Richter a. D. Reicherter zum S21-Rahmenbefehl: Liebe Bespitzelte!

S21 Polizeieinsatz ©weiberg
Der Rahmenbefehl, oder woher Innenminister Gall weiß, dass eine Unterstützerin der hungerstreikenden Asylbewerber „natürlich“ auch S21-Gegnerin ist

Liebe Bespitzelte!

Immer wieder werde ich gefragt, was eigentlich der Rahmenbefehl sei. Daher nachfolgend eine Erklärung für alle Gutgläubigen, die meinen, NSA sei weit, das Ländle liberal und die Landesregierung aus GRÜNEN und SPD erfreut über kritische Bürgerinnen und Bürger:

Am 20.12.2011, also wenige Wochen nach der am Nichterreichen des Quorums gescheiterten Volksabstimmung zu S 21, hat das Landespolizeipräsidium des Innenministeriums Baden-Württemberg unter der Verantwortung des Innenministers Reinhold Gall (SPD) als „Verschlusssache – nur für den Dienstgebrauch“ mit dem Titel „Einsatzmaßnahmen im Zusammenhang mit dem Bauprojekt Stuttgart 21“ den „Rahmenbefehl Nr. 2“ erlassen. Der Befehl baut auf dem „Rahmenbefehl Nr. 1“ vom 19.7.2010 der früheren Landesregierung von CDU und FDP auf und ist unterteilt in Ausführungen zu Lage (1.), Leitlinien (2.), Auftrag (3.) und Sonstiges (4.) Er wurde an sämtliche Polizeibehörden des Landes, das Landesamt für Verfassungsschutz, mehrere Ministerien und weitere Behörden übersandt. Die geschätzte Anzahl der damit angesprochenen Staatsdiener dürfte bei mindestens 30.000 liegen. Nur einer davon hat es gewagt, den brisanten Inhalt öffentlich zu machen.

Regelungen im Rahmenbefehl
Um die Bedeutung des Rahmenbefehls zu verstehen, muss man einige Punkte des Inhalts kennen. Wer annimmt, ein Befehl des Landespolizeipräsidiums könne nur polizeiliche Aufgaben betreffen, hat sich getäuscht, wie folgende Zitate zeigen:
„Das Stresstestergebnis wurde am 29.07.2011 vorgestellt, hierbei wurde die Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs bestätigt.“
„Die am 27.11.2011 durchgeführte Volksabstimmung zum S21-Kündigungsgesetz ergab für das Bauprojekt S21 eine deutliche Mehrheit (52,9 % in Stuttgart, 58,8% in Baden-Württemberg).“
„Auf längere Sicht erscheint es wahrscheinlich, dass sich der Protest im Wesentlichen auf die Umweltaktivisten, insbesondere die Parkschützer, konzentriert. In diesem Zusammenhang kann eine Zunahme extremistischer Einflüsse nicht ausgeschlossen werden.“

In den Leitlinien wird „eine systematische Medienauswertung als adäquate Reaktionsoption bezüglich entsprechender Veröffentlichungen in den Medien“ angeordnet.

Aus dem Auftrag:
„Das Polizeipräsidium Stuttgart stellt eine adäquate und kontinuierliche Öffentlichkeitsarbeit, insbesondere mit Blick auf die politische und gesellschaftliche Bedeutung des Projekts, zu jeder Zeit sicher.“
„Die Landespolizeidirektionen betreiben offene sowie verdeckte Aufklärung ...“
„Das Landeskriminalamt erstellt unter Einbeziehung der Erkenntnisse des Landesamtes für Verfassungsschutz, des Polizeipräsidiums Stuttgart, der Landespolizeidirektionen sowie der Sicherheitsbehörden des Bundes ein Gesamtgefährdungslagebild zum Bauprojekt „Stuttgart21“, insbesondere hinsichtlich entsprechender Versammlungen und Protestformen, relevanter Veranstaltungen, potentieller Störer sowie gefährdeter Personen und Objekte.“

Und unter „Sonstiges“ wird bestimmt, dass „alle im engeren Sachzusammenhang mit „Stuttgart21“ stehenden Ermittlungsverfahren ... entsprechend zu klassifizieren“ sind.

