Die Nacht im Stuttgarter Schlossgarten

Erlebnisbericht von Robert Schmitz

Die Nacht vom 14.-15. Februar 2012 im Stuttgarter Schlossgarten - das Ende der Baumriesen.
Am 14. Februar 2012, gegen 14:30 Uhr, beladen wir im Hof zum Büro der Parkschützer meinen Kombi samt Anhänger mit Lebensmitteln und der Versorgerausrüstung. Das sind sechs große Warmhaltetöpfe mit Tee, heißem Kaffee, Eintopf und heißem Wasser, acht große Deckelboxen mit Lebensmitteln, Süßigkeiten usw. Ferner ein Zelt, Decken, Planen, viele Kleinteile, drei Biertischgarnituren, ein Freiluft-WC und natürlich die eigenen, persönlichen Gegenstände. Es ist reichlich Material, so dass wir zweimal fahren müssen. Meine Aufgabe ist mit dem sicheren Transport der Dinge klar umrissen. Die Situation ist angespannt, man rechnet kurzfristig mit einer Schließung der Parkzugänge durch die Polizei. Eine Nachricht jagt die andere. Als wir ankommen, ist es schon passiert. Wir schieben die Baken kurzerhand zur Seite. Unser Standort ist zentral bei den Brunnen. Während die einen unter Leitung von Christine alles aufbauen, hole ich mit Andrea die zweite Fuhre mit dampfenden Kochtöpfen ab. Sechs fleißige Helferinnen hatten zuvor Gemüse geschnippelt und H. von der Infooffensive hatte Kartoffeln geschält. Mit den einfachen Möglichkeiten unserer Garagenküche hatte Andrea daraus eine leckere Viersternekartoffelsuppe zubereitet, die noch viel Zustimmung finden sollte. Unser Fahrzeuggespann lassen wir im Park stehen, um - je nach Lage der Dinge - zumindest die wertvolle Ausrüstung wieder mitnehmen zu können. Mit Staunen erlebe ich nun die Improvisationskünste von Christine und Andrea unter Einbeziehung der örtlichen Gegebenheiten am Brunnen, mit seinen Aufbauten und einer Plane mit Spanngurten wird zunächst für die Kocher ein schnee- und regensicherer Unterstand konstruiert. Die Gerätschaften zum Kochen am Grill werden von den beiden Damen natürlich absolut sicher gehandhabt. In die Quere kommen möchte ich ihnen dabei aber lieber nicht. Als mit dem Einsetzen der Dämmerung in unserem „Lokal“, bei Kerzenschein im Schnee, auch noch eine einladende Stimmung erzeugt wird, sind die beiden Damen perfekte und herzliche Gastgeberinnen. Ein illuminiertes Kunstobjekt vor dem Zelt macht zusätzlich auf unseren Versorgerstandort aufmerksam. Im Zelt hinter der Theke stehen drei Frauen, teilen heißen Tee und Kaffee aus und schmieren unentwegt Brote mit veganem Aufstrich. Hut ab vor den Versorgerinnen!
Ab 15 Uhr spielt die phantastische Gruppe „Lokomotive“ mit 28 Trommlern. Sie begleiten uns durch die Nacht und helfen uns, die lähmende Stille zu vertreiben. Die Stimmung im Park ist vergleichbar mit „Warten auf Godot“. Angesichts der ehrwürdigen Bäume, die es hier zu verteidigen gilt, wünsche ich mir allerdings,  dass Godot - in diesem Fall die Polizei und die DB mit ihren Schergen - wie in dem Theaterstück selbst, zwar leibhaftig spürbar wird, aber in Wirklichkeit nie kommt. Es ist ein Verbrechen, wenn diese Bäume tatsächlich gefällt werden sollten und ich glaube es immer noch nicht. Die Esslinger Gruppe hat an den Millenniumbaum Schilder gehängt, auf dem symbolisch ein Mann mit Kettensäge zu sehen ist und an MP Kretschmann ergeht hierbei der Vorschlag, wenn schon nicht versetzt, sondern gefällt werden muss, dann sollte er, um das Verbrecherische an diesem Akt ermessen zu können, den ersten betagten Baum selbst absägen. Er wird ohnehin in die Geschichte der Grünen eingehen als ein Mann, der sich verderben ließ vom Glanz der Macht und seine grünen Ziele mit S21 verraten hat. Wir haben ihn gewählt, um S21 zu verhindern. Nun ist er es, der in dieser denkwürdigen Nacht die Polizei auf uns hetzt, uns mit Strafmandaten überzieht und sogar im eigens eingerichteten Containercamp einsperren lassen will. Perverse, schizoide, abwegige Welt.
