namen InfraGO zu verschmelzen. Diese InfraGO ist nichts Halbes und nichts Ganzes und wird der eigentlichen Aufgabe der Daseinsfürsorge für alle BahnfahrerInnen in Deutschland nicht gerecht werden. Neben vielen kleineren Webfehlern gibt es auch einen echten Brocken: Die InfraGO bleibt unter dem Dach der Bahn AG. Wie die Weisungsbefugnis des DB Vorstandes gegenüber der InfraGO aussehen soll, ist unklar. Thomas Wüpper titelte in der StZ vom 26.09.23: „Bahn behält bei InfraGO das Sagen“.
Das Bündnis „Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene“ hat am 28.09.23 zur Bildung der InfraGO eine umfassende Pressemitteilung herausgegeben, die ich Ihnen zu lesen empfehle und aus der ich nun auszugsweise den Sprecher, Prof. Heiner Monheim, zitieren möchte: „Für die Sanierung der Bahninfrastruktur des gesamten Bahnnetzes und nicht nur weniger Korridore des Kernnetzes bedarf es einer gemeinnützigen, nach politischen Vorgaben geführten und vom DB-Konzern unabhängigen Infrastrukturgesellschaft, deren Priorität die Wiederherstellung einer für das Ziel der Verkehrswende ausreichenden Bahninfrastruktur auch in der Fläche sein muss. Die Infrastruktur muss nach der Maßgabe eines Betriebs nach der Vorgabe ‚Takt vor Tempo‘ gestaltet werden.
Diese Gesellschaft muss klar vom DB-Konzern abgetrennt sein und von einem unabhängigen Management aus Eisenbahnfachleuten geführt werden. Die jetzt vorgestellten Pläne werden leider an der Fehlorientierung der ‚Generalsanierung‘ genannten Fokussierung der Infrastrukturerneuerung auf wenige Hochleistungskorridore nichts ändern. Die erweiterte Infrastruktursparte der Bahn muss auf das Ziel Verkehrswende und klimaneutrale Verkehrsentwicklung festgelegt werden und dafür finanziell ertüchtigt werden.“
Und das heißt eben keine scheinbar prestigeträchtigen, dekadenten Protzbauten, die nach wenigen Jahren den Geist aufgeben und aufwändig saniert werden müssen. Das heißt auch, aus Fehlern lernen und sie nicht wiederholen – und somit auch keine zu enge und zu kleine Tiefbahnhaltestelle Stuttgart 21.
Paradoxerweise hat die Bahn das für den erst 2006 eröffneten Berliner Hauptbahnhof erkannt und möchte ihn vergrößern. Zwei Aussagen vom Bahn-Bevollmächtigten für Berlin und Brandenburg, Alexander Kaczmarek, aus dem Berliner Tagespiegel finde ich dabei bemerkenswert. Zu den schmalen Bahnsteigen fällt ihm auf: „Wenn die Reisenden dort mit den Koffern stehen, ist es schon sehr eng. Wolle man die Zahl der Fahrgäste verdoppeln, so müssten demnach entweder zusätzliche Ausgänge für eine schnellere Leerung der Bahnsteige gebaut werden oder die dortigen Flächen vergrößert werden.“ Diese Erkenntnis allein ist schon ein Ausschlusskriterium für den geplanten Tiefbahnhof, denn beides geht bei „Onde Naiquetscht 21“ nun mal eben nicht.
Beim Berliner Hauptbahnhof, da oberirdisch, wären Vergößerungsbaumaßnahmen zwar unter erheblichen Verkehrseinschränkungen generell möglich, waren bisher aber auch ein Urheberrechtsproblem mit dem inzwischen verstorbenen Architekten Meinhard von Gerkan. Dazu Alexander Kaczmarek: „Trotzdem muss der Bahnhof ja funktionieren. Das ist letztlich eine Verkehrsanlage und kein Kunstwerk. Da müssen wir nach Lösungen suchen.“
Wir haben die Lösung schon gefunden: keine zu enge, zu tiefe Schrägbahnhaltestelle Stuttgart 21. Sofortiger Baustopp jetzt!
So ganz nebenbei bemerkt, der neue Berliner Hauptbahnhof ist nicht nur zu klein, sondern in Teilen auch schon kaputt: von der Zulaufbrücke über den Humboldthafen bröckelt der Beton, Tragwerksteile sind verrostet, eine umfangreiche Sanierung verhindert den Bau der darunter verlaufenden S-Bahn-Strecke mit der Nummer – S21.
Warnweste statt Talar, Bauhelm statt Mitra, so wurde der Besuch von 19 Bischöfen und dem Seelsorger Diakon Peter Maile auf der S21-Baustelle am 26.09.23 in der Stuttgarter Zeitung betitelt. Nach der Besichtigung verstieg sich Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz, sogar zu der Aussage: Stuttgart 21 sei „die Kathedrale der Züge“. Bei dem Bild der 19 Würdenträger unter dem schummrigen Licht der Glubschaugen sind mir spontan andere Titel durch den Kopf geschossen, wie etwa: „Vertuscher im Darkroom“ oder „Verschwender unter sich“. Schließlich kommt Bätzing ja aus Limburg, wo sich sein Vorgänger für 31 Millionen Euro eine Dienstwohnung hat bauen lassen. Wie dem auch sei, ich finde es ganz schön vermessen von den hohen Herren, sich derart über ein Projekt zu äußern, das so ganz und gar nicht christlichen Werten entspricht.
Ihr Bischöfe, wo wart ihr, als am 30.09.2010 hunderte Bürger durch einen illegalen Polizeieinsatz mit Pfefferspray, Knüppeln und Wasserwerfern für den Bau der Kathedrale attackiert wurden? Habt ihr euch um die verletzten Seelen gekümmert? Wo wart ihr 2020, als sich dutzende Tunnelarbeiter in viel zu engen Unterkünften mit Corona infizierten? Habt ihr bei der Bauleitung für eine angemessene Unterbringung protestiert? Oder gar gefordert, dass die gesetzlichen Bestimmungen zum Mindestlohn eingehalten werden? Nicht einmal, als die göttliche Baustelle gegen kirchliche Gesetze wie die Sonntagsruhe verstoßen hat, wurdet ihr vorstellig. Einen Dienst an der Schöpfung habt ihr mit eurer unkritischen Tiefbahnhofshuldigung auf jeden Fall nicht getan.
Vielleicht war das Rumstiefeln auf der staubigen Baustelle für die Bischöfe aber auch nur eine willkommene Ablenkung, um nicht daheim in ihren Diözesen im Sumpf der nicht enden wollenden Vertuschungsskandale um sexualisierte Gewalt durch kirchliche Würdenträger waten zu müssen.
Wenn sie das nächste Mal nach Stuttgart kommen, lade ich sie herzlich ein, bei der Mahnwache vorbei zu gucken und anschließend das von den TheologInnen gegen Stuttgart 21 veranstaltete Parkgebet im Schlossgarten an der Lusthausruine zu besuchen. Die nächste Gelegenheit dazu ist am 19. Oktober um 18.15 Uhr.
Das wird ihnen sicherlich Erleuchtung bringen – Erleuchtung, die wir schon besitzen, denn wir wissen: wahre Kathedralen baut man nicht im Keller, sondern oben!