Auswirkungen des Rahmenbefehls
Was sich hinter diesem Bürokratensprech in Wahrheit verbirgt und einen Vergleich mit der NSA-Affäre nicht scheuen muss, soll an den folgenden Beispielen erläutert werden. Erschreckend dabei ist insgesamt der Eindruck, dass Gegner des Projekts S 21 nicht als mündige Bürger mit demokratischen Rechten gesehen, sondern wie Staatsfeinde behandelt werden. Alle Tatsachen können belegt werden, nichts ist erfunden:

Bei einer Wahlveranstaltung der SPD am 4.9.2013 in Winnenden verteidigte Innenminister Gall, von mir in der Diskussion auf seinen Rahmenbefehl angesprochen, diesen als richtig und notwendig. Man müsse wissen, was die Gegner täten. Er nannte als Beispiel, dass eine Frau, die hungerstreikende Asylbewerber unterstütze, „natürlich“ auch Gegnerin von S 21 sei. Aus dieser spontanen Äußerung kann unschwer
entnommen werden, dass entweder diese Frau wegen ihrer Aktivitäten gezielt überwacht und erfasst wird, oder aber deshalb aufgefallen ist, weil sowohl die Unterstützer der Asylbewerber als auch der Widerstand gegen S 21 insgesamt als Gruppen beobachtet werden. Jedenfalls ist bemerkenswert, dass der Innenminister trotz seiner vielfältigen Aufgaben sich um eine einzelne (offenbar in seinen Augen missliebige) Bürgerin kümmert.

Zu dieser Einstellung passt, dass vor der Veranstaltung Polizeibeamte die Personalien zweier Projektgegner feststellten, die am Eingang mit einem Transparent standen, auf dem gefordert wurde, S 21 nicht aus dem Wahlkampf herauszuhalten.

Was von der Meinungsfreiheit gehalten wird, zeigt auch das immer wieder von der Polizei praktizierte Verhalten, nach Montagsdemonstrationen Teilnehmern mit mitgeführten Transparenten oder anderen Symbolen des Widerstands den Zugang zum Stuttgarter Hauptbahnhof zu verweigern, obwohl sie zum Zug wollen. Im jüngsten Fall traf es eine Dame, die nur zwei Buttons angesteckt hatte.

Sicherlich der gravierendste Ausdruck des Misstrauens ist das im Rahmenbefehl angeordnete Gefährdungslagebild, das alle drei Wochen vom Landeskriminalamt unter Benutzung von Erkenntnissen der Verfassungsdienste erstellt wird. Präsident des Landeskriminalamts ist Dieter Schneider, der als Inspekteur der Polizei den Schwarzen Donnerstag mit zu verantworten hatte.

Ist es tatsächlich erforderlich, darin aufzulisten,
dass Thomas Adler Anmelder der Montagsdemonstration,
Guntrun Müller-Enßlin Anmelderin des Parkgebetes,
Joachim Ganser von der IG Bürger für Stuttgart 21 e.V. Anmelder einer Kundgebung,
Gangolf Stocker Anmelder einer „Volksversammlung“ mit Justizminister Stickelberger war,
dass sich 15 bis 20 Unternehmer gegen S 21 montags im Café Schlossblick,
10 bis 20 Ärzte und Psychologen gegen S 21 montags in der Christophstraße 8,
10 bis 20 GewerkschafterInnen gegen S 21 montags zum Stammtisch in der Kellerschenke,
ca. 20 Senioren gegen S 21 dienstags im Parkschützerbüro jeweils nicht öffentlich trafen,
wobei sämtliche Treffen in Gefährdungsstufen eingeteilt wurden, so zum Beispiel das Parkgebet mit 50 bis 250 Personen,
der Fahrradaufzug zur Montagsdemonstration mit 100 bis 150 Personen und
die Montagsdemo mit 2.000 bis 8.000 Personen allesamt in Gefährdungsstufe fünf aufgeführt sind, damit zwei Klassen gefährlicher als eine K21-Hocketse (Stufe sieben) und fast so gefährlich wie eine Blockade am Grundwassermanagement (Stufe vier).

Ob sich Gerhard Mutter, Geschäftsführer der Werbeagentur „Die Crew“, bewusst ist, dass sich für ihn „eine mögliche Gefährdung aus seiner Funktion und seiner Zustimmung zum Projekt S 21“ ergibt? Das jedenfalls wird im Gefährdungslagebild angenommen.

Ist allgemein bekannt, dass als Folge der angeordneten Aufklärung Polizeibeamte in Zivil, getarnt mit Buttons gegen S21, an den Montagsdemonstrationen teilnehmen?

Ist denjenigen, die sich im Internet und in anderen Medien zur Thematik von Stuttgart 21 äußern, klar, dass sämtliche öffentlich zugängliche Informationsquellen systematisch erfasst und ausgewertet werden?

Sind die Fahndungsmethoden zur Ermittlung von Verdächtigen wegen der Erstürmung des Grundwassermanagements vom 20.6.2011 verhältnismäßig? Demnach wurden die Namen der aus solchen Informationsquellen feststellbaren Projektgegner erfasst, deren Fotos z.B. bei Facebook gesucht und diese mit den Polizeiaufnahmen von der Erstürmung verglichen, was nicht nur zum Finden von Verdächtigen, sondern auch zum unberechtigten Verdacht gegen Unschuldige führte.

