OBEN BLEIBEN – JETZT ERST RECHT

Rede von Tom Adler, Demoteam, auf der 771. Montagsdemo am 1.9.2025

Liebe Freund*innen,

geht es eigentlich auch euch so: manchmal merke ich, dass man müde wird, das 1000mal Gesagte noch ein weiteres mal zu sagen – und wir sagen es doch immer wieder, auch wenn es sich manchmal anfühlt wie Asche in unserem Mund.

Der September 2025 – ein Monat voller emotionaler Erinnerungen: Die Mahnwache hält tapfer seit 15 Jahren die Stellung. Der 15. Jahrestag des Schwarzen Donnerstags ist in Sichtweite. Und am heutigen Antikriegstag jährt sich der Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen, daran erinnert die Veranstaltung drüben am Mahnmal.

Es gibt so viele bedrückende Nachrichten über Brandherde an allen Ecken der Welt, die schon genug deprimieren, und dann fehlt einem gerade noch die Pressemeldung, dass angeblich der Pfaffensteigtunnel im Bundeshaushalt finanziert sei.

Was bringt uns dennoch wieder jede Woche hier zusammen auf dem Schlossplatz? Was motiviert uns dazu?

  • Es ist unser über viele Jahre gewachsener Schatz an Wissen, um Tatsachen von Fakenews unterscheiden zu können,
  • es ist diese tiefe Motivation von Menschen, die begriffen haben, dass eine Verkehrswende weg vom Auto nicht nur eine nette Idee, sondern eine existentielle Frage für die Zukunft der Menschen auf diesem Globus ist. Weil jedes verhinderte zehntel Grad Erwärmung zählt,
  • es ist unsere gesammelte Erfahrung mit Gewalt durch Polizei und Staatsmacht, die gegen uns und gegen viele andere eingesetzt wird, um die den Herrenknechten, LBBW-Lenkern, Hoch-Tief und anderen Baufirmen versprochenen Profite aus öffentlichem Geld zu garantieren, mit Knüppeln und Wasserwerfern, gegen die Menschen und ihre Bedürfnisse.

Wir sollten uns beim Erinnern an den 30.9. nichts vormachen: was nach dem 30.9. als „entgleister Polizeieinsatz“ in einem ansonsten intakten Rechtssystem galt, hat sich inzwischen weiter entwickelt und verfestigt zu einem repressiven System:

  • da wird das Tragen des Palästinensertuchs als antisemitische Straftat verfolgt,
  • da wird das Bürgerausspähsystem Palantir auch von der grün geführten Landesregierung für die Polizei gekauft,
  • da werden letzte Woche Friedensaktivist*innen der Aktion „Rheinmetall entwaffnen“ in Köln eingekesselt und 24 Stunden lang schikaniert, und die Losung „Krieg dem Krieg“ wird zum Aufruf zu Gewalttaten erklärt und werden ihre Versammlungen verboten,
  • und in München darf eine junge Frau nicht Lehrerin werden, weil sie Klimaaktivistin ist.

„Wahrlich, wir leben in finstern Zeiten“. Die Regierenden bereiten den Boden auch hier für autoritäre Systeme vor nach bekannten Mustern. Niemand soll glauben, dass wir in einer demokratischen Protest-Komfortzone wären, wo alles besser ist und besser bleibt als in den USA oder in Ungarn!

Aber wir hören trotzdem nicht auf, immer und immer wieder laut zu sagen: Menschen vor Profit! Und da ist auch eine Menge Zorn dabei, wenn die unverfrorensten Lügner bis heute ungestraft davon kommen, die ihren „Big Beautiful Tiefbahnhof“ vermarktet haben.

Wie wir hier stehen, wissen wir: Der Charakter unserer Demos hat sich über die Jahre geändert. Auch viele von uns sind müde, erschöpft oder auch gelähmt von den allgegenwärtigen Krisen und Kriegen, und leider haben sich auch sehr viele zurückgezogen.

Wir haben heute keine Demos, vor deren großer Masse sich die Regierungen fürchten würden wie 2010. Aber wo gibt es die für Politik und Konzerne bedrohliche Massenbewegung momentan überhaupt? Hunderte Milliarden werden in militärische Aufrüstung und Kriegsvorbereitung gesteckt, und sie sollen an der sozialen Infrastruktur weggekürzt werden. Soziale Gegenbewegungen sind dagegen momentan desorientiert und schwach.

Bewegungen sind selten konstant. Wir haben es erlebt: auch von der lebendigen Bewegung „Fridays For Future“ ist nicht viel geblieben.

Da stehen wir doch mit unserem wöchentlichen Protestforum gar nicht so schlecht da – wir sind fast ein Ort der kritischen Stabilität, nicht auszudenken, was wäre, wenn wir die S21-Macher nicht ständig aufs Neue herausfordern würden!

Wir sind auch eine Bewegung, die im Kampf verstanden hat, dass es nicht nur um den „Bahnhof“ geht. Sondern dass es ein „System Stuttgart 21“ gibt, vom Tren-Maya-Projekt über Lützerath und Stuttgart 21 bis zu den zerstörerischen Schnellfahrstreckenprojekten im Susa-Tal und zum Drama der ruinierten Deutschen Bahn.

Uns zeichnet der Wille aus, immer wieder „trotz alledem“ zu sagen. Wir wissen: es braucht neben unserem Engagement externe, nicht von uns erzeugbare Faktoren, die ein Anwachsen von Bewegungen zu Massenbewegung stimulieren.