Am Abend werden im Park viele Feuer in befestigten Behältnissen entfacht. Die Menschen gruppieren sich um die Wärmequellen, singen Protestlieder, unterhalten sich und machen sich gegenseitig Mut, für den Ernstfall. Wie immer treffe ich Freunde und bekannte Gesichter aus gemeinsamen Aktionen. Wir alle sind unterschwellig sehr bedrückt von dem nahenden Unheil. Ein Stück liebgewordene Heimat und Natur will man uns wegnehmen, ohne zu fragen. Besonders schmerzhaft ist, dass sich dahinter nur gewissenlose Geschäftemacher und die schiere Arroganz der Macht abzeichnen. Das Massaker an den Bäumen - nur ein Opfer, um unseren Widerstand zu brechen? Wer möchte, erzählt von seinem Frust, seinen Erlebnissen bis dahin oder auch ganz Persönliches zum gegenseitigen Kennenlernen. Wir sind in dieser Nacht zusammengerückt, haben miteinander gesungen, gelacht und mit schwarzem Humor den Schmerz über das mögliche Schicksal der Bäume unterdrückt. Ein starkes, gemeinsames Erlebnis, in dem unwirklichen Licht der vielen Feuer, bei dem unser Lachen immer wieder von der Angst und den Verlustgefühlen eingeholt und erstickt wird. Etwas Vergleichbares habe ich nie zuvor erlebt und es wird auch hoffentlich nie mehr vorkommen. Das Leid über den konkreten Verlust an Heimat und Lebensqualität spüre ich beständig und sehr eindinglich in der Brust. Es überdeckt momentan sogar den Verlust an Vertrauen in die Demokratie, die Politiker, allen voran Kretschmann, der versagt hat, aber auch in die staatlichen Organe, Kommunen, Polizei, die Richter und die Gerichte. Den Stuttgarter Neinsagern bei der VA traue ich ohnehin nicht mehr über den Weg. Die Politiker haben schlichtweg versagt, weil zu keinem Zeitpunkt eine echte Verständigung eingeleitet wurde. Man hat die Bürger nur gegeneinander aufgehetzt, statt zu fragen: "Was wollt Ihr und womit könnten beide Seiten leben“? So aber entstand eine Kluft, die uns noch Jahrzehnte trennt und erhalten bleiben wird.
Als die Cops schließlich gegen 2:30 Uhr nachts aufmarschieren, direkt vom Hotel, frisch gestärkt, in gebügelten Uniformen, im Harnisch, bis an die Zähne bewaffnet, mit Schlagstock und Pistole, sind wir teils erschrocken, aber auch erleichtert, dass nun der letzte Akt unseres Widerstandes im Park begonnen hat. Die Hundertschaften der Helmträger rücken im Laufschritt an, bilden zunächst in Abschnitten und dann in einer durchlaufenden Kette einen Kessel, um den ganzen Park zwischen Schillerstraße und Biergarten abzuriegeln. Ebenfalls im Laufschritt werden Hamburger Gitter angeschleppt und zusammengebaut, zu einem geschlossenen Kreis. Das weckt zumindest bei mir Urinstinkte. Sprechchöre mit „Haut ab“ sind zu hören oder „Polizistinnen und Polizisten, Sie sind nur Ihrem eigenen Gewissen verpflichtet, niemand spricht Sie frei bei schändlichen Handlungen gegen die Menschen hier im Park oder gegen die Natur“. Oder: "Die Polizei unterstützt kriminelle und illegale Sachen“. Ein Beamter vom polizeilichen Deeskalationsteam kommt auf mich zu. „Wollen Sie nicht lieber gehen? Mit allem, was Sie sagen, setzen Sie sich ins Unrecht“. Ich ignoriere den Mann und rufe unvermindert an ihm vorbei, weiter in die teils betriebsamen, teils nur dicht an dicht stehenden Beamten hinein. Manchen schaue ich nur gezielt in die Augen, junge unsichere Kerle lasse ich in Ruhe. Andere schreie ich an: „Verlassen Sie unseren Park Richtung Innenstadt, dies ist die letzte Durchsage!“ Oder ganz einfach: „Wenn Sie in zehn Minuten nicht weg sind, hole ich die Polizei!“ Dazwischen Trillerpfeifen und Hörner im ganzen Park, es wird allgemein lauter.