In einem Ermittlungsbericht des Polizeipräsidiums zu einem Pressebericht der Kontext Wochenzeitung über eine mögliche Anwesenheit des früheren Ministerpräsidenten Mappus beim Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten wurde aufgelistet, welche Personen neben dem Journalisten der Kontext bei einer Veranstaltung der GRÜNEN zur Aufarbeitung des Schwarzen Donnerstags im Stuttgarter Ratshaus auf dem Podium gesessen hatten – offenbar zur Unterstellung, alle seien mögliche Geheimnisverräter.

Stand der Diskussion zur Aufhebung des Rahmenbefehls:
Das Thema ist als Folge meiner Veröffentlichung seit Ende Februar 2012 bekannt und als Folge der Medienberichte über die deswegen bei mir durchgeführten Hausdurchsuchung seit Juli 2012 auch in der öffentlichen Diskussion. Allerdings beteiligt sich die Landesregierung an dieser Diskussion nicht, sondern teilte mir mit, da das Dokument nicht für die Öffentlichkeit bestimmt sei, könne es auch nicht kommentiert werden. Im Übrigen nehme das Staatsministerium auch keinen Einfluss auf die Arbeit der Polizei.

Die GRÜNEN erklären seit Sommer 2012, sich für eine Aufhebung des Rahmenbefehls einzusetzen. Jüngst haben sie energisch der von Innenminister Gall bei der Wahlkampfveranstaltung in Winnenden aufgestellten Behauptung widersprochen, wonach er zusammen mit dem verstorbenen Polizeipräsidenten Züfle die GRÜNEN von der Richtigkeit des Rahmenbefehls überzeugt habe.

Am dritten Jahrestag des Schwarzen Donnerstags wird die Forderung nach einer Aufhebung des Rahmenbefehls ein zentrales Thema sein getreu dem Motto „Verantwortliche bestrafen, statt Bürger überwachen.“

Weitere Informationen: Richter a. D. Dieter Reicherter

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7 Antworten zu Richter a. D. Reicherter zum S21-Rahmenbefehl: Liebe Bespitzelte!

  1. Michael Harr sagt:

    Die Macht der Geheimdienste in diesem Land ist eine undurchschaubare und unheimliche Größe, die die Verfassung elementar gefährdet. Dass die Landesregierung dieses Treiben duldet, ist eine der größten Enttäuschungen über die grün/rote Regierung.

    • U.Halb sagt:

      Die Landesregierung duldet nicht nur. Sie setzt sie ja gezielt für ihre politischen Interessen ein. Es ist ja nicht ohne Grund die Bespitzelung duch die Polizei und den Verfassungsschutz angeordnet.

  2. Peter Gruber sagt:

    Nicht die Bewegungen, die meist aus Empörung über etwas als Unrecht empfundenes entstehen, gefährden Staat und Demokratie. Es sind vielmehr diejenigen Institutionen, die beides zu schützen vorgeben, die das eigentliche Gefahrenpotenzial darstellen.

  3. Michael Harr sagt:

    1979 stand in einer Versammlung der Tübinger Evangelischen Studentengemeinde einer auf und erklärte: „Ich bin vor einigen Monaten hier zur Gemeinde gekommen und habe in dieser Zeit zum Glauben an Gott gefunden. Daher möchte ich bekennen, dass ich ein Spitzel des Verfassungsschutzes bin, der hierher gekommen ist, um die Studentengemeinde zu auszuforschen.“
    Da kann man den „Verfassungsschützern“ bzw. -„-bedrohern“ nur sagen: Tut Buße!

  4. Rosana sagt:

    ….und was mache ich, wenn ich so einen Spitzel neben mir vermute? Ich würde ihn dann gerne ansprechen, etwas herausfordern – nichts Böses. Darf ich ihm sagen, was ich zu seiner Person vermute – oder darf man das nicht, ist das etwa gefährlich?

  5. K. Neumann sagt:

    Gall´scher Kindergarten. Finanziert wie dieses Skandalprojekt aus Steuergeldern. Das ist der Skandal, der weit über diesem Skandal thront.

    Nur wer überwacht Herrn Gall, der weiterhin als einziger Innenminister der Länder die Parteien-Sponsoring Liste als seine Privatlektüre betrachtet und diese mutmasslich tagtäglich unter der Bettdecke mit der Taschenlampe auf die Pflichteingänge für die S21-Treue der Schmiedel-Drtexler-SPD überprüft?

    Der Mann in seinem kindischen Gehabe und den Kosten daraus einschliesslich der Pensionsberechtigung ist der Skandal.

  6. Anna S. sagt:

    Rosana: Du solltest diesen Spitzel schon so laut ansprechen, dass dies auch für die anderen vernehmlich ist, solche Spitzel scheuen nämlich die Öffentlichkeit und werden sich dann kaum trauen, Dir irgendwie zu nahe zu treten.

    Wir müssen da zusammenhalten und uns von solchen Spitzeln öffentlich distanzieren.

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