Die 100.000 auf den Straßen gegen Stuttgart 21 damals: auch unser Thema Stuttgart 21 war gleichzeitig eine Projektionsfläche für alle Unzufriedenheiten mit der Regierungspolitik – sie war eine Projektionsfläche, die ihre mobilisierende, ihre elektrisierende Anziehungskraft verlor, als Mappus gehen musste und zur öffentlichen Unperson wurde.

Die Stadtbevölkerung von 2025 ist nicht dieselbe wie 2009, 2010, 2011. Unendlich viele sind weg-, viele zugezogen, aufgewachsen mit dem Bauen von S21 – aufgewachsen gewissermaßen mit der „Normalität“ einer unwirtlichen Innenstadt. Wir können nicht erwarten, dass sie das alles wissen und deshalb zu uns drängen. Junge Menschen haben ihre eigenen Themen in ihrer Politisierung. Und natürlich haben die für sie Priorität, gegenüber dem, was „eine Schlacht von gestern“ zu sein scheint.

Dieses elektrisierende Moment, das große Menschenmassen in Bewegung bringt, ist nicht einfach durch einen Willensakt und noch bessere Werbung und Selbstdarstellung erzeugbar. Friedensbewegung, Verkehrswende- und Klimabewegung: alle haben ähnlich schwierige Situationen. Die Zeiten sind so unruhig, die Krisen so vielfältig, dass niemand vorhersagen kann, was in Kürze passieren wird – wann welcher Damm bricht, wo wieder eine neue Protestbewegung ihren Aufschwung nimmt.

Viele der buchstäblich brandgefährlichen Risiken liegen noch vor uns, sie sind aber momentan noch nicht gut für Medienschlagzeilen und Klicks – und deshalb in der öffentlichen Diskussion nicht thematisiert – Brandschutz, Anhydritquellung bei Wasserkontakt, Überflutungen bei Starkregen.

Liebe Freund:innen: Wir auf dem Platz hier sind mit unserem Protest gegen Stuttgart 21 fünfzehn, manche zwanzig Jahre älter geworden. Und wir sind trotzdem noch da! Und wir sind eben absolut nicht von gestern, weil wir gelernt haben, Zusammenhänge zu sehen!

Wir, die hier aktiv geblieben sind, beobachten genau, ob sich neue Situationen ergeben, ob und mit wem wir uns verbünden können, um ein neuer Anziehungspol zu werden. Und es gibt sie immer wieder, diese Verknüpfungspunkte – die wir pflegen müssen! Beziehungen mit Menschen und Initiativen, mit denen wir gemeinsame Sache machen können auch in finsteren Zeiten:

Das Bürgerbegehren „Mehr Bahnhof – mehr Zukunft“ ist so ein Verknüpfungspunkt, so eine Möglichkeit, bei der auch ehemalige Bündnispartner wieder mit uns zusammenarbeiten, um das A2-Gelände frei zu halten für den oberirdischen Gäubahnanschluss, für eine Steigerung des Schienenverkehrs, für eine Bahn, die tatsächlich Menschen aus dem Auto in die Bahn bringt.

Denn A2 ist nicht irgendeine Fläche im Kopfbahnhofs-Areal, sondern die strategische Fläche, um tatsächlich mehr Bahnverkehr Realität werden zu lassen.

Ob dabei ein frischer politischer Wind aus der Glut unter der Asche wieder ein Feuerchen entfachen wird, liegt auch in unserer Hand. Es liegt nicht nur, aber auch in unserer Hand. Wir wissen alle, dass 20.000 Unterschriften bis Mitte Oktober eine Herausforderung sind. Etliche von uns sind schon aktiv am sammeln, manche noch skeptisch.

Diese Herausforderung meistern wir, wenn auch die zurückhaltenden und skeptischen Mitstreiter:innen auf dem Platz aktiv werden und mit Klemmbrett und Unterschriftenliste auf die Wochenmärkte gehen, an die Haltestellen des Schienenersatzverkehrs, in die Nachbarschaften.

Gegen Skepsis hilft, wenn wir uns Folgendes klar machen: dass die Aktion „Bürgerbegehren“ in einer Phase gestartet wurde, in der das Projekt und seine Betreiber in ihrer tiefsten Krise seit Anfang der 10er Jahre sind: ihre Lügen enttarnt, ihre öffentliche Glaubwürdigkeit dahin.

Mit einem erfolgreichen Bürgerbegehren werden wir Panik in ihren Reihen und neue Dynamik für unsere Ziele erzeugen! Denn, ich wiederhole: das A2-Gelände ist das strategische Gelände, das die Autolobby-, die Bau- und Immobilienlobby zubetonieren will, weil es so große Bedeutung für mehr Bahnverkehr im Bahnknoten Stuttgart hat.

Rückenwind haben wir von der ProGäubahnbewegung, dort wird Widerstand auch anhalten, denn die Finanzierung des Pfaffensteigtunnels ist ja noch längst nicht gesichert!

Auch die DUH stärkt uns unbeirrt den Rücken – die DUH! Der agilste und konfliktbereiteste der großen Umwelt- und Klimaschutzverbände!

Rückenwind erwarte ich mir persönlich auch von einer deutlich verjüngten und vergrößerten Links-Fraktion im Bundestag! Und nächstes Jahr im Landtag!

Unser eigenes Engagement für das Bürgerbegehren kann diesen Rückenwind ergänzen und stärken!

Liebe Freund*innen, nutzen wir die kommenden Wochen also! Informiert euch nach der Kundgebung um 19:00 im Rathaus beim Bürgerbegehren-Aktiventreff!

Zeigen wir gemeinsam den Autolobbyisten, den Klima-, Bahn- und Stadtzerstörern: Mit uns ist in dieser Stadt zu rechnen!

Oben Bleiben!

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