Auf ein unsichtbares Zeichen hin rücken die Polizeireihen Meter für Meter vor. Mit monotonen Lautsprecherdurchsagen von Übertragungswagen, Leuchtschrifttexten und grellem Flutlicht aus Kompressorwagen werden wir psychisch traktiert. Schließlich finde ich mich wieder bei den Versorgern und frage nach, was sie zu tun gedenken, wenn die Polizisten gleich da sind. Und was passiert mit dem ganzen Zeug um uns herum? Das Wichtigste sind die Thermotöpfe und die sind schon im Anhänger. Alles andere bleibt zurück. Wir schließen uns gleich der Moderatorengruppe an. Bass erstaunt stelle ich fest, dass offenbar Hunderte von Euro als verloren eingestuft und zurückgelassen werden müssen. Das widerstrebt meiner schwäbischen Seele, so was ist mit mir nicht zu machen. Weil mein Fahrzeug inzwischen jenseits der Polizeilinien steht, gibt es zu Recht die Befürchtung, dass man zwar rauskönnte, aber anschließend nicht mehr hereinkommt. Im Bereich meines Fahrzeuges frage ich mich zum örtlichen Leiter durch. Er klärt die Lage: Die Polizeilinie wird in einer Gasse - für eine vereinbarte, kurze Zeit - hinter unser Fahrzeug verlegt, um ungehindertes Beladen und den Abtransport der Versorgerutensilien zu ermöglichen, ohne dass die Beteiligten gleich kassiert werden. Mit dieser Nachricht komme ich zu den Moderatoren und ermutige auch diese zum Abtransport ihrer Ausrüstung und unserer Sachen, wie Bänke, Tische, Lebensmittel, Thermoskannen, Zelt usw. Auch hier erkläre ich einem Beamten die Situation und wir tragen das Zelt noch aufgeschlagen zehn Meter weg, um für den Abbau bei vorrückender Polizeilinie Zeit zu gewinnen. Es haben zehn Leute mitgewirkt und am Ende ist das gesamte Material, zwar mehr schlecht als recht, aber gesichert in meinen Fahrzeugen verstaut. Ausnahmslos alle gehen zurück in den Park und zu ihren Kameraden.
Mich beschleicht ein gemischtes Gefühl. Auch ich wäre, weiß Gott, gerne noch länger geblieben, aus Protest und zur Rettung meiner Bäume und Parkanlage. Auf ein Zeichen wird von den Polizisten die Absperrung am Zaun geöffnet und die Durchfahrt für mich und das Fahrzeuggespann freigegeben. Der Schnee war in Nieselregen übergegangen und die Fahrbahn war zum Teil bereits sulzig überzogen. Während die Polizei im Park ständig die Protagonisten auswechselt und durch ausgeruhte Mannschaften ersetzen kann, sind die Unsrigen mit der Zeit stark strapaziert und manche haben schon teilweise durchnässte Kleidung. Den Anhänger stelle ich vor unserem Büro ab. Zuhause komme ich mit dem beladenen Kombi auf vereister Fahrbahn nicht mehr die Straße hinauf. Auf den letzten Metern zu Fuß fällt von mir etwas ab und bleierne Müdigkeit breitet sich aus. Ich klingel meine Frau Brigitte heraus, bin kurz unter der heißen Dusche und falle ins Bett. Meine Wahrnehmung von dieser Welt ist am heutigen Mittwochnachmittag erschreckend andersartig. Mit großer Gleichgültigkeit und fast wie aus einer anderen Dimension habe ich einen großen Abstand zu allem, so, als wenn mich nichts mehr berührt. Alle Farben sind einem eintönigen Ocker gewichen. Geräusche sind fern. Genau vor 24 Stunden kam die Polizei mit ihren Hundertschaften in den Park. Für mich wird das immer ein denkwürdiger Tag bleiben. 
„Was jetzt“ ? Es wird gefällt und geschreddert. „Und wie gehen wir mit unserer Trauer um?"
                 geschrieben am Tag danach, 16. Februar 2012
